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Für ein Lied und hundert Lieder

Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen

AutorLiao Yiwu
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783104009858
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein großes literarisches Zeugnis über das Menschsein in widrigsten Umständen Bis zum Vorabend des 4. Juni 1989 führt Liao Yiwu das Leben eines so unbekannten wie unpolitischen Hippie-Poeten. Doch mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ist schlagartig alles anders. Nachdem Liao ein kritisches Gedicht verfasst hat, wird er zu vier Jahren Haft im Gefängnis und in einem Arbeitslager verurteilt. In seinem großen Buch schildert Liao auf literarisch höchst eindringliche Weise die brutale Realität seiner Inhaftierung. Dabei ist er schonungslos, auch sich selbst gegenüber: Er beschreibt, wie er und seine Mithäftlinge zu Halbmenschen degradiert werden und dabei manchmal selbst vergessen, was es bedeutet, Mensch und Mitmensch zu sein. Liao Yiwu zeigt sich in diesem eindrucksvollen Buch abermals als einer der ganz großen Autoren Chinas, als einer der sprach- und bildmächtigsten Schriftsteller unserer Zeit. »Wer dieses Buch gelesen hat, versteht, was Verfolgung und umzingelte Einsamkeit anrichten. Das Buch ist Poesie und Zeitgeschichte zugleich.« Herta Müller

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

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Leseprobe

Einleitung


Im März 1990 hat das Amt für Öffentliche Sicherheit des chinesischen Staates in Chongqing einen außerordentlich großen Fall von Konterrevolution aufgedeckt; überführt wurden ausnahmslos nichtstaatliche Avantgarde-Dichter und Künstler von einem gewissen Einfluss. Es handelte sich dabei um Liao Yiwu, Wan Xia, Liu Taiheng, Li Yawei, Ba Tie, Gou Mingjun und den Videokünster Zeng Lei. In über zehn Städten wie u.a. Chongqing, Chengdu, Fuling, Leshan, Nanchuan, Beijing, Shenzhen und Shanghai wurden Kulturschaffende vorgeladen, vor Gericht gestellt, in Prozesse verwickelt, inhaftiert – darunter die Romanautoren Zhou Zhongling und Wu Bin, die Dichter Shi Guanghua, Liu Xia, Liu Yuan, Zou Jin, Wei Haitian, Zhu Ying, Bai Yunfeng, Song Wei, Li Mai, Liang Yue, Kuang Hongpo, Sun Jiangyue, Zhong Shan, Li Zhen, Kai Yu, Yu Tian; die Ehefrauen überführter Delinquenten wie A Xia, Wei Jixue, Chen Youmin, Liu Xiaoya, Dong Nan, Xiao Xiao; Studenten wie Fan Dongmei und Zhao Panhong und schließlich Xiao Xujia, ein wichtiger Verantwortungsträger in der Einheit, in der Liao Yiwu vor seiner Verhaftung war. Die Polizeibehörden verlautbarten: »Das ist seit dem 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen der größte Fall unter Kulturschaffenden!«

Am 31. Januar 1994 wurde Liao Yiwu auf internationalen Druck 43 Tage vor Ablauf seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen. Er hat sich anschließend scheiden lassen und Schulden gemacht, um sein Kind zu versorgen. Dieser »literarische Brandstifter« hat eine Zeitlang sein Unwesen getrieben, aber keine Spuren in der Geschichte hinterlassen, im Gegenteil, er versank, zur Schande der Menschheit versank er in einem Haufen Hundescheiße – von seinen Kollegen ausgelacht, getreten und verachtet, verkroch er sich in die hintersten Winkel und wurde am Ende vergessen. Außer seiner Familie hat sich noch am meisten die Polizei um ihn gekümmert: Wohin er auch kam, eine unsichtbare Wand folgte ihm auf dem Fuß.

