In der Aufwärtsspirale
Es steht nicht gut um die Menschheit. Aber besser als jemals zuvor.
Vor 300.000 Jahren begann der Homo sapiens, die Erde zu bevölkern. Über 100 Milliarden Menschen wurden seitdem auf dem Planeten geboren. Ihr Leben war meist kurz und schmerzhaft, geprägt von Hunger, Unterdrückung, Krankheit, Armut und Gewalt. Keine dieser Plagen hat die Menschheit bis heute besiegt. Aber alle erheblich verringert. Fast durch die gesamte Geschichte waren Entbehrung und Qual bestimmend für den Alltag von über 90 Prozent unserer Vorfahren. Heute sind wir auf dem besten Weg, das Verhältnis umzukehren. Von den gewaltigen Verbesserungen der Lebensumstände in sämtlichen Kategorien profitiert nicht nur jene kleine, elitäre Gruppe von Europäern oder Nordamerikanern, sondern die große Mehrheit der Weltbevölkerung.
Immer wieder gab es in unserer Geschichte Entwicklungsschübe, in denen die großen Geißeln der Menschheit zurückgedrängt werden konnten. Eine solche Epoche des Erfolges erlebt unsere Spezies auch jetzt, in unserer Zeit. Und was für eine! Wir sind Zeugen und zugleich Akteure eines wahren Quantensprungs bei der Verbesserung der Lebensumstände. Nahezu alle Kurven zeigen steil nach oben. Die positiven Entwicklungen sind umfassender als in allen bisherigen Perioden. Die Dimension des Fortschritts, den die Menschheit allein in den vergangenen fünf Jahrzehnten erreicht hat, ist größer als der Fortschritt in ihrer gesamten Historie zuvor. Wir erleben die beste Phase in 300.000 Jahren Homo sapiens.
Noch nie waren die Menschen so gesund. Noch nie war die medizinische Versorgung besser. Noch nie verfügten Menschen über so wirksame Medikamente. Noch nie war das Essen gesünder. Noch nie war die Gefahr so gering, von Mitmenschen umgebracht zu werden. Noch nie genossen die Menschen solche Freiheiten zur persönlichen Entfaltung. Noch nie konnten so viele Bürger ihre Regierungen in demokratischen Wahlen selbst bestimmen. Noch nie verzichteten so viele Staaten auf die Anwendung der Todesstrafe. Noch nie waren die Menschen besser informiert, noch nie besser gebildet und noch nie war der Anteil von Analphabeten so gering. Noch nie waren Reichtum und Wohlstand größer und gleichzeitig der Anteil der Menschen in absoluter Armut so niedrig. Und noch nie in ihrer Geschichte lebten die Menschen so lange. 71 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Erdenbürgers. Der steilste jemals gemessene Anstieg der Lebenserwartung ereignete sich erst kürzlich, in diesem Jahrtausend in Afrika. 1
Mit jeder einzelnen dieser frohen Botschaften werde ich mich im ersten Teil des Buches genauer beschäftigen. Dabei wird sich herausstellen: Es handelt sich nicht um Meinungen, sondern um nachgewiesene Fakten. Seit gut einem Jahrzehnt arbeiten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen daran, historische Quellen so auszuwerten, dass damit Daten aus der Vergangenheit generiert werden können, etwa über Einkommen, Kriminalitätsraten, Lebenserwartungen oder Versorgung mit Lebensmitteln. Das ermöglicht datenbasierte Zeitreihen, die weit zurückreichen. Historische Lebensbedingungen können mit denen von heute verglichen werden, nicht nur ungefähr oder prinzipiell, sondern exakt und quantitativ. Dieser analytische Blick in die Vergangenheit ist ein hochwirksames neues Werkzeug der Aufklärung. Es erlaubt uns erstmals die Antwort auf eine der großen Fragen der Menschheit: Haben wir Fortschritte gemacht?
Steven Pinker, Psychologieprofessor in Harvard, hat mit dieser Methode nachgewiesen, dass Krieg und Gewalt immer weiter auf dem Rückzug sind. 2 Die Berechnungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty konnten zeigen, dass seit dem 18. Jahrhundert die Vermögenskonzentration stetig zugenommen hat. 3 Inzwischen ist eine weltweite Bewegung aus Forschern unterschiedlicher Disziplinen entstanden, die verfügbare Daten aus den unterschiedlichsten Quellen sammeln, aufarbeiten und auf Webseiten anschaulich darstellen. Stellvertretend möchte ich hier drei Projekte nennen: HumanProgress, verantwortet von dem Amerikaner Marian L. Tupy. Gapminder, gegründet von dem Schweden Hans Rossling, der im vergangenen Jahr verstorben ist. Our World in Data, betrieben von Max Roser, einem jungen, deutschen Ökonomen, der bis vor kurzem am Institute for Economic Thinking der Universität Oxford forschte. Roser postet ständig neue, überraschende Zahlen, Daten und Analysen in anschaulichen Diagrammen. Millionen Interessierte lesen die Beiträge auf seiner Internetseite, Zehntausende folgen ihm auf Twitter. »Mich überrascht selbst, auf wie viel Interesse ich da stoße«, sagte Roser dem Spiegel. 4 Er ist einer der Stars der Szene, die mithilfe von historischen Statistiken die Entwicklungen der Menschheit nachzeichnet.
