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Ganztagsschule als symbolische Konstruktion

Fallanalysen zu Legitimationsdiskursen in schultheoretischer Perspektive

VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl239 Seiten
ISBN9783531913544
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Ganztagsschulen entwerfen Kompensationsfiguren zur Legitimation bzw. als orientierungswirksames Sinnfundament. Diese bewegen sich zwischen der Begründungsfigur einer 'ganzheitlichen' Schule als einer Art 'Ersatzfamilie' einerseits und der Begründungsfigur als Ort eines notwendig zu optimierenden, nämlich ausgedehnten schulischen Lernens andererseits. Einige Schulen verschreiben sich hohen Zielen einer grundlegenden Strukturtransformation ihrer historisch entstandenen Lern- und Schulkultur. Die Legitimationsanforderungen werden also durch symbolische Sinnkonstrukte bearbeitet. Diese stellen eine der entscheidenden Rahmungen für die Entwicklung der Lern- und Unterrichtskultur an Schulen mit ganztägigem Angebot dar. Der Band dokumentiert erste empirische Forschungen der Erziehungswissenschaft zur Ganztagsschule.

Dr. Fritz-Ulrich Kolbe ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Dr. Sabine Reh ist Professorin für Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft an der TU Berlin.
Dr. Bettina Fritzsche ist Gastprofessorin für Allgemeine Historische Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaft der TU Berlin.
Dr. Till-Sebastian Idel ist Akademischer Rat am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Dr. Kerstin Rabenstein ist Wissenschaftliche Hochschulassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der TU Berlin.

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Leseprobe
"Fehlende gymnasiale Arbeitshaltung der Schüler – Legitimationsfiguren an Gymnasien (S. 135-136)

Kerstin Rabenstein, Fritz-Ulrich Kolbe, Julia Steinwand, Kerstin Hartwich

Das Gymnasium wandelte sich in den letzten Jahrzehnten von einer Eliteanstalt zu einer Schule mit dem mittlerweile „attraktivsten Programm einer intellektuell anspruchsvollen Grundbildung"" für einen breiten Anteil der Sekundarschüler (Baumert u.a. 2005: 487). Die Expansion des Gymnasiums ist zum einen auf die demographische Entwicklung und zum zweiten auf die verstärkte Nachfrage nach gymnasialer Bildung aus allen gesellschaftlichen Gruppen zurückzuführen.

Auch wenn sich auf diese Weise die Heterogenität der Schülerschaft am Gymnasium hinsichtlich des familiären Bildungshintergrunds erheblich vergrößert hat, darf die Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Gymnasialschüler dennoch nicht überschätzen werden, da nach wie vor die Mehrheit aus der breiten Mittelschicht der Bevölkerung stammt (vgl. Baumert u.a. 2005: 518).

Zu Ganztagsschulen bzw. Schulen mit Ganztagsangebot werden die Gymnasien zur Zeit im Vergleich mit anderen Schulformen eher selten: die Gymnasiasten nehmen im Schuljahr 2002/2003 mit 3,89% zusammen mit den Realschülern (3,98%) die geringsten Anteile der am Ganztag partizipierenden Gruppe ein, während die Schülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule mit 66,81% den größten Anteil der am Ganztag teilnehmenden Gruppe einnehmen, gefolgt von den Sonderschülern (30,49%) und den Hauptschülern (10,24%) (vgl. Fees 2005: 128).

Aktuell wird für manche Bundesländer zwar eine starke Erhöhung des Anteils der Ganztagsgymnasien berichtet (z. B. für Hamburg auf 93,6 % vgl. Quellenberg 2007: 18), dabei wird jedoch nicht reflektiert, inwiefern dies im Zusammenhang steht mit der Schulzeitverkürzung der Gymnasien auf acht Jahre, die das Angebot von Unterricht am Nachmittag erforderlich macht.

Zwei Gymnasien aus dem ländlichen Raum in Brandenburg bzw. Rheinland- Pfalz zählen zu den Schulen in unserem Forschungsprojekt. Im Folgenden fragen wir danach, wie die Schulleiter bzw. Entwicklungsgruppen in den Interviews zur Entwicklungsgeschichte ihrer Schule den Schritt zur Ganztagsschule legitimieren. Das Ganztagsangebot an beiden Gymnasien wird mit dem Fehlen eines spezifischen, auch als gymnasial gedachten Habitus der Schüler legitimiert.

Nicht die Kompensation von bislang der Familie zugeordneten primären Sozialisationsaufgaben wird demnach angestrebt. Für notwendig gehalten wird vielmehr im Fall der Spreeschule, mit dem Ganztagsangebot einen Rahmen für diszipliniertes Arbeiten an Hausaufgaben bereit zu stellen, der von den Familien eines Teils der Schülerschaft nicht mehr gewährleistet wird, bzw. im Fall der Napoleonschule für die nachzuholende Entwicklung bzw. Aneignung einer bestimmten Haltung und Arbeitseinstellung zu sorgen, die die Schüler als Voraussetzung gymnasialer Bildung mitbringen sollten, die aber bei großen Teilen der Schüler nicht mehr vorzufinden sei.

Unserer Darstellung im Folgenden legen wir die Interpretationen dreier Sequenzen aus Interviews mit den Schulleitern bzw. Entwicklungsgruppen der Schulen zugrunde, die wir objektiv hermeneutisch (vgl. dazu Wernet 2006) rekonstruiert haben. Wir stellen zunächst die symbolische Konstruktion des Ganztags an der Spreeschule, dann an der Napoleonschule dar, um im dritten Teil vergleichend Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Defizitkonstruktionen und Legitimationsfiguren herauszuarbeiten.

1 Spreeschule: Ganztag als Betreuung über den ganzen Tag

Die interpretierte Passage ist einem Interview zur Einführung des additiven Ganztagsangebotes mit dem Schulleiter der Spreeschule entnommen und enthält eine Kompensationskonstruktion. Innerhalb der Passage wurde ein kurzer Pas sus mit detaillierten Angaben zur Spreeschule, der für die Interpretation verzichtbar erschien, aus Gründen der Anonymisierung gestrichen."
Inhaltsverzeichnis
Danksagung6
Inhalt7
Ganztagsschule als symbolische Konstruktion – Analysen und Falldarstellungen aus schultheoretischer Perspektive. Zur Einleitung Fritz- Ulrich Kolbe, Sabine Reh, Till- Sebastian Idel, Bettina Fritzsche, Kerstