»Man konnte ihm nur nah kommen, wenn man ihm nicht zu nah kam.«
Egon Bahr
»Wir können es ganz kurz machen«, grantelt es mir aus der Tiefe des Schreibtischstuhls entgegen. »Ich sage Ihnen meine Formel für Freundschaft, und damit ist alles gesagt.«
Nach dieser einladenden Eröffnung befiehlt mir Egon Bahr dann doch, vor seinem aufgeräumten Tisch Platz zu nehmen. Er hat gerade ein anstrengendes Telefonat hinter sich und muss jetzt erst mal eine Zigarette rauchen. Normalerweise gilt Rauchverbot im Willy-Brandt-Haus, doch Politiker, die bundesdeutsche Geschichte maßgeblich gestaltet haben, ignorieren solche Regeln mit größtmöglicher Souveränität. Darin will er nicht hinter Helmut Schmidt zurückstehen. Und zetert über diejenigen, die mit lustfeindlichem Regelwerk versuchen, seine Lebensfreude einzuschränken.
Natürlich kann er zu Freundschaft eine Menge mehr als einen Satz sagen, schließlich hat er ganze Bücher darüber geschrieben. Über dieses außergewöhnliche Bündnis mit Willy Brandt, das als zeitloses Zeugnis für die Möglichkeit echter Freundschaft in der Politik gilt. Aber er hat einen vollen Terminplan, erzählt er und zeigt dabei auf den vor ihm liegenden Tischkalender, der für diesen Tag genau einen Eintrag vorsieht.
»Wie viele Freunde haben Sie denn?«, fragt der Zweiundneunzigjährige herausfordernd und übernimmt damit direkt die Gesprächsführung. Er hat nur drei. Drei echte Lebensfreunde. Einen Schulfreund, einen politischen Weggefährten und eben Willy Brandt. Dann sei Schluss, mehr gibt es nicht. Braucht es auch nicht.
Zwei seiner Freunde sind tot, mit dem dritten spricht er inzwischen nur noch in unregelmäßigen Abständen. Neue Freundschaften hat er schon lange nicht mehr geschlossen. Vielleicht weil er noch immer so viel zu tun hat, er erhält nach wie vor reichlich Einladungen zu repräsentativen Anlässen, häufig von internationalen Staatschefs, die von seiner Erfahrung zu profitieren suchen. Vor allem aber deshalb, weil seine Freundschaften weit über den Tod hinaus wirken. Da braucht es keinen Ersatz, obschon er hin und wieder mal jemanden richtig sympathisch findet.
Egon Bahr ist ein brillanter Geschichtenerzähler. Auch wenn er die allermeisten schon unzählige Male erzählt hat, vermittelt er das Gefühl einer exklusiven Konspiration. Er variiert in Lautstärke und Temperament und ist es sichtlich gewohnt, den Gesprächspartner mit seiner akzentuierten Kauzigkeit einzuschüchtern. Signifikant entfaltet sich diese Methode vor allem dann, wenn er gefordert ist, die jahrzehntelang zurechtgelegten Sprachregelungen zu überschreiten. Sobald er sich wieder auf gewohnten Pfaden bewegt, berlinert er im Maße der Entspannung. Und manchmal wird er dabei sogar ganz sanft. Immer dann, wenn er seine Geschichte über Willy Brandt erzählen kann. Über ihre Männerfreundschaft, die keine Beweise brauchte. Und die erst nach dem Tod des Ex-Kanzlers ihre formale Bestätigung bekam.
Sie haben sich lange gesiezt, nachdem ihn Willy Brandt als Regierender Bürgermeister Berlins zu seinem Sprecher machte. Auch in den gemeinsamen Jahren im Bundeskanzleramt, als sie mit dem Wandel durch Annäherung die bundesdeutsche Entspannungspolitik prägten. Im Amt war es ohnehin Ehrensache, in den seltenen privaten Begegnungen duzten sie sich irgendwann. Es brauchte jedoch eine verbindende politische Kabale für den großen Schritt zu ausdrücklicher Vertraulichkeit. »Wir haben ein bisschen unfair gegenüber Ollenhauer agiert«, erinnert sich Egon Bahr mit gespielter Beschämung »und als wir rausgegangen sind, hat der Willy gesagt, Egon wir können uns jetzt auch duzen.«
Dass Freundschaft für ihn vor allem auch das Respektieren der jeweiligen persönlichen Grenzen ist, macht Egon Bahr wiederholt unmissverständlich klar. Ob er diese Grenzen in der Zweisamkeit mit Willy Brandt seinerseits ähnlich gesetzt hätte, beantwortet er mit einem gedankenvollen Schweigen. Es sei nun mal so gewesen, dass man Brandt nur nahe kommen konnte, wenn man ihm nicht zu nah kam. Also hat er dessen »Privacy« immer anerkannt. Und auch, dass der Freund entschied, über welche Themen gesprochen wurde. Und wann.
Von Männerabenden an der Bar, kameradschaftlichen Gelagen oder vom Austausch über die realen Nöte eines Politikers fernab der Weltpolitik erzählt er wenig. Die Dimension der wechselseitigen Bedeutung findet ausschließlich in der unanfechtbaren Loyalität, in den geteilten Überzeugungen, in gemeinsam gewonnenen und verlorenen Kämpfen ihren Ausdruck.
Er hatte nie ein Problem damit, in dieser Beziehung der Geber zu sein, der Dienende im besten Sinne. »Ich war sein Architekt, ich habe in Konzepten gedacht, er war der Bauherr und traf die Entscheidungen.« Eine kongeniale Verbindung sei das gewesen. Und ganz und gar zweckfrei. »Der höchste Wert, den eine Freundschaft erfüllen kann«, sagt er leise. Eine vollkommen zweckfreie Verbundenheit wie diese ist ein Geschenk. Und deshalb so selten. Bis heute fällt ihm keine ähnliche Bindung im politischen Geschäft ein. Nicht mal in der Literatur, wenn er recht darüber nachdenkt.
