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E-Book

Für immer traumatisiert?

Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit

AutorBeate Kriechel
VerlagMabuse-Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783863214876
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Für Betroffene von sexuellem Missbrauch scheint die Festlegung auf die Rolle der 'ewig Traumatisierten', des 'lebenslangen Opfers' unvermeidlich. Viele von ihnen können sich jedoch nicht mit dieser Rolle identifizieren - infolge des Missbrauchs entwickeln sie wichtige Überlebensstrategien und eine beeindruckende Stärke. Von dieser zeugen die Geschichten von acht Betroffenen, die Beate Kriechel interviewt hat. Sie machen deutlich, mit welchen Gefühlen sie sich auseinandersetzen mussten und teilweise noch immer müssen, und was ihnen dabei hilft, ein aus ihrer Sicht gelungenes Leben zu führen. Dieses Buch will zu einem neuen Verständnis anregen, anderen Betroffenen Mut machen und vielleicht Erleichterung, Erkenntnisse oder ein Wiedererkennen ermöglichen.

Beate Kriechel, geb. 1971, lebt und arbeitet als freie Autorin und Redakteurin in Köln.

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Leseprobe

Warum dieses Buch?


Das erste Mal habe ich einer Freundin von meinem Missbrauch mit etwa sieben, acht Jahren erzählt, als ich 16 war. Ich erinnere mich vage, warum ich ausgerechnet an dem Abend mit ihr darüber sprach. Da wir in dem gleichen Stadtteil aufwuchsen, kannten wir uns vom Sehen seit der Grundschulzeit, eng befreundet waren wir aber erst, seit ich nach einem Schulwechsel aufs Gymnasium zu ihr in die 6. Klasse kam. Ich übernachtete oft bei ihr und vorm Einschlafen haben wir natürlich auch stundenlang über alles Mögliche gequasselt. Ich glaube, an dem Abend ging es mal wieder um Jungs. Meine Freundin war sehr gefragt und hatte einen lockeren, natürlichen Umgang mit ihnen. Ich war nach außen eher cool und wirkte allenfalls uninteressiert oder abweisend. Indirekt und unbewusst gab ich mir Mühe, unsichtbar zu sein. Jeder Umgang mit Jungs bereitete mir großen inneren Stress, ich fühlte mich gehemmt und unfähig. War ich mit einem Jungen oder einem Mann allein in einem Raum, geriet ich regelrecht in Panik und hatte sofort Fluchttendenzen. Das traute ich mich aber nicht offen zu zeigen, blieb äußerlich ruhig und suchte nach irgendwelchen Ausflüchten, um der Situation zu entkommen. Ich glaube, es war mir an dem Abend wichtig, ihr zu erklären, warum ich bei ihr nicht mithalten konnte, gar nicht gerne auf Partys ging und „das alles“ einfach nichts für mich war. Zu dem Zeitpunkt war mir der erlebte Missbrauch schon präsent, ich hatte immer Erinnerungen daran. Ich dachte da zwar noch, dass es bei mir alles nicht so schlimm gewesen sei und dass er nicht wirklich Folgen für mich hatte, aber ich ahnte schon, dass es wenigstens einen Zusammenhang mit meiner „Schüchternheit“ und meiner großen inneren Not Jungs gegenüber geben musste.

Woran ich mich noch ganz genau erinnere, war meine Reaktion am nächsten Tag. Natürlich hatte ich meiner Freundin schon am Abend gesagt, dass sie es niemandem weitererzählen dürfe. In der Schule dann, im Unterricht, kritzelte ich schnell ein paar Sätze auf einen Zettel und schob ihn ihr heimlich hin: „Wegen gestern – ich möchte nicht, dass du jetzt Mitleid mit mir hast. Ich möchte, dass du mich genauso behandelst wie immer.“ Meine Angst, dass ich in ihren Augen jetzt nicht mehr „die alte Beate“, dass ich jetzt jemand sei, der bemitleidenswert und vor allem nicht mehr ernst zu nehmen sei, weil mir DAS passiert war, war groß.

