Historischer Hintergrund
Rittmeister Witold Pilecki: Der Bericht, der Auftrag, der Mensch
Der Bericht
Witold Pileckis Bericht von 1945 ist ein wirkungsvolles Dokument, und zwar nicht wegen seines Prosarhythmus oder der Bildsprache. Er war nicht als literarisches Werk gedacht, sondern wurde von Pilecki während der zweiten Jahreshälfte 1945 in Italien als Bericht an seine militärischen Vorgesetzten verfasst, wie Pileckis Begleitschreiben an Generalmajor Pełczyński verdeutlicht. Kennzeichnend für Pileckis Stil sind kurze Sätze und Absätze, und er gibt offen zu, dass er ihn noch überarbeitet hätte, wenn er mehr Zeit gehabt hätte. Wirkungsvoll ist dieses Dokument wegen seiner Unmittelbarkeit und wegen des Lichts, das es auf die barbarisch pervertierte Welt des Lagers Auschwitz wirft, wie es nur aus unmittelbarem eigenem Erleben möglich war.
Pilecki war kein Soziologe, der Auschwitz theoretisch einordnen und verarbeiten wollte, und er interpretierte seine Erlebnisse dort auch nicht übermäßig intellektuell. Er war ein ehrlicher, wohl eher argloser Mensch, der keine politische oder ideologische Fahne schwang, sondern einfach seinem Land und seinem katholischen Glauben treu war. Er folgte dem Motto »Bóg, honor, ojczyna« (»Gott, Ehre, Vaterland«) und schrieb nieder, was er persönlich gesehen und gefühlt hatte, wobei er gelegentlich auch philosophische und selbstreflexive Gedanken einflocht.
Er war außerdem auf jeden Fall ein außergewöhnlicher Mensch. Mit großer körperlicher Widerstandskraft und unbeugsamem Mut ausgestattet, zeigte er unter entsetzlichen Umständen nicht nur eine bemerkenswerte Geistesgegenwart und Vernunft, sondern enthielt sich auch jeglichen Selbstmitleids. Während die meisten Insassen von Auschwitz, die nicht zur sofortigen Ermordung selektiert wurden, gerade eben überleben konnten, besaß er noch genug Reserven an Stärke und Entschlossenheit, um anderen zu helfen und im Lager eine Untergrund-Widerstandsgruppe aufzubauen. Dazu schaffte er es auch noch, stets überlegt vorzugehen und auch daran zu denken, was er tun musste, um selbst zu überleben, was oft bedeutete, seinen Instinkten zuwiderzuhandeln und zum Beispiel auch etwas Essen für den nächsten Tag aufzuheben – unter diesen Umständen war es ein Akt geradezu übermenschlicher Überwindung. Er hatte allerdings auch immer wieder Glück und fand sogar Zeit für eine Art Galgenhumor, etwa wenn er bemerkt, dass die inneren und äußeren Ziffernpaare seiner Häftlingsnummer zufällig beide 13 ergaben.
Er behauptet, ziemlich schnell zu einer fast spirituellen Gelassenheit gefunden zu haben. Er war »glücklich« angesichts der Solidarität, die angesichts der grausamen Haftbedingungen im Lager unter den Polen entstand: »Dann spürte ich einen einzigen Gedanken, der diese Schulter an Schulter aufgestellten Polen durchlief. Ich spürte, dass wir alle endlich von derselben Wut vereinigt waren, in einem Durst nach Rache. Ich spürte, dass ich hier die perfekte Umgebung für meine Arbeit finden würde, und empfand tatsächlich so etwas wie Freude …« Es gibt sogar eine Andeutung des mystischen, auf Solschenizyn zurückgehenden Glaubens, dass nur Überlebende eines Arbeitslagers den wahren Sinn des Lebens verstehen. Er schreibt: » Wir wurden mit einer scharfen Klinge bearbeitet. Sie schnitt schmerzhaft in unsere Körper, aber in unserer Seele fand sie Felder zum Pflügen …«, und weiter: »Ein Mann wurde als das gesehen und galt als das, was er wirklich war …«
Der Bericht ist auch deshalb so eindrucksvoll, weil er einen Aspekt von Auschwitz herausstellt, der außerhalb Polens den Überlebenden wie auch den Historikern, die sich mit der Geschichte der Konzentrationslager befassen, wenig bekannt ist. Die meisten Menschen kennen Auschwitz im deutsch besetzten Polen als Teil des Holocaust und wissen um das Grauen der Gaskammern und das unaussprechliche Verbrechen, Menschen zu vergasen; aber nur wenige wissen, dass in der Anfangsphase des Lagers die meisten Insassen christliche Polen waren, von denen viele ermordet oder durch Überarbeitung in den Erschöpfungstod getrieben wurden. Auschwitz wurde 1940 ursprünglich als Lager für polnische politische Häftlinge angelegt und erst später in ein Todeslager für die Juden Europas umgewandelt. Wie viele Westeuropäer außerhalb akademischer Kreise wissen außerdem schon, dass auch sowjetische Kriegsgefangene dorthin geschickt wurden, um ermordet zu werden?2 Der Bericht beschreibt, mitunter in beklemmenden Einzelheiten, die ständige und mitunter fast nebenbei ausgeübte Brutalität ohne jegliche moralischen Grenzen. Er zeigt, wie tief menschliche Wesen sinken können, wenn es keine moralischen Regeln mehr gibt.
