Einleitung des Autors
Diese Zeilen schreibe ich zwei Tage nach einem atemberaubenden Besuch des Grand Canyons in Arizona. Für viele Völker der amerikanischen Ureinwohner ist der Grand Canyon ein heiliger Ort, Schauplatz zahlreicher Ursprungsmythen für Gruppen von den Havasupai bis zu den Zuni und heimliche Ruhestätte der Toten für die Hopi. Wenn man mich zwingen würde, mich für eine Religion zu entscheiden, so könnte ich mich mit einer solchen anfreunden. Der Grand Canyon verleiht der Religion Format. Er deklassiert die Kleinkariertheit der abrahamitischen Bekenntnisse, jener drei zänkischen Kulte, die aufgrund historischer Zufälle noch heute die Welt quälen.
In dunkler Nacht wanderte ich am Südrand des Canyons entlang, legte mich auf eine niedrige Mauer und blickte hinauf zur Milchstraße. Ich blickte in die Vergangenheit, wurde Zeuge einer Szene aus der Zeit vor hunderttausend Jahren – damals machte sich das Licht auf eine lange Reise, um schließlich in meine Pupillen einzutauchen und auf meinen Netzhäuten Funken zu schlagen. Im Morgengrauen des folgenden Tages kehrte ich noch einmal zu der Stelle zurück, schauderte schwindelnd, als mir klar wurde, wo ich in der Dunkelheit gelegen hatte, und sah hinunter zum Boden des Canyons. Wieder blickte ich in die Vergangenheit, zwei Milliarden Jahre in diesem Fall, zurück in eine Zeit, als nur Mikroorganismen blind unter der Milchstraße wimmelten. Wenn die Seelen der Hopi in diesem majestätischen Schweigen ruhten, leisteten ihnen die im Stein gefangenen Geister der Trilobiten und Schlangensterne Gesellschaft, ebenso die der Armfüßer und Belemniten, der Ammoniten und sogar der Dinosaurier.
Gab es im Verlauf der Evolution, die über fast zweitausend Meter in Schichten den Canyon hinaufzieht, irgendwo eine Stelle, von der man sagen könnte, dass dort eine »Seele« ins Dasein trat wie ein Licht, das plötzlich eingeschaltet wird? Oder schlich sich »die Seele« klammheimlich in die Welt: eine trübe Tausendstelseele in einem pulsierenden Röhrenwurm, eine Zehntelseele in einem Quastenflosser, eine halbe Seele in einem Koboldmaki, dann eine typisch menschliche Seele und schließlich eine Seele vom Format eines Beethoven oder Mandela? Oder ist es einfach töricht, überhaupt von Seelen zu sprechen?
Es ist nicht töricht, wenn man damit so etwas wie das überwältigende Gefühl einer subjektiven, persönlichen Identität meint. Dass wir sie besitzen, weiß jeder von uns, auch wenn viele moderne Denker beteuern, sie sei eine Illusion – eine Täuschung, die, so könnten Darwinisten spekulieren, ihre Entstehung einem kohärenten, nur einem einzigen Zweck, dem Überleben, dienenden System verdankt.
Optische Täuschungen wie der Necker-Würfel
oder Penrose’ unmögliches Dreieck
oder die Tiefenumkehr (englisch Hollow-Mask illusion) machen deutlich, dass die »Realität«, die wir sehen, aus eingeschränkten Modellen besteht, die im Gehirn konstruiert werden. Das zweidimensionale Linienmuster des Necker-Würfels auf dem Papier lässt sich mit zwei möglichen Konstruktionen eines dreidimensionalen Würfels vereinbaren, und diese Modelle macht sich das Gehirn abwechselnd zu eigen: Der Wechsel ist spürbar, und seine Häufigkeit kann man sogar messen. Die Linien des Penrose-Dreiecks auf dem Papier sind mit keinem realen Gegenstand zu vereinbaren. Solche Illusionen fordern die Modellbausoftware des Gehirns heraus und offenbaren so, dass sie existiert.
Auf die gleiche Weise konstruiert das Gehirn in seiner Software auch die nützliche Illusion einer persönlichen Identität, eines »Ichs«, das scheinbar unmittelbar hinter den Augen angesiedelt ist, eines »Handelnden«, der frei seine Entscheidungen trifft, einer einheitlichen Persönlichkeit, die nach Zielen strebt und Gefühle empfindet. Die Konstruktion der Persönlichkeit findet nach und nach in der frühen Kindheit statt, vielleicht indem Bruchstücke, die zuvor getrennt waren, zusammengefügt werden. Manche psychologischen Störungen werden als »gespaltene Persönlichkeit« interpretiert, als Fehler beim Vereinen von Fragmenten. Die Spekulation, dass sich beim allmählichen Heranwachsen des Bewusstseins im Kleinkind etwas Ähnliches abspielt wie im weit größeren Zeitmaßstab der Evolution, ist nicht unvernünftig. Könnte beispielsweise ein Fisch ansatzweise so viel bewusstes Ich-Gefühl besitzen wie ein menschlicher Säugling?