Seit etwa Mitte der 1980er-Jahre gab es die ersten Berichte über sexuellen Kindesmissbrauch, die ich still, aber sehr aufmerksam verfolgte. Diese Berichte und auch die Bücher, die ich in den nächsten Jahren zum Thema las, waren nicht sehr ermutigend. Alle liefen für mich darauf hinaus, dass man als Betroffene von sexuellem Missbrauch für immer „kaputt“ ist und niemals ein normales Leben führen kann. Und dass man am besten darüber schweigt, wenn man nicht als „Opfer“ stigmatisiert werden möchte. Ich sehe heute, dass es damals natürlich seine Berechtigung hatte und bis heute hat, dass auf die schlimmen und leider allzu oft tatsächlich zerstörerischen Folgen von sexuellem Missbrauch, sexueller Gewalt aufmerksam gemacht wird. Es ist wichtig, dass Betroffene ihr Schweigen brechen (können), von ihren eigenen Geschichten berichten und wir sehen, dass Missbrauch nicht einfach so geschieht.

Missbrauch kommt in großem Umfang vor, überall und jederzeit, in allen gesellschaftlichen Schichten. Er steht immer in einem gesellschaftlichen Kontext und es gibt TäterInnen, die handeln. Meist ist es nicht „der böse Fremde“, der missbraucht. Meist ist es ein naher Verwandter, eine nahe Verwandte oder ein Mensch aus dem nahen familiären Umfeld. Und, wie wir heute wissen, Missbrauch geschieht auch sehr häufig in Sportvereinen, Heimen, Internaten, kirchlichen Kreisen … Also überall da, wo Kinder und Erwachsene in einem „vertraulicheren“ Umgang miteinander zusammenkommen, wo Abhängigkeitsverhältnisse und Machtgefälle bestehen, aber auch bei SchülerInnen und Geschwistern untereinander. Da gibt es nichts abzuwägen oder zu relativieren. Missbrauch in der Kindheit ist ein überwältigendes, traumatisches Erlebnis und strafrechtlich eine kriminelle Handlung. Betroffene kämpfen oft lange darum, dass überhaupt gesehen wird, dass sie Opfer einer Straftat sind. Um Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts zu erfahren und Unterstützung zu erhalten, müssen sie zudem meist beweisen, dass es ihnen tatsächlich schlecht geht. Und in dem Moment, wo sie sich öffnen und „zugeben“, dass sie ein Opfer sind oder waren, laufen sie Gefahr, dies für immer bleiben zu müssen. Selten wird dieses „Sich-Öffnen“ als wichtiger Schritt zur möglichen Bewältigung des Missbrauchs gesehen. Viel häufiger erfolgt eine Pathologisierung ihrer ganzen Person und ihres ganzen weiteren Lebens. Die Gesellschaft, und leider allzu oft auch die Betroffenen selbst, glauben, dass man ausschließlich Opfer ist, wenn man sexuelle Gewalt erlebt hat. Die Festlegung auf die Rolle der Schwachen, der Leidenden, der ewig Traumatisierten und des lebenslangen Opfers scheint für sie unvermeidlich. Viele Betroffene können und wollen sich mit dieser allgemeinen, öffentlichen Meinung nicht identifizieren. Im Gegenteil – viele entwickeln im Laufe der Zeit ein besonderes Maß an Stärke und wichtigen Überlebensstrategien und schaffen es, jenseits des Opferstigmas ein aus ihrer Sicht gelungenes Leben zu führen.

