1. Frühe Traumatisierungen und das »Aufstellen des Anliegens«
Franz Ruppert
Den Lebensmotor in Gang setzen
Manfred1 kommt zu seiner dritten Aufstellung2. In den vorangegangenen beiden Aufstellungen hatte er sich mit einer Herzsymptomatik auseinandergesetzt, die ihn schon lange quält und ängstigt. Er hat mitunter hohe Blutdruckspitzen und Herzrasen. Er ist vierzig Jahre alt und das einzige Kind seiner Eltern. Seinen Vater hat er erst vor zwei Jahren kennengelernt, da sich seinen Eltern trennten, als seine Mutter mit ihm schwanger war. Er wuchs in der Familie seiner Mutter auf, die seinen Vater als »unpassend für ihre Tochter« abgelehnt hatte. Bei seiner ersten Aufstellung wählte er in einer größeren Gruppe eine Frau als Stellvertreterin für sein Anliegen. Auf diese Weise wurde seine symbiotische Verstrickung mit seiner Mutter deutlich sichtbar. Er konnte innerlich noch nicht deutlich zwischen sich und ihr unterscheiden. Auch bei seiner zweiten Aufstellung wählte er erneut eine Frau als Stellvertreterin für sein Anliegen. Diesmal wurde für ihn klar erkennbar, wie wenig seine Mutter für ihn da gewesen und auch nicht bereit war, Mutter für ihn zu sein. Bei seinem dritten Termin ist außer mir noch eine Hospitantin anwesend. Sein Anliegen ist es herauszufinden, warum er so oft kalte Hände und Füße hat und was er daran ändern könnte. Bei einem vor Kurzem durchgeführten Belastungs-EKG auf dem Fahrradergometer stellte sich heraus, dass seine Hände paradoxerweise umso kälter wurden, je mehr er sich anstrengte. Seine Vermutung dazu ist, dass dies mit einer Ohnmachtsituation zu tun haben könnte. Auf meine Frage, an welche Situation er dabei denke, fällt ihm seine Geburt ein. Diese war schwierig und dauerte sehr lange. Die Nabelschnur war um seinen Hals gewickelt, und er wurde per Not-Kaiserschnitt entbunden. Sein Gesicht war bei der Geburt bereits bläulich, und er wurde sofort in eine Kinderklinik gebracht. Dort verbrachte er mehrere Tage allein ohne seine Mutter.
Dieses Mal wählt er für seine Aufstellung bewusst mich als Mann für sein Anliegen, die Ursachen für seine kalten Hände und Füße zu ergründen. Mein erster Eindruck als dieses Anliegen ist, dass ich einen klaren Kopf habe und alles um mich herum gut wahrnehmen kann. Ich komme mir ganz schlau vor, als hätte ich den vollen Durchblick oder zumindest den Überblick. Den Rest meines Körpers fühle ich nicht. Ich bin wie hingestellt. Die Füße stehen eng beieinander, und die Hände hängen bewegungslos herunter. Nach einer Weile merke ich, dass ich mich gar nicht bewegen kann, auch wenn ich es möchte. Die Befehle vom Kopf dringen nicht bis zum Körper durch, die Bewegungsimpulse von oben kommen unten nicht an. Ich teile Manfred dieses mit, und er bestätigt, dass er oft eine Blockade im Hals-Nacken-Schulter-Bereich fühle. Ja, so fühlt es sich für mich auch an: als ob es hier einen großen, dicken Block gäbe, der den Kopf vom Rest des Körpers isoliert.
Ich muss jetzt immer mehr an die Geburtssituation denken, die Manfred zuvor geschildert hat. Ich fühle mich zwar hellwach, aber wie abgelegt. Man hat mich einfach nach der Geburt hingelegt, und nun liege ich da und warte und kann nichts machen. Als ich Manfred meine Empfindungen mitteile, bestätigt er das und möchte jetzt gerne seinen Vater in die Aufstellung dazunehmen. Er habe nämlich erst vor ein paar Tagen eine Bergwanderung mit ihm gemacht und dabei sei es ihm sehr gut gegangen. Auch seine Hände und Füße seien dabei warm gewesen.
Mir als Vertreter seines Anliegens leuchtet dieser Vorschlag wenig ein. Offenbar hat der Kontakt mit »unserem Vater« das Problem ja nicht dauerhaft gelöst. Damit sind wir immer auf Hilfe von außen angewiesen, auf jemanden, der für uns da ist. Die Lösung für unser Problem müssen wir wohl eher von innen her finden. Manfred lässt sich davon überzeugen. Er fragt mich nun, was ich denn bräuchte, damit es mir besser gehen könnte. Diese Frage von ihm kommt langsam bei mir an. Ich bin gerührt, dass sich jemand tatsächlich dafür interessiert, wie es mir geht und was ich bräuchte, damit es mir besser gehen könnte. Von unten im Körper steigt nun immer mehr eine Lawine von Traurigkeit in mir hoch, die schließlich in einem heftigen Tränenausbruch mündet. Manfred, der bisher in einem Abstand von einem halben Meter vor mir stand, kommt nun auf mich zu, und ich kann meinen Kopf auf seine Schulter legen. Es schüttelt mich heftig, und unterdrückte Traurigkeit bricht sich nun in mir Bahn. Ich höre mit meinem rechten Ohr an Manfreds Brustkorb sein Herz wild und heftig schlagen. Er umarmt mich, legt seinen Kopf auf meine Schultern und fängt nun auch an zu weinen.