Über die Evolution der Seele können wir Spekulationen anstellen, allerdings nur dann, wenn wir mit dem Wort so etwas wie das innere, konstruierte Modell eines »Selbst« meinen. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir unter »Seele« ein Gespenst verstehen, das den Tod des Körpers überlebt. Die persönliche Identität erwächst aus der materiellen Aktivität des Gehirns; wenn das Gehirn zerfällt, muss sie sich auflösen und in das Nichts der Zeit vor der Geburt zurückkehren. »Seele« und ähnliche Wörter werden aber auch in poetischen Bedeutungen gebraucht, und die mache ich mir schamlos zu eigen. In einem Essay, der in meiner früheren Anthologie A Devil’s Chaplain erschienen ist, pries ich mit solchen Worten den großen Lehrer F. W. Sanderson, der meine spätere Schule noch vor meiner Geburt geleitet hatte. Der stets gegenwärtigen Gefahr zum Trotz, missverstanden zu werden, schrieb ich über den »Geist« (spirit) und den »Geist« (ghost) des verstorbenen Sanderson:
Sein Geist lebte in Oundle weiter. Kenneth Fisher, sein unmittelbarer Nachfolger, leitete gerade eine Mitarbeiterkonferenz, da klopfte es zaghaft an der Tür, und ein kleiner Junge kam herein: »Bitte, Sir, unten am Fluss sind Trauerseeschwalben.« – »Das hier kann warten«, sagte Fisher entschieden zu den Versammelten. Er erhob sich, griff nach seinem Fernglas neben der Tür und radelte in Begleitung des kleinen Ornithologen davon. Und man kann sich nicht der Vorstellung erwehren, dass ihnen Sandersons Geist mit seinem gutmütigen, runzeligen Gesicht strahlend nachblickte.
Im weiteren Verlauf schrieb ich von Sandersons »Schatten«. Zuvor hatte ich eine andere Szene aus meiner eigenen Schulzeit geschildert: Ioan Thomas, ein höchst anregender Lehrer für Naturwissenschaften (der an die Schule gekommen war, weil er Sanderson bewunderte, obwohl er jung war und den alten Direktor nicht mehr kennengelernt haben konnte), brachte uns einmal eindringlich bei, wie wichtig es ist, Unwissen einzugestehen. Er stellte uns einem nach dem anderen eine Frage, auf die wir alle mit wüsten Vermutungen antworteten. Schließlich war unsere Neugier (»Sir! Sir!«) auf die wahre Antwort geweckt. Mr Thomas wartete dramatisch ab, bis es ruhig war, und sagte mit effektvollen Pausen nach jedem Wort: »Ich weiß es nicht! Ich … weiß … es … nicht!«
Wieder kicherte in der Ecke Sandersons väterlicher Schatten, und keiner von uns wird diese Schulstunde je vergessen. Entscheidend sind nicht die Tatsachen, sondern die Art, wie man sie entdeckt und über sie nachdenkt: Das ist Bildung im eigentlichen Sinn und etwas ganz anderes als die heutige bewertungsbesessene Prüfungskultur.
Bestand die Gefahr, dass Leser meines damaligen Essays die Formulierung, Sandersons »Geist« habe »weitergelebt«, missverstanden? Oder dass sein »Geist« strahle? Dass sein »Schatten« in der Ecke kicherte? Ich glaube nicht, obwohl es in der Welt weiß Gott (da haben wir’s schon wieder) genügend Leute gibt, die geradezu nach Missverstehen lechzen.
Nach meiner Überzeugung ist es höchste Zeit, dass der Literatur-Nobelpreis an einen Naturwissenschaftler verliehen wird. Der nächstliegende Präzedenzfall, das muss ich leider sagen, ist ein sehr schlechtes Beispiel: Henri Bergson, mehr Mystiker als wahrer Wissenschaftler, dessen vitalistischer élan vital von Julian Huxley mit einer satirischen Eisenbahn, die vom élan locomotif angetrieben wird, verspottet wurde. Aber im Ernst: Warum sollte nicht ein wahrer Wissenschaftler den Literaturpreis bekommen? Carl Sagan ist leider nicht mehr unter uns, um ihn in Empfang zu nehmen, aber wer würde abstreiten, dass seine Schriften von nobelpreiswürdiger literarischer Qualität sind und auf einer Stufe mit denen von großen Romanautoren, Historikern und Dichtern stehen? Was ist mit Loren Eiseley? Lewis Thomas? Peter Medawar? Stephen Jay Gould? Jacob Bronowski? D’Arcy Thompson?
Aber abgesehen von den Verdiensten einzelner Autoren, die wir benennen können: Ist nicht die Wissenschaft selbst ein würdiges Thema für die besten Autoren, und ist sie nicht mehr als in der Lage, Anregungen für große Literatur zu liefern? Und welche Eigenschaften es auch sein mögen, derentwegen die Wissenschaft so ist – die gleichen Eigenschaften, derentwegen auch große Dichtung und nobelpreisgekrönte Romane so sind: Haben wir hier nicht einen guten Ansatz, um die Bedeutung von »Seele« zu begreifen?
Ein anderes Wort, mit dem man literarische Wissenschaft im Stile Sagans beschreiben könnte, lautet »spirituell«. Allgemein herrscht die Vorstellung, Physiker würden sich häufiger selbst als religiös bezeichnen als Biologen. Dafür gibt es sogar statistische Belege von den Mitgliedern der Londoner Royal Society und der US-amerikanischen National Academy of Sciences. Die Erfahrung legt aber eine Vermutung nahe: Wenn man bei solchen Elitewissenschaftlern genauer nachfragt, so stellt man fest, dass selbst die zehn Prozent, die sich zu irgendeiner Form von Religiosität bekennen, in den meisten Fällen nicht an Übernatürliches glauben: Es gibt für sie keinen Gott, keinen Schöpfer, kein Streben nach einem Jenseits. Was sie besitzen – und das sagen sie bei...