Gleichzeitig ist der Bericht aber auch ein Leuchtfeuer der Hoffnung, denn er demonstriert, dass sich selbst inmitten solcher Grausamkeit und Verkommenheit Menschen fanden, die an den grundlegenden Tugenden der Ehrlichkeit, des Mitgefühls und des Muts festhielten. Pilecki beschreibt Männer, die die Kraft aufbringen, sich über die Umstände zu erheben, auch ihr eigenes Leben retten wollen, aber nicht auf Kosten anderer Menschen. So schreibt er: »Wir entwickelten … einen großen Respekt vor der seltsamen menschlichen Natur, deren Stärke darin bestand, dass sie eine Seele hatte und in sich offenbar etwas Unsterbliches enthielt.« Pilecki war zwar ein gläubiger Christ, aber sein Bericht ist kein Zeugnis spezifisch christlicher Wertvorstellungen, sondern eine Mahnung an die universellen menschlichen Werte, die allen Religionen gemeinsam sind.
Aber er drückt auch seine Wut über eine Welt aus, die so tief sinken konnte: »Wir sind vom Weg abgekommen, meine Freunde, und zwar weit. Noch schlimmer ist, dass es keine Worte gibt, um das zu beschreiben … Ich würde gerne sagen, dass wir zu Tieren geworden sind … Aber nein, um wie vieles schlimmer als Tiere sind wir!« Er fragt sich, welche Welt real ist: die pervertierte des Lagers oder die gleichgültige und oberflächliche der Außenwelt?
Trotz seines christlichen Glaubens lässt Pilecki keinen Zweifel daran, dass man Feuer mit Feuer bekämpfen muss. Besonders grausame Kapos (Funktionshäftlinge zur Beaufsichtigung ihrer Mitinsassen), SS-Leute und Denunzianten wurden von den Insassen gnadenlos getötet, oft, während sie im Lazarett lagen. Obwohl Pilecki das nicht erwähnt, hatte seine Untergrundorganisation, die ZOW (Związek Organizacji Wojskowych – Vereinigung militärischer Organisationen)3 sogar eine Art Geheimgericht installiert.4 Es war ein brutaler Überlebenskampf, in dem die Zaghaften, Selbstsüchtigen und Weichen keine Chance hatten.
Die herausragendste Episode ist wahrscheinlich die von der Erschießung von ungefähr 200 polnischen jungen Männer, die bewusst und ohne Wachsoldaten in den Tod marschierten, weil sie wussten, dass jeder Versuch ihrerseits, sich zu wehren, brutale Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Familien zur Folge gehabt hätte. Pilecki fügt allerdings hinzu, dass seine Organisation sich offen auf ihre Seite gestellt hätte, wenn diese Männer sich zum Aufstand entschlossen hätten.
Pileckis Leistung war enorm. Er gründete nicht nur eine Organisation, die den Insassen dabei half, die Lagerhaft zu überleben, sondern bewerkstelligte auch eine Annäherung zwischen den polnischen politischen Parteien, die im Lager vertreten waren – was angesichts der Spannungen und Animositäten im Vorkriegspolen nicht einfach war. Grimmig notiert er: »Man musste den Polen also täglich einen Berg polnischer Leichen zeigen, damit sie sich miteinander aussöhnten …« Angesichts seines niedrigen militärischen Rangs und seiner fehlenden politischen Erfahrung stellte dies einen beträchtlichen Erfolg dar und bezeugte seinen außergewöhnlichen Charakter.
Seine Organisation ließ der polnischen Exilregierung in London darüber hinaus mittels der Polnischen Heimatarmee (die Armia Krajowa, AK) mehrere Berichte über die Bedingungen im Lager zukommen, darunter auch die ersten Beschreibungen der Massenvergasung von Juden. Es zeigt, wie grenzenlos die Missachtung aller Menschlichkeit und Moral durch die Nazis war, dass selbst Männer wie Pilecki, die als Augenzeugen schrecklicher Dinge unmittelbar vor Ort waren, die Ungeheuerlichkeit und den Umfang des Verbrechens, das später als Holocaust bekannt werden sollte, anfangs nicht erfassen konnten. Das macht es vielleicht weniger unbegreiflich, dass die Außenwelt so träge darauf reagierte.
Doch Pileckis Bericht endet mit Frustration, gar mit Wut. Es empörte ihn als denjenigen – dessen muss man sich bewusst sein –, der freiwillig nach Auschwitz gegangen war, dass die Leitung der Heimatarmee wie auch die Alliierten nicht willens war, die Organisation, die er dort aufgebaut hatte, für einen militärischen Angriff auf Auschwitz auszunutzen: »Sollte es eine Luftlandeoperation...