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2. Vom Richten: Ein geistliches Gefängnis
Die beschriebene Frömmigkeit beschneidet die Freiheit aber nicht nur durch ihre Enge. Im Rückblick ist mir ein anderes »geistliches Gefängnis« bewusst geworden: das Richten, das Aburteilen der anderen.
Nicht umsonst formuliert Jesus in der Bergpredigt sehr deutlich: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden« (Matthäus 7,1-2).
Wer andere Menschen richtet, der beschneidet sich selbst, so stellt Jesus fest. Das Urteil fällt auf einen selbst zurück. Inwiefern? Richten macht unfrei, indem es den Blick für die anderen Menschen und ihre Lebenssituationen verstellt.
Kurz nach meiner Wahl in den Deutschen Bundestag traf ich abends im Fahrstuhl eine Kollegin. Ich erkannte sie sofort, es war eine ehemalige Ministerin. Sie schwankte, hatte Mühe, sich gerade zu halten, offensichtlich war sie stark angetrunken. Ich war schockiert. Und sofort meldeten sich ziemlich abwertende Gedanken.
Aber wer bin ich denn? Was weiß ich über ihre Lebenssituation? Nach mehr als sieben Jahren im Bundestag kenne ich die Belastung in diesem Mandat. Heute habe ich Verständnis für Reaktionen wie unmäßigen Alkoholkonsum, zu denen ein Mensch unter dem Druck der Verantwortung greifen kann. Ich heiße das nicht gut, aber steht es mir zu, über den Menschen ein Urteil zu fällen? Oder sollte ich nicht lieber Gott dankbar sein, dass er mich (bis hierher) davor bewahrt hat?
Uwe Heimowski schreibt dazu in seinem Artikel »Kultur der Gnade« im Männermagazin MOVO:
Gerade Politiker stehen unter einem enormen Leistungs- und Erwartungsdruck. Da ist die hohe Arbeitsbelastung, mit regelmäßigen 16-Stunden-Tagen. Da sind die vielen Entscheidungen mit ungewissen Auswirkungen (um nur ein Stichwort zu nennen: Militäreinsätze), die sehr häufig auch noch unter enormem Zeitdruck zu treffen sind. Da ist die ständige Beobachtung durch die kritische Öffentlichkeit. Dazu kommen permanente Angriffe auf die Privatsphäre, die durch Twitter und Facebook eine nie dagewesene Schärfe gewonnen haben. Der Begriff »Shitstorm« ist das Synonym für dieses Phänomen. Was sich da Tag für Tag über Personen des öffentlichen Lebens ergießt, ist schlimmer als ein Kübel Fäkalien. Wir müssen uns fragen: Ist dieser Druck zumutbar? Kann das auf Dauer gut gehen? Und damit verbunden die Frage an die Christen: Können wir hier einen Unterschied in der Gesellschaft machen? Sollten wir nicht in der Form und in der Sache dazu beitragen können, eine »Kultur der Gnade« zu etablieren?1
Ein alter indianischer Sinnspruch lautet: »Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin.« Wie oft versetzen wir uns wirklich in die Lage des anderen, wie oft gehen wir tatsächlich in seinen Schuhen, in seinen Mokassins? Und wie oft behaupten wir das nur?
Wer über andere richtet, der kann sich nicht mehr in sie hineinversetzen. Richten verschließt das Herz. Gnade und Liebe dagegen öffnen das Herz.
Nachdem ich mein schlechtes Gewissen überwunden hatte, wurde ich ein begeisterter Kinogänger. Ich liebe die Atmosphäre, die großen Leinwände, die lebendigen Bilder und natürlich die guten Geschichten. Wie oft hatte ich schon Aha-Erlebnisse im Kino!
1996 sah ich den Film »Breaking the Waves« von Lars von Trier. Emily Watson spielt darin Bess, eine junge Frau, die geistig etwas zurückgeblieben ist. Es ist eine tragische Liebesgeschichte, die nicht zuletzt das Thema »Doppelmoral« aufgreift. Bess ist gläubig und arbeitet aktiv in der Kirche mit. Doch in den Augen der Christen wirft ihr Lebensstil Fragen auf.
Eine Szene ging mir besonders unter die Haut. Sinngemäß sagt dort einer der Gemeindevorsteher: »Um der Liebe zum Wort Gottes willen müssen wir sie aus der Kirche herausnehmen.« Der größte Schatz der Gemeinde wird vor die Tür gestellt – und einsam muss sie ihr weiteres Schicksal erdulden.
Hat Jesus die Frau verurteilt, die von der aufgebrachten Menge gesteinigt werden sollte, weil sie beim Ehebruch ertappt worden war (Johannes 8,3-11)? Wenn Jesus uns auffordert: »Richtet nicht!«, dann nicht als Verbot, sondern als Verheißung. Wer andere nicht beurteilen und bewerten muss, den setzt das frei. Ich bin nicht gebunden, ein Urteil zu sprechen, das ist Gottes Sache. Also bin ich frei, den anderen zu verstehen und ihn zu achten. Auch den anderen Menschen setzt es frei. Er muss sich vor mir nicht fürchten, weil ich nicht mehr nur sein (mögliches) Fehlverhalten sehe, sondern seinen Wesenskern und vielleicht auch die Geschichte, die ihn in diese Situation gebracht hat.