Die intensive Arbeit mit objektiven Daten und Informationen hatte eine starke Wirkung auf Max Roser: Sie hat ihn zu einem überzeugten Optimisten gemacht. »Die meisten Menschen haben ein übertrieben negatives Weltbild«, sagt Roser. »Die Lebensbedingungen werden immer besser.«
Im zweiten Teil dieses Buches werde ich ausführlich darauf eingehen, wie die Massenmedien mit den großen, oft sensationellen Fortschritten umgehen: Sie ignorieren sie weitgehend. In den »Qualitätsmedien« wird zumindest hin und wieder auch über einzelne positive Entwicklungen berichtet. In der Kolumne »Früher war alles schlechter«, der dieses Buch viele Anregungen verdankt, stellt etwa der Spiegel jede Woche ein konkretes Beispiel des Fortschritts vor. 5 Präsentiert werden Sensationen, wie die Reduzierung der Malariatoten um 60 Prozent seit 2000, genauso wie weniger relevante Fakten wie der Rückgang des Bierkonsums der Deutschen seit 1991 um etwa ein Drittel. Die vereinzelten Positiv-Meldungen in deutschen Medien erzeugen beim Publikum ein kurzes, wohliges Gefühl: Ist ja doch nicht alles schlecht. Verglichen mit dem Dauerbombardement an Meldungen über Katastrophen, Kriege, Leid und Elend haben sie jedoch keinen prägenden Einfluss auf das Bild, dass sich die Menschen von der Lage der Welt machen. Sie wirken wie eine kleine Insel in einem Ozean des Grauens. Ein Kuriosum. Die Ausnahme von der Regel. Doch exakt das Gegenteil ist richtig: Fortschritt ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Nahezu alle Parameter haben sich messbar gebessert. Die Lösung eines Problems, die Linderung eines Mangels, die Verbesserung von Lebenssituationen sind nicht lediglich kleine Lichtlein in einer düsteren Zeit. Sie sind das prägende Merkmal einer leuchtend hellen Epoche.
Die vielen fundamentalen Besserungen in den unterschiedlichen Bereichen geschehen nicht zufällig alle zur selben Zeit. Sie verlaufen nicht parallel zueinander, sondern beeinflussen und verstärken einander gegenseitig. Bessere Bildung hat einen positiven Effekt auf den Wohlstand. Beides bewirkt einen Rückgang an Gewalt, was wiederum das Wirtschaftswachstum befördert. Auch die steigende Qualität der medizinischen Versorgung beeinflusst die Wirtschaft positiv. Die zusätzlichen Mittel ermöglichen mehr Investitionen in den Sozialstaat, deren Folge weniger Kriminalität ist. Und mehr Investitionen in wissenschaftliche Forschung, mit deren Ergebnissen weitere Probleme gelöst werden können. Man kann das Spiel beinahe endlos fortsetzen.
Der entgegengesetzte Verlauf ist uns allen bekannt: Mehrere negative Entwicklungen können eine Abwärtsspirale auslösen. In den zurückliegenden Jahrzehnten ist es der Menschheit gelungen, eine Bewegung in die andere Richtung zu bewirken. Die Welt befindet sich in einer Aufwärtsspirale.
Probleme gelöst, den Menschen geht’s gold, läuft bei uns.
Ganz so einfach ist es nicht. Die Tatsache, dass die Kurven nach oben gedreht werden konnten, ist kein Grund zur Entwarnung. Krieg und Terror, Armut und die unerträglich ungerechte Verteilung des Reichtums bleiben ungelöste Aufgaben. Relativ neu hinzugekommen sind auf der unendlich langen To-do-Liste der Menschheit das Insektensterben oder Inseln aus Plastikmüll in den Ozeanen. Der Klimawandel beschleunigt sich und bleibt eine existenzielle Bedrohung der gesamten Menschheit, für die sie inzwischen bestenfalls ein Bewusstsein entwickelt hat. Ob die notwendigen Maßnahmen rechtzeitig umgesetzt werden, erscheint weiterhin fraglich. Deutschland konnte seine CO₂-Emissionen seit 1990 zwar um mehr als ein Viertel senken, doch selbst das einstige ökologische Vorzeigeland wird sein angestrebtes Ziel, eine Reduzierung um 40 Prozent bis 2020, nicht erreichen. 6 Erfolge beim Umgang mit Problemen in der Vergangenheit dürfen nicht bedeuten, die Herausforderungen der Zukunft zu ignorieren oder ihre Bedeutung kleinzureden. Um die kommenden Schwierigkeiten bewältigen zu können, reicht Konzentration auf die kommenden Probleme allein nicht aus. Notwendig ist eine vollständige Analyse des bisherigen Verlaufs. Und zu einem kompletten Bild gehört die Beachtung der bisherigen, großen Erfolge zwingend dazu.
Der weltweite Hunger ist ein Thema, bei dem ein Blick in die Vergangenheit zur Beurteilung der Lage dazugehört. Die aktuelle Situation: Noch immer müssen mehr als 800 Millionen Menschen hungern. Wegen der Kriege im Jemen und im Süd-Sudan ist ihre Zahl im vergangenen Jahr sogar wieder gewachsen, nach Jahrzehnten des stetigen und deutlichen Rückgangs. Amartya Sen, der aus Indien stammende Harvard-Professor für...