Auch ich wollte mich von Anfang an nicht auf die Rolle des Opfers festlegen lassen und ausschließlich über den Missbrauch definiert werden. Ich war zwar in den Situationen des Missbrauchs ein Opfer von sexuellem Missbrauch, aber ich war (und bin) nicht der Missbrauch. Ich wusste, dass es neben der Traurigkeit, der Einsamkeit, dem Gefühl von „Nicht-richtig-Sein“ und dem ganzen Chaos in mir noch viel mehr Seiten an mir gab. Ich ging zur Schule, war im Schwimmverein, hatte Freundinnen, lachte gerne, zog stundenlang durch die Gegend und sammelte Nüsse und Pflanzen im nahegelegenen Wald. Und was in meiner Auseinandersetzung mit dem Missbrauch schnell genauso wichtig für mich war – ich wollte nicht nachgeben. Ich wollte nicht, dass „sie“, der damalige Freund meiner Mutter und sein damals etwa 17-jähriger Sohn, „gewinnen“. Ich wollte ihnen nicht erlauben, dass sie „für immer“ Macht über mich hatten, so wie sie sie hatten, als ich noch ein Kind war. Sie hatten sich anscheinend keinerlei Gedanken darüber gemacht, was sie mir da antaten und wie ich nun als junge Frau damit zurechtkam. Das machte mich fassungslos und lähmte mich oft, aber ich war auch sehr wütend. Ich wollte nicht, dass sie durch ihre Taten bestimmten, wie ich mein Leben lebe. Ich wollte selbst bestimmen, wer und was ich war und genauso frei und unbeschwert sein können wie andere Mädchen und Frauen um mich herum.

Jahrzehnte später weiß ich, dass der Missbrauch auch für mich weitreichende Folgen hatte, auch wenn ich ihn nicht isoliert von den anderen Lebensumständen in meiner Kindheit betrachten kann. Ich habe viele Gespräche mit betroffenen und nicht betroffenen Freundinnen gebraucht, alle möglichen Bücher nicht nur explizit zum Thema Missbrauch gelesen, eine Zeitlang eine Selbsthilfegruppe besucht und bin lange Jahre in Therapien gewesen, um den Missbrauch in meiner Kindheit aufzuarbeiten – wenn man ihn denn jemals ganz aufarbeiten kann. Und dass das, was ich mit 13 Jahren mit einem Mann aus dem Bekanntenkreis meiner Mutter erlebt habe, oder besser, aufgedrängt bekam, ebenfalls Missbrauch war, habe ich erst vor wenigen Jahren, in der letzten, bis heute andauernden Psychotherapie, verstanden. Vorher habe ich lange ein Mäntelchen der Erstarrung darüber gelegt, es zu einem blinden Flecken gemacht, der trotzdem seine Wirkung fortsetzte, ob ich es sehen wollte oder nicht. Daneben gab es immer wieder lange Phasen der Nicht-aktiven-Auseinandersetzung. Ich habe gearbeitet, einen Sohn bekommen und als alleinerziehende Mutter großgezogen, in Beziehungen gelebt, Freundschaften geschlossen und wieder gelöst, bin gereist und habe Unmengen leckeren und manchmal nicht so leckeren Kaffee in Cafés genossen.

Ob eine Erfahrung wie Missbrauch verarbeitet werden kann, hängt von vielen Faktoren ab. Jede und jeder geht da ganz eigene Wege und entscheidet für sich, was es überhaupt bedeutet, dabei „erfolgreich“ zu sein. Für viele ist es schon ein Erfolg, überhaupt darüber reden zu können. Zu einer gelingenden Verarbeitung trägt ganz sicher bei, wie das Umfeld darauf reagiert. Ob den Betroffenen etwa geglaubt oder überhaupt zugehört wird oder, wie sie wahrgenommen und ihre Geschichten, so wie sie mit allen Fort- und Rückschritten, Umwegen, Phasen der Stagnation nun einmal sind und sein können, akzeptiert werden. Ganz wichtig ist es mir zu betonen – und einige InterviewpartnerInnen haben mich darin bestätigt –, dass das Buch keine Patentrezepte bietet und nicht vorgeben möchte, wie es zu gehen hat, „mit dem Missbrauch endlich klar zu kommen“. Es gibt keinen Zwang zum Gelingen! Und es bedeutet nicht,...

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