ERSTES KAPITEL
«Im Geiste sah ich die Erntewagen in den Hof fahren»: Der 20. Juli
Man kann sich den 20. Juli 1944 auf Gut Kreisau der Jahreszeit gemäß geschäftig und den Umständen entsprechend friedlich vorstellen. Gerste und Roggen stehen in der Ernte, Heu muss geschnitten, Himbeeren müssen gepflückt und schnell zu Marmelade verkocht werden. Durch die Furchen der Rübenäcker arbeiten sich ganze Hackkolonnen, auf den Getreidefeldern staken Helfer das Stroh zu Garben, am späten Nachmittag ziehen die Melker mit ihren Schemeln und Blecheimern auf die Weiden. 242 Hektar, so listet es eine Bestandsaufnahme polnischer Behörden aus dem Jahr 1946 auf, umfasst der Betrieb südwestlich von Breslau, der nicht einmal zu den größeren Liegenschaften östlich der Elbe zählt. Knapp 168 Hektar sind Ackerland, vier Hektar Wiesen, 41 Hektar Weiden und 23 Hektar Wald. Wie es für die Mischbetriebe in der Gegend typisch ist, gehört zur Acker- auch die Milchwirtschaft. Zu Kriegsbeginn werden zusätzlich Schafe angeschafft und, weil der Honig knapp wird, auch mehrere Bienenstöcke.
Tag für Tag ist Freya von Moltke mit ihrem Verwalter Adolf Zeumer auf der «Spinne», dem zweirädrigen Einspänner, über Wege, Wiesen und Felder unterwegs. Nichts Gräfliches ist an ihr. Auf Fotos jener Zeit ist die damals Dreiunddreißigjährige fast ausschließlich mit schwerem Schuhwerk an den Füßen und einem bäuerlichen Tuch über dem kinnlangen Bubikopf zu sehen, den sie seit den zwanziger Jahren trägt. Sie erledigt, was ein guter Landwirt zu tun hat: sieht nach dem Rechten und packt mit an, wo noch ein paar kräftige Hände gebraucht werden. Zusammen mit Zeumer sorgt sie dafür, dass die Ernte sicher in die Scheunen kommt, die Arbeiter gut versorgt werden und vor allem, dass Ruhe und Frieden herrschen zwischen all den Menschen auf dem Hof. Neben dem Schloss aus dem 18. Jahrhundert umfasst das Anwesen, das der große Feldmarschall Helmuth von Moltke 1866 mit Hilfe einer Dotation des für seinen Sieg bei Königgrätz dankbaren Preußenkönigs erworben hat, noch weitere fünf Hektar mit Bauten, Scheunen, Waschhäusern und dem großen Kuhstall mit dem Tonnengewölbe aus geweißeltem Backstein, in dem im Winter die Kühe genügsam zwischen Säulen ihr Futter wiederkäuen. Daneben Schweine- und Pferdestall, Silos, Treibhaus, Schuppen, das Gärtnerhaus gleich östlich des Schlosses, Verwalter-, Arbeiter- und Wohnhäuser, zusammen mit dem Schloss und seinen viel zu vielen 31 Zimmern sind es insgesamt 116 Räume und 51 Küchen. Seit ein paar Jahren wird mittags im Hof auch ein großer Kessel Suppe für die französischen und russischen Kriegsgefangenen gekocht, die in Kreisau und der näheren Umgebung Zwangsarbeit leisten müssen.
Schon immer ging es auf dem Hof betriebsam zu, aber in diesen Monaten sind die Gemäuer bis in den letzten Winkel belegt mit Saisonarbeitern, Freunden und Verwandten, mit den ersten Flüchtlingen aus dem Osten und mit Ausgebombten. Manche sind nur mit dem «Luftschutzgepäck» angekommen, dem Notkoffer, der die wichtigsten Unterlagen enthält, und, sofern Platz übrig ist, ein paar Gegenständen von sentimentalem Wert. Tagsüber dröhnen die amerikanischen und nachts die britischen Bomber, heulen in den großen und mittlerweile auch schon in den kleineren Städten die Sirenen, heißt es schnell hinunter in die stickigen Keller, warten und beten, dass das Geschwader weiterfliegt, wenigstens nicht das eigene Haus getroffen wird, dass man durch Schutt und Geröll lebend wieder hinauf an die Luft steigen kann.
Im Dachgeschoss des Schlosses ist seit Oktober 1943 die Freundin Rosemarie «Romai» Reichwein mit ihren vier Kindern einquartiert. Nur einen Monat später, nach den bis dahin schwersten Bombardierungen, finden auch die kleinen Huelsen-Kinder mit ihrer Großmutter Leno auf dem Hof Zuflucht. Die Eltern Editha und Hans-Carl von Huelsen starben, als ein Flieger auf ihr Haus stürzte. Tagelang blieben sie verschüttet, während man die Kinder recht schnell und beinahe unverletzt aus den Trümmern bergen konnte. Selbst das Berghaus, nur ein paar Minuten Fußweg über das Flüsschen Peile hinweg auf einem etwas großspurig «Albrechtshöhe» genannten Hügelchen gelegen und seit 1928 schon Wohnsitz der Familie Moltke, ist voll belegt. In den kleinen Zimmern des ersten Stockwerks lebt nicht nur Freya mit ihren beiden «Söhnchen», dem siebenjährigen Caspar und dem dreijährigen Konrad, sondern auch ihre Schwägerin Asta, die aus Berlin wieder zurück nach Schlesien gezogen ist. Wo jeden Tag mehr in Schutt und Asche gelegt wird – was die Berliner mit der trockenen Bemerkung quittieren: «Wenn der Tommy so weitermacht, muss er sich bald seine eigenen Häuserzeilen mitbringen» –, ist für eine gelernte Tischlerin und Innenarchitektin kein Auskommen zu finden. Zu Besuch aus Köln ist auch Freyas Mutter Ada Deichmann.