Im Biotop meiner Kindheit hatte ich keine Möglichkeit, Katholiken, Adventisten, Mormonen, Muslime zu treffen – oder Schwule, wir hätten nicht einmal das Wort in den Mund genommen. Und obwohl (oder weil?) ich sie nicht kannte, hatte ich eine klare Meinung von ihnen: Sie waren die anderen, sie waren draußen, wir waren drinnen, sie waren Sünder, wir waren gerettet.
Ich selbst kannte zwar das Bibelzitat »Du sollst nicht richten« und ich habe mich formal meistens daran gehalten, indem ich nicht schlecht oder voreilig über andere gesprochen habe – ich hatte ja Angst, dann selbst gerichtet zu werden. Aber das war Fassade, innerlich habe ich gerichtet wie alle anderen auch, ich hatte das gleiche Schwarz-Weiß-Schema, nur etwas überheblicher – und ich war stolz auf mich.
Nach und nach begegneten mir dann Menschen, die nicht in unsere fromme Welt passten. Beziehungen entstanden und ich machte Erfahrungen, auf die meine Urteile, meine Klischees einfach nicht passten. Meine geistliche Überheblichkeit zerrann mir zwischen den Fingern. Natürlich muss ich nicht alles richtig finden, was ein anderer tut. Aber gibt mir dies das Recht, über ihn zu richten?
Begegnungen mit Menschen, die anders denken, anders glauben und anders leben als wir selbst, sind die effektivsten Werkzeuge, um frei zu werden. Sie bereichern das eigene Leben, sie führen aus der Enge in die Weite.
Begegnungen mit Menschen, die anders denken, anders glauben und anders leben als wir selbst, sind die effektivsten Werkzeuge, um frei zu werden.
In meinem konservativ christlichen Milieu gab es einen Mechanismus der Selbstabschottung, um solche Begegnungen zu vermeiden. Wir hatten eine Bezeichnung für die Welt »da draußen«: Wir nannten sie »den Zeitgeist«. Und dieser Zeitgeist war böse, er verführte die Menschen, ihn galt es unter allen Umständen zu meiden.
Diese Engführung, diese Bewertung erzeugt das »Außen – Innen«. Und sie führt zu einer Spaltung im Menschen selbst. Sie spaltet zwischen Herz und Hirn. Das Herz will Nähe suchen, kennenlernen, verstehen. Das richtende Hirn hat sein Urteil aber bereits gefällt und legt sein Veto ein.
Heute weiß ich: Indem ich Gott für groß und gewaltig und heilig gehalten habe – alles Bezeichnungen, die korrekt sind –, indem ich versucht habe, ihn in seiner Größe und Heiligkeit zu schützen und mich selbst rein zu halten, habe ich mir etwas vorgemacht. Denn was ist damals wirklich geschehen? Ich habe ihn klein gemacht. Wie klein muss Gott sein, wenn er nur »hier drinnen«, in meiner kleinen geistlichen Welt zu finden ist?
Meine persönliche Reise in die Freiheit hat stark mit meinem Gottesbild zu tun. Je mehr ich die wahre Größe Gottes verstehe, je mehr ich begreife, dass Gott der Schöpfer und liebende Vater aller Menschen ist, desto freier werde ich. Heute frage ich weniger nach meinem Bild von Gott, sondern mehr danach, welches Bild Gott von den Menschen hat. Indem ich sein Herz verstehe, macht er mich frei. Das sprengt Grenzen. Nicht mehr mein schlechtes Gewissen treibt mich an, sondern die Liebe Gottes.
Heute verstehe ich mein Christsein nicht mehr über die Abgrenzung, sondern über die Beziehung zu Gott. Und ich bin neugierig, wie andere Christen ihren Glauben leben. Ich möchte hören, warum sie so glauben, wie sie glauben. Ich möchte verstehen, warum sie ihre Bibel so lesen, wie sie sie lesen.
Wie viel habe ich im Laufe der Jahre von meinen evangelischen und katholischen Brüdern und Schwestern gelernt, wie viel von Brüdergemeinden, Adventisten, Pfingstlern. Und wie viele Menschen, die sich zu keinem Glauben bekennen, haben mich durch ihren Einsatz für Menschenrechte, für Gerechtigkeit und für Freiheit inspiriert. Freiheit bedeutet, sich nicht nur im Dualismus aufzuhalten, nicht alles schwarz-weiß zu sehen.
Diese Freiheit ist eine innere Einstellung, sie lebt von dem Bild, dass ich von Gott habe. Sie hat aber noch eine weitere Dimension: das gesprochene Wort. Wer sein Urteil fällt, ist nicht frei. Wer sein Urteil ausspricht, macht auch andere unfrei. Er legt den anderen fest.
Darum warnt die Bibel vor der Gefahr der Worte:
Mit einem winzigen Ruder lenkt der Steuermann ein großes Schiff selbst bei heftigem Wind, wohin er will. So kann auch die Zunge, so klein sie auch ist, enormen Schaden anrichten. Ein winziger Funke steckt einen großen Wald in Brand! Die Zunge ist wie eine Flamme und kann eine Welt voller Ungerechtigkeit sein. Sie ist der Teil des Körpers, der alles beschmutzen und das ganze Leben zerstören kann, wenn sie von der Hölle selbst in Brand gesteckt wird. Der Mensch kann die unterschiedlichsten Tiere und Vögel, Reptilien und Fische zähmen, aber die Zunge kann niemand im Zaum halten. Sie ist ein unbeherrschbares Übel, voll von tödlichem Gift. Mit ihr loben wir Gott, unseren Herrn und Vater; dann wieder verfluchen wir mit ihr...