Sein Aufenthaltsort für die nächste Zeit wurde ein kleiner Bezirk namens Baiguolin, vor ein paar Jahren noch ein ödes Vorstadtgebiet, wo über Nacht die Läden und Geschäfte explosionsartig aus dem Boden geschossen waren. Seine Eltern kümmerten sich um die Ernährung, und er hatte jede Menge Zeit, im Hof zu sitzen und in den Himmel zu schauen: »Das ist alles so lange her«, dachte er, »der Ritter schaut zu, wie die Schneide seiner Seele langsam verrostet, was ihm noch an Leben bleibt, verbringt er im Kampf mit dem Rost.«

Wenn es dunkel war, drückte er sich draußen an den Mauern entlang, sie waren robuster als ein Gefängnis. Wenn er an einem Betonzaun vorbeikam, zog er den Kopf ein und schaute sich um, nach einem, der reich war, den er ausnehmen konnte, um es, weit weg, seiner armen Frau und seinem armen Kind zukommen zu lassen – und es waren allein die althergebrachten Moralvorstellungen, die man ihm vor vielen Jahren beigebracht hatte, die ihn davon abhielten.

 

Im Gefängnis lernte er Flöte spielen. Wenn er deprimiert war, spielte er wütend und böse auf diesem metaphysischen, fast schon heiligen Instrument. Das Leben war hart, fast wie die Schneide eines Messers, er hatte nur die Wahl, sich an den Markt anzupassen, weiterzuschreiben oder sich umzubringen.

Er wählte das Schreiben. In der Falle, in der sie saßen, hatte sich eine Reihe von Literaten im Land für das Schreiben entschieden, für ein Schreiben ohne Hoffnung; niemand reichte ihnen eine rettende Hand, zollte ihnen Verständnis oder Anerkennung, niemand trug sie auf Händen, so sah die äußere Realität ihrer inneren Wirklichkeit aus. Sie mussten nüchterner werden, entspannter, offener, sie durften sich nicht zu viele Sorgen machen um die alten düsteren Gesichter, um ihre betagten Eltern, sie mussten weiter die Krallen und Zähne ihrer Erinnerung schärfen, sie durften nicht zu früh Rost ansetzen.

Der Autor des »Archipel Gulag« sagte: »Vergessen heißt, beide Augen verlieren!«

 

An einem der kältesten Abende im Winter 1994 besuchte Liao Yiwu den schon von Mao Zedong namentlich kritisierten Dichter und Rechtsabweichler Liu Shahe.[1]

Der alte Vagabund saß in ein altes Sofa gekauert, sein Gesicht war blass, aber seine Lippen waren frisch, im fahlen Licht der Lampe sah er aus wie ein abgeschminktes Theatergespenst: »Ich bin ein weltflüchtiger Geist«, lachte er, »ich bin mit dem Leben im Reinen, und mit mir selbst auch.«

Seine Stimme war noch ganz hell, er redete noch immer wie ein Buch, während fast dreier Stunden kam Liao Yiwu nur dreimal zu Wort, und das waren Antworten auf seine Fragen. Er fragte, was er in letzter Zeit gemacht habe, Liao antworte: »Geschrieben, zu Hause.«

»Auch noch Gedichte?« Seine Augen blitzten. Liao schüttelte den Kopf. Er nickte und sagte im Brustton der Überzeugung: »Ich weiß, ich weiß! Du wirst auch keine Gedichte von solcher Vorstellungskraft mehr schreiben können! Wer so vom Schicksal geschlagen ist wie du und ich, der hat Verletzungen davongetragen, die nicht mehr heilen – also, gib den Dichter auf und werde ein Zeuge der Geschichte. Was du sagst, ist dummes Zeug, aber der Himmel hat dir ein ungewöhnliches Talent gegeben, das Schreiben, und er weiß, dass du keine Lügen verbreiten wirst. Er hat dich durch das Fegefeuer geschickt, du solltest die fürchterlichsten Qualen mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leib erleben. So viele fallen ihnen in die Hände, aber nur dir wurde die Chance gegeben, da herauszukommen, dich bei klarem Verstand zu erinnern und alles aufzuschreiben. Manchmal ist es auch ein Segen, wenn man durch die Verzweiflung hindurchgeht! Du musst ehrlich sein, wenn du schreibst, und wenn dann der Tag kommt, kann deine Arbeit Zeugnis ablegen oder als Material dienen, sie wird in den Archiven sein, Menschen werden sie ausleihen und lesen, sie können ihnen als Beweis dienen, das ist nicht schlecht. Und wer falsches Zeugnis ablegt, den wird der Zorn des Himmels treffen!«

Liao glühte am ganzen Körper. Um die Schwäche, die ihm in den Knochen steckte, zu kaschieren, fragte er: »Warum schreiben Sie es nicht?«

»Zu alt!«, seufzte der alte Vagabund, »Löcher in den Eingeweiden, die Augen wollen nicht mehr; bevor ich klar gesehen habe, habe ich viel geschrieben, aber seit ich durchblicke, kriege ich mich zu nichts mehr.«

Liao stand auf und verabschiedete sich, wobei ihm ein Kürbis auffiel, der als Raumschmuck ganz nah bei dem grauen Kopf hing, auf ihm stand »Kürbisbube« (ein Ausdruck für einen Verrückten im Dialekt von Sichuan).