Nach einer Weile bemerke ich, wie sich meine Beine bewegen wollen. Ich ziehe zuerst das eine Bein hoch und dann das andere. Aus der Perspektive des kleinen Babys erlebe ich das wie ein Strampeln. Manfred macht diese Bewegung in den Beinen spontan mit. Nach einer Weile fühle ich mich erschöpft vom Strampeln, und ich möchte mich von dieser Anstrengung ausruhen und eine Weile schlafen. Dabei geht mir durch den Kopf, dass ich auf diesen Babybeinen ja noch gar nicht selbst stehen kann. Dieser Gedanke aktiviert meine Arme, und ich hebe sie hoch, um mich in Manfreds Pullover festzukrallen. Nun fühle ich mich sicherer. Ich kann mich selbst festhalten.
Ich merke nach einer Weile, wie ich innerlich aufgeregt werde. Es ist aber keine Übererregung, wie Manfred zunächst meint, sondern eine gute Art der Aufregung. Ich bin aufgeregt darüber, dass um mich herum etwas passiert und dass ich gefordert bin, meinerseits darauf zu reagieren. Es ist so etwas wie Vorfreude, Bereitsein und Lebenslust zugleich. Ich bin bereit zu leben!
Der Kontakt mit Manfred fühlt sich angenehm warm an. Ich habe den Eindruck, immer mehr eins mit ihm zu sein und in ihn hineinzusinken. Ich kann mir gut vorstellen, von dort aus, in seinem Inneren jetzt wie ein Lebensmotor zu funktionieren.
Wir beenden diese Aufstellung. Manfred ist sichtlich bewegt und energetisch aufgeladen. Auch ich habe gerade eine sehr tief greifende Erfahrung gemacht, wie es sich für ein neugeborenes Baby vermutlich anfühlt, wenn es eine komplizierte Geburtssituation erlebt, sich dabei aufspaltet und ein Anteil in eine passive Beobachterhaltung gerät. Es war faszinierend zu erleben, wie der Lebensmotor in einem solchen Kind wieder anspringen und die Gefühle ins Fließen kommen können. Nach dem Zulassen von Schmerz und Trauer hat sich Lebensfreude ausgebreitet.
Einige Woche später teilte mir Manfred mit, dass er nun keine Probleme mehr mit kalten Händen und Füßen hätte und er diese Woche erfahren habe, dass er bald Vater werde.
1.1 Mehrgenerationale Psychotraumatologie
Kalte Füße und Hände – eine Traumafolgestörung? In Manfreds Fall offenkundig ja. Trotz vieler Maßnahmen, die er dagegen unternommen hat (dicke Socken, warme Schuhe, heiße Bäder, wärmende Salben), stellte sich keine dauerhafte Besserung ein, und körperliche Anstrengungen, welche normalerweise die Blutzirkulation anregen, bewirkten sogar das Gegenteil. Die körperlichen wie psychischen Symptome, unter denen wir Menschen leiden, sind mannigfaltig wie alltäglich. Wir haben Ängste, die nicht verschwinden, leiden an Schlaflosigkeit und Albträumen, wir fühlen uns energielos und sehen wenig Hoffnung für die Zukunft, wir stecken in konflikthaften Beziehungen fest oder fühlen uns innerlich leer, einsam oder verwirrt. Hinzu kommen oft körperliche Krankheiten, die sich trotz Medikamenten, Massagen oder Operationen nicht verbessern. Manche dieser Krankheiten, wie Krebs und Autoimmunerkrankungen, werden sogar zunehmend lebensbedrohlich.
Ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, dass ein rein naturwissenschaftliches, scheinbar »objektives« Theoriekonstrukt wie »Krankheit« der Subjektivität unseres menschlichen Daseins nicht gerecht wird. Denn oft ist das, was sich als vermeintliche »Krankheit« in unserem Körper manifestiert, die Folge zwischenmenschlicher Beziehungserfahrungen, die uns nicht guttun und in denen wir uns hilflos, ohnmächtig und gefangen erleben. Nach meiner Erfahrung sind die meisten Symptome, derentwegen Klienten3 meine Hilfe suchen, Traumafolgestörungen, selbst wenn manches Symptom zunächst einmal ganz undramatisch erscheint. Die Frage ist dann, welches Trauma wird hier in einem körperlichen oder psychischen Symptom widergespiegelt? Das herauszufinden, scheint mir die größte Herausforderung für eine effektive Psychotherapie. Wie gelangt man an den Punkt des ursprünglichen Traumas, welches das jeweilige Symptom verursacht und weiterhin bewirkt? Wenn man verstanden hat, dass Menschen nicht nur von einem Lebensereignis traumatisiert sein können, stellt sich eine weitere Frage: Wie können die unterschiedlichen Traumata, die sich bei vielen Ratsuchenden gegenseitig überlagern und aus unterschiedlichen Phasen ihres Lebens stammen, sinnvoll voneinander getrennt und je für sich gezielt therapeutisch angegangen werden?
Die Lehre von den Traumata, die »Psychotraumatologie«, ist eine wissenschaftliche Disziplin, die in den letzten Jahren einen enormen Wissenszuwachs erfahren hat (u. a. Fischer und Riedesser 1998, Levine 2010, Seidler, Freyberger und Maercker 2011, Huber 2013, Heller und Lapierre 2013, Rauwald 2013). Das Spezifitätskriterium für ein »Trauma« ist meines Erachtens die Tatsache, dass die menschliche Psyche traumatische Lebenserfahrungen nicht verarbeiten und in die Lebensbiografie integrieren kann, sondern sich aufspalten muss, um das Erinnern der traumatischen Erfahrung aus dem Bewusstsein...