Das haben ihm auch andere bestätigt. Richard von Weizsäcker hat mal gesagt, dass Willy Brandt und Egon Bahr nur mithilfe des jeweils anderen ihre Fähigkeiten entfalten konnten. Dieses Zitat wiederholt er mit unverhohlenem Stolz. »Brandt war ein Mensch, der eine unglaubliche Faszination auf Massen ausübte, diese Gabe habe ich nicht.« Rivalität hat es zwischen ihnen beiden nie gegeben. Allein die rigide Abwehr dieser Frage zeigt, wie groß die Ehrfurcht vor den Fähigkeiten des Freundes ist und wie vermessen die Annahme, er könnte unter dessen Größe dann und wann gelitten, gar mit ihm gewetteifert haben. ›Erkenne dich selbst‹ ist das Motto, das Egon Bahr durch seine politische Laufbahn und vor allem in der Freundschaft zu Willy Brandt getragen hat.
Was Willy Brandt in ihm erkannt hat, was ihn zum womöglich einzig wahren Freund qualifizierte, darüber mag Egon Bahr nicht fabulieren. »Das müssen Sie ihn schon selbst fragen«, sagt er so selbstverständlich, als könne jeder auf eine Weise mit Willy Brandt in Kontakt treten, wie er es bis heute tut. Es war eben einfach so. Brauchte keine Erklärungen. Und doch sei er sich der unerschütterlichen Wertschätzung immer sicher gewesen. Auch wenn sie zumeist unausgesprochen blieb. Selbst in ihrem letzten Gespräch, zwei Tage vor Brandts Tod, ist der Begriff Freundschaft nicht gefallen. Bei der Erinnerung an diesen verschwörerischen Moment grinst er entrückt.
Es gab immer wieder diese Bruchstellen, die Egon Bahrs besondere Bedeutung für den Kanzler unterstrichen. Vor allem solche, die keine öffentlichen Bilder hinterließen. 1972, nach der vorgezogenen Bundestagswahl und zum Zeitpunkt des größten Erfolges der SPD, beginnt er zu erzählen, da hatte Brandt eine depressive Verstimmung. Obwohl das mit dessen angeblichen Depressionen ansonsten alles totaler Unsinn sei. Damals allerdings, da rief ihn Brandts Frau Rut an und bat ihn dringend zu kommen. »Willy war nicht mehr ansprechbar, absolut entschlossen alles hinzuwerfen, beschimpfte die komplette Kabinettsliste einmal hoch und runter. Ich habe ihn versucht umzustimmen, alle Argumente verpulvert und am Ende nur noch mit der Schläue der Verzweiflung gesagt: Du kannst gar nicht zurücktreten, der Bundespräsident ist gerade auf Auslandsreise.« Dann ist er gegangen. Am nächsten Tag kam der Bundeskanzler zur Arbeit, als sei nichts gewesen. Niemand hat je von seiner konkreten Ausstiegssehnsucht erfahren. Das sind diese Erlebnisse, die ihre wechselseitige Loyalität zementierten. Brandt konnte sich immer auf die Diskretion seines Getreuen verlassen. Und Egon Bahr genoss das solitäre Vertrauen, das ihm der Regent entgegenbrachte. Eine unblutige Blutsbrüderschaft unter erwachsenen Männern.
Politische Krisen haben beide in ihren bewegten Bonner Jahren viele geteilt, aber an Spannungen in ihrer Beziehung kann sich Egon Bahr nicht erinnern. »Alles Pipifax«, behauptet er nach einer langen Pause, während der er scheinbar angestrengt abwägt, welches Ereignis die Größe zur Anfechtbarkeit ihrer Symbiose haben könnte. Na ja, die Entscheidung für Brandts letzte Frau, die konnte er nicht verstehen. Gesagt hat er es ihm nicht, auch hierbei war Zurückhaltung der größte Freundschaftsdienst. Es gab ja ohnehin nichts daran zu rütteln und überhaupt galt: »Hauptsache, der Junge ist glücklich.« Doch manchmal, fügt er dann in einer Mischung aus Unverständnis und Bewunderung hinzu, da sei er ein bisschen enttäuscht gewesen, dass Willy Brandt nicht die Fähigkeit von Herbert Wehner hatte, »jemandem mal so richtig in den Arsch zu treten«. Das konnte auch er nicht stellvertretend für ihn erledigen. Brandt war eben ein Mensch, der immer überzeugen wollte, nicht befehlen. Seine Stärke und Schwäche zugleich. Aber dieses Gerede, er sei zu weich gewesen, darüber kann Egon Bahr sich trefflich empören. »Jemand, der vierundzwanzig Jahre lang Vorsitzender der Partei ist, der weiß natürlich genau, wo die Macht ist.« Und wie er sie einzusetzen hat. Dass der Berater seinen Kanzler trotz unterschiedlicher Meinungen und wohldosierter kritischer Auseinandersetzung am Ende meistens verstand, liegt auch daran, dass sie sich ähnlich gewesen sind. »Wir waren beide intelligent und empfindsam«, beschreibt er beseelt, was er für unverzichtbare staatsmännische Eigenschaften hält.
Auch seine zwei anderen Lebensfreunde glichen Egon Bahr auf eine Weise oder waren zumindest durch geteilte Erlebnisse und eine gleiche Gesinnung verbunden. Anders wäre Freundschaft nicht denkbar, er ist vor allem ein politischer Mensch. Seinen Schulfreund hat...