Einleitung
Haben Frauen mehr Freunde oder Männer? In den Vereinigten Staaten sind es aller Wahrscheinlichkeit nach die Frauen. Der Volksmund sagt, dass Frauen üblicherweise geselliger, offener, empathischer, fürsorglicher, kollegialer und »freundlicher« sind als Männer. Die Medien verstärken dieses Stereotyp mit Filmen, Fernsehserien und Frauenromanen, in denen die engen Beziehungen thematisiert werden, die viele Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens eingehen. Darüber hinaus haben einige wissenschaftliche Studien aufgezeigt, dass Frauen tiefere, intimere Freundschaften entwickeln als Männer und dass Freundschaften zwischen Frauen sowohl für ihre eigene seelische Gesundheit als auch aus evolutionärer Sicht für das Überleben ihres Nachwuchses von entscheidender Bedeutung sind.1 Wenn bei verheirateten Paaren die Frau zuerst stirbt, vereinsamt der Mann häufig, wird depressiv oder physisch krank, während im umgekehrten Fall die zurückbleibende Frau oft von ihren Freunden aufgefangen wird.2 Heutzutage werden gute Freunde – ob Frauen oder Männer – für das Wohlbefinden amerikanischer Frauen jeden Alters als unverzichtbar angesehen.
Der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Freundschaftsmustern ist seit mindestens 25 Jahren ein heißes Thema sowohl in der Populärkultur als auch in der Wissenschaft.3 Die meisten wissenschaftlichen Studien kommen zu dem Schluss, dass Unterschiede zwischen Männerfreundschaften und Frauenfreundschaften bestehen. Ein Sozialwissenschaftler definierte es so: »Wenn Männer sich treffen, pflegen sie eine ›shoulder-to-shoulder‹-Beziehung – wir machen etwas gemeinsam –, während Frauen eher zu ›face-to-face‹-Beziehungen tendieren.«4 Viele Frauen vertrauen sich einander an, während Männer einfach nur gern zusammen abhängen. Nicht selten sind die sozialen Beziehungen unter Männern von Konkurrenzdenken geprägt, und das hindert sie daran, ihren Freunden Schwächen und Sorgen zu offenbaren. So beschränken Männer vertrauliche Unterhaltungen häufig ausschließlich auf ihre Partnerinnen, Ehefrauen oder platonischen Freundinnen. Damit können sie nach außen hin ein unabhängiges und selbstständiges Bild von sich vermitteln – klassische »männliche« Eigenschaften.
Andererseits wird einer auch noch so erfolgreichen Frau ohne enge Freunde nachgesagt, ihr mangele es an dem emotionalen Kapital, das lange mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht wurde. Von heranwachsenden Mädchen und Frauen um die 20 wird angenommen, dass sie sich emotional auf ihre Freundinnen verlassen, wenn es um Empathie und Feedback geht. Während junge Frauen in den Anfängen einer Ehe sich vielleicht von zeitraubenden Freundschaften zurückziehen, scheinen sie später wieder Freundinnen zu finden, wenn sie welche brauchen: Sie halten Ausschau nach Kolleginnen und Mentorinnen, wenn sie über die Anforderungen des Arbeitsplatzes diskutieren; sie kommunizieren mit anderen Müttern, wenn sie ihre Kinder großziehen; sie vertrauen einander persönliche Geheimnisse an, wenn sie die Wechseljahre oder eine Scheidung durchmachen, und sie stützen einander, wenn sie an Krebs oder anderen Krankheiten leiden oder wenn ein Ehepartner gestorben ist. Wie oft haben wir Frauen sagen hören: »Ohne meine Freundinnen hätte ich es nie geschafft.«
Diese besondere Rolle von Frauen als Freundinnen hätte die Menschen in grauer Vorzeit überrascht. Fast alle Dokumente über Freundschaften in den ersten 2000 Jahren der Geschichte des Abendlandes – von 600 v. Chr. bis 1600 n. Chr. – betreffen Männer. Natürlich wurden fast alle diese Dokumente von Männern für Männer geschrieben. Aber hinter dem Augenmerk auf Männerfreundschaften steht weit mehr als die Frage einer geschlechterbezogenen Autoren- und Leserschaft. Männliche Autoren erhoben die Freundschaft zu einem männlichen Unternehmen, notwendig nicht nur für das private Wohlbefinden, sondern auch für die staatsbürgerliche und militärische Solidarität. Wenn ein antiker griechischer Philosoph die Freundschaft als edelste Form menschlicher Beziehung beschwor, fand er Frauen nicht der Erwähnung wert, denn sie waren keine Staatsbürger, keine Soldaten, und sie hatten keinen Anteil am öffentlichen Leben. Abgesondert im häuslichen Bereich griechischer Wohnstätten mochten Frauen zwar untereinander Freundschaften gepflegt haben, aber was hätte das schon zum öffentlichen Wohl beigetragen?
Darüber hinaus galten Frauen ganz allgemein als »schwächer« als Männer, und einer negativen Sicht auf Frauenfreundschaften zufolge, die noch lange nach den Griechen und Römern fortbestand, waren sie von ihrer Konstitution her für ernsthafte Freundschaft ungeeignet. Ihre Rivalitäten, ihre Eifersüchteleien und ihr Mangel an unverbrüchlicher Loyalität sollten den Frauen noch Jahrhunderte später um die Ohren fliegen. So warf noch Mitte des 19. Jahrhunderts die britische Saturday Review die Frage auf, ob Frauen überhaupt zu Freundschaften innerhalb ihres eigenen Geschlechts fähig seien.5 Die überaus produktive kalifornische Autorin Gertrude Atherton vertrat 1902 die Auffassung, dass »die perfekte Freundschaft zweier Männer die tiefste und höchste Empfindung ist, zu der der endliche Geist fähig ist; Frauen verpassen das Beste im Leben.«6 Und C. S. Lewis, der Autor der Chroniken von Narnia, schrieb 1960, dass die Anwesenheit von Frauen in Männerzirkeln zur »modernen Herabwürdigung der Freundschaft« beitrage; solche Frauen sollten ihrem »endlosen Geschwätz« überlassen und daran gehindert werden, den gehobenen Austausch männlicher Geister zu beschmutzen.7 Und heute fokussieren Filme und TV-Shows auf niederträchtige Cliquen gehässiger Teenager und die sexuellen Rivalitäten junger Frauen und folgen damit einer Tradition von Stereotypen, die seit langem den Wert von Frauen als Freundinnen infrage stellen.
Es gibt zahlreiche Belege für Freundschaften unter der griechischen und römischen Bürgerschaft, unter Klerikern und Kreuzfahrern des Mittelalters und Humanisten der Renaissance. Obschon durch Raum, Zeit, Sprache und Kultur getrennt, benutzten sie eine Vielzahl von Genres, wie Briefe, Traktate, Memoiren und Erzählungen, um extensiv über die Vorzüge von Männerfreundschaften zu schreiben. So behandelt zum Beispiel das mitreißende französische Rolandslied (um 1100) die heroische Freundschaft zwischen Roland und Olivier auf dem Schlachtfeld. Damit folgt es einer literarischen Tradition, die bis 2000 Jahre zurückreicht zu den Figuren von Achilles und Patroklus in Homers Ilias und sogar noch weiter zur babylonischen Geschichte von Gilgamesch und Enkidu. Im Gegensatz dazu waren Frauenfreundschaften in der klassischen oder mittelalterlichen Literatur kein Thema, einmal abgesehen von den seltenen Fällen, die sich üblicherweise um eine heterosexuelle Liebesaffäre rankten, bei der eine Frau die Rolle der Vertrauten einer anderen übernahm.
Im Mittelalter entsprangen in der stillen Zurückgezogenheit christlicher Klöster enge Freundschaften unter den Mönchen, die zusammen lebten, arbeiteten und beteten. Ehrwürdige Führer und zukünftige Heilige wie Anselm von Canterbury (1033–1109) und Bernard von Clairvaux (1090–1153) schrieben zahlreiche Briefe, die tiefe Zuneigung zu anderen Männern des Klerus ausdrückten, ob sie nun hochrangige Persönlichkeiten waren wie Äbte, Prioren oder Bischöfe oder nur einfache Mitbrüder. Aber um 1109, als Anselm starb, tauchten vergleichbare Briefe von Frauen auf, die in Nonnenklöstern lebten. Die Briefe der Hildegard von Bingen (1098–1179), auf Lateinisch geschrieben wie diejenigen des Heiligen Anselm, bezeugen die engen Freundschaften, die Frauen in den Klöstern verbanden. Hildegards starke Persönlichkeit bahnt sich in den vielen Episteln Weg, die sie an Frauen schickte, welche sie kannte und liebte. Heute umfasst ihre Korrespondenz ebenso wie die des Heiligen Anselm drei Bände. Aber trotz der zahlreichen Freundinnen, die ihre Briefe erhielten und beantworteten, war Freundschaft in der Öffentlichkeit nach wie vor entschieden männlich geprägt.
Ein klassisches Beispiel dafür, dass Männer die Freundschaft für eine ausschließlich männliche Domäne hielten, liefert der berühmte italienische Humanist Leon Battista Alberti (1404–1472) mit seinem Traktat »Vom Hauswesen«, in dem er eine Szene beschreibt, die ein reicher florentinischer Händler kurz nach seiner Hochzeit erzählt: »Da fielen wir auf die Knie, sie und ich, und beteten zu Gott, … dass Er uns die Gnade erweise, in Frieden und Harmonie zusammenzuleben … und er möge mir Reichtum, viele Freunde und Ehre schenken, ihr aber tadellosen Ruf, Ehrbarkeit und die Gabe, eine tüchtige Hausfrau zu sein.« Ob Alberti die Worte des Händlers allen Ernstes so verstanden haben wollte oder nicht: Jedenfalls spiegelte er die Sehnsüchte italienischer Ehemänner wider, für die eine Freundschaft mit anderen Männern im Alltagsleben eine herausragende Stellung einnahm – was im Umkehrschluss für Frauen nicht galt, die angewiesen waren, ihre Aktivitäten auf ihre Familien und den Haushalt zu beschränken.8
Im 16. Jahrhundert beschrieb der französische Schriftsteller Michel de Montaigne (1533–1592) das typische Beispiel einer Männerfreundschaft. Seine relativ kurze, aber leidenschaftliche Beziehung zu Étienne de La Boétie, die in einem der bekanntesten Essays Montaignes – Von der Freundschaft – Unsterblichkeit erlangte, baute auf den Figuren der griechischen und lateinischen Literatur auf, die beide...