Auf dem Land lässt es sich nicht nur in der Nacht ruhig durchschlafen, auch die Versorgung ist wesentlich besser als in der Stadt. Städter bekommen über Lebensmittelkarten ohnehin nur noch das Notwendigste, und selbst das nicht immer oder nur in kaum genießbarem Zustand. Längst schon beißt man im klitschigen Brot auf Kartoffelschalen, Sägemehl und Zeitungsschnipsel, die mit verbacken werden. Freya hält sich ebenfalls streng an die Vorschriften der Lebensmittelrationierung. Auf keinen Fall, dessen vergewissert sich auch ihr Mann Helmuth James immer wieder, darf die in der Gegend als nicht eben regimetreu bekannte Familie ins Visier der NS-Behörden geraten. Ein dickes Schwein wird wie vorgeschrieben nur einmal im Jahr geschlachtet und Fleisch, Wurst, Speck – das ist eine der von Freya weniger geliebten Aufgaben einer Landfrau – dann «kenntnisreich und weise» verteilt. Aber reichlich Kartoffeln und schönes Gemüse, woanders längst Mangelware, Obst, Eier, ja, sogar die sehnlich vermisste Butter und Milch für die Kinder gibt es auf dem Hof. Freya ist – und wird es bis ins hohe Alter bleiben – eine aufmerksame und großzügige Versorgerin. Sie sorgt dafür, dass so regelmäßig wie möglich auch ein Huhn oder sogar eine ihrer Gänse auf den Tisch kommen.
«Guck dich nicht um und tu deine Arbeit», hat Helmuth James ihr geraten. Und ganz gewiss braucht sie auch ein gewisses Kopf-in-den-Sand-Stecken, um sich nicht die ganze Zeit auszumalen, was vor sich geht. Ihr geschäftiger Hof ist der richtige Ort dazu. Im Süden säumt die sanft geschwungene Hügelkette des Eulengebirges den weiten niederschlesischen Horizont. Umgeben von kleineren Hügeln, Buschwald und Feldern, liegt Kreisau wie eingebettet in einer Mulde. Es ist noch immer eine Insel des Friedens. Von der Ostfront, von den quietschenden Ketten der Panzer und dem Dauerlärm der Geschütze merkt kaum jemand etwas – schon gar nicht jene getreuen Deutschen, die Joseph Goebbels’ Propagandasender hören. Dort wird die Front selbstverständlich immer nur «planmäßig begradigt» oder vielleicht sogar «zurückgenommen», um zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückzuschlagen und den «Endsieg» zu erringen.
Sich auf die eigene Arbeit zu konzentrieren und Kraft zu schöpfen für all die Menschen, die jetzt auf Freya angewiesen sind, heißt aber noch lange nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Oben im Berghaus will man sich nicht auf die Nachrichten der NS-Propaganda verlassen. Jeden Abend läuft Romai Reichwein vom Schloss am Gärtnerhaus vorbei, überquert die Peile an der flachen Kuhfurt und steigt nach links den Hügel hinauf zum Berghaus, um mit den anderen Frauen «Feindsender» zu hören. Dort oben, umgeben nur von ein paar Akazien, verhallt das sonst so verräterische «Ta-ta-ta-Tam» der Anfangstakte aus Beethovens Fünfter Symphonie, mit dem die BBC ihr deutsches Programm einleitet.
Freya und ihre Schwägerin Asta, Mutter Deichmann und Romai Reichwein wissen genau, dass den Westalliierten Anfang Juni die Invasion in der Normandie gelungen ist, dass sie gleichzeitig von Süden her, über Italien, vorrücken – und dass es, zumal im Osten, keine «planmäßigen Begradigungen» gibt. Sondern gnadenlose Schlachten und verbrannte Erde, wo immer sich Wehrmacht und SS zurückziehen. Die «Heeresgruppe Mitte» ist in großen Teilen aufgerieben, Zehntausende sind gefallen, Hunderttausende in russische Gefangenschaft gelangt. Anfang Juli ist die Rote Armee bis vor das etwa 350 Kilometer nordwestlich gelegene Warschau vorgedrungen, wo sie monatelang verharren und dem verzweifelten Kampf der aufständischen polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer tatenlos zusehen wird, bis die Stadt gänzlich in Ruinen liegt. Weiter südlich steht sie an der Weichsel und hat damit die spätere Ostgrenze Polens schon erreicht. In ganz Deutschland, natürlich auch auf Kreisau, sind nur noch die Frauen und Kinder sowie die Alten und Gebrechlichen zu Hause – und auch die wird man bald einziehen zu einem letzten, gnadenlosen Aufgebot von minderjährigen Flakhelfern und Barrikadenkämpfern im Rentenalter.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben die meisten Männer schon lange als Teil der großen Kriegsmaschinerie zu dienen. Helmuth James von Moltke ist gleich nach Beginn des Polenfeldzugs 1939 – die genaue Bezeichnung weiß Freya noch Jahrzehnte später wiederzugeben – als «Kriegsverwaltungsrat in das Oberkommando der Wehrmacht, (Spionage-)Abwehr, Abteilung Ausland, als Sachverständiger für Kriegsrecht und Internationales Recht» unter Admiral Wilhelm Canaris kriegsverpflichtet...