Er stieg die Treppe hinunter, es war spät geworden und still. Ein gespenstischer Wagen, der heulende Wind, die vorbeihuschenden Larven der wenigen Passanten. Im Himmel über der Großstadt standen die Sterne wie Lichtzungen, sie drehten, dehnten sich, schrumpften und leckten schmerzhaft über seine Wangen. In diesem Augenblick schien er tatsächlich Gott zu sehen, Gott, auf seinem höchsten Richterstuhl, sein Leben war zu Ende, und seine Seele trat aus ihrer Höhle heraus – war er wirklich bereit, noch einmal die Maske eines Avantgarde-Dichters aufzusetzen, um vor Gericht als Zeuge aufzutreten?

Das waren jetzt bereits drei Jahre, erinnerte er sich, er hatte das vorliegende Buch gerade konzipiert und konnte noch nicht Flöte spielen, später hatte er die fixe Idee, er sei von einem 84 Jahre alten Mönch namens Sima, einem Mitgefangenen, im Flötenspiel und in der daoistischen Bauchatmung unterwiesen worden, jedenfalls brachte er es auf dem Instrument allmählich zu einer gewissen Meisterschaft und pustete seine schriftstellerischen Ambitionen zu einem Gutteil aus sich heraus.

Übrig blieb die Kühnheit, Zeugnis abzulegen.

 

Früher galten Liao Yiwu und A Xia in ihrem Umfeld als regelrechtes Traumpaar, ein paar Monate vor Liaos Entlassung jedoch bestand ihre Beziehung nur noch dem Namen nach. Ihn quälte das Gewissen, dass sie seinetwegen, schwanger, wie sie war, über einen Monat im Gefängnis gewesen war, den ganzen Tag schwamm sie in Tränen und musste sich doch zwingen, gute Miene zu machen, um die dauernden grausamen Verhöre durchzustehen. Als sicher war, dass man sie entlassen würde, umklammerte sie mit beiden Händen ihr Bündel, tastete sich durch die tiefen Schatten des sonnigen Tages. Sie hatte Mühe, die Treppe am Ende der Gasse hinunterzukommen, da stieß sie jemand in den Rücken, entriss ihr das Bündel und rannte davon. Sie taumelte und fiel in den Staub, ihr Mund stand weit offen, aber sie konnte keinen Laut von sich geben. Die Umstehenden genossen schweigend das Schauspiel und gingen nur zögernd weiter.

»Ich habe gute fünf Minuten gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen«, sagte sie, »ich hatte Angst, das Kind in meinem Bauch hätte was abbekommen.«

Dann kamen Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmen wegen Diebstählen, es kam die Geburt, eine Infektion, eine unbeschreiblich schwere Zeit, von der er erst im Nachhinein erfuhr, als er gewahr wurde, dass aus ihr eine Frau geworden war, die, wenn es nottat, den Mut hatte, bis zum Letzten zu kämpfen. Die Szene ihrer Scheidung war sehr bewegend, sie ließ ihn mit einer einmaligen Zahlung für die nächsten zehn Jahre den Unterhalt für ihre gemeinsame Tochter Miaomiao abgelten, ab sofort sollte jeder Kontakt aufhören; er sagte, ich kann mich nicht scheiden lassen. Sie nannte ihn ein Tier, er sagte, ich bin ein Tier, um genau zu sein, ich bin ein Hund.

Und dieser Hund war gezwungen, die Haut eines Menschen zu tragen.

Als er den Schwanz einzog und sich trollte, stand seine Tochter hinter einer Balkontür und spuckte ihm nach.

»Es hat mir nicht gefallen, dass ein Kind von vier Jahren so voller Verachtung ist«, seufzte er. Und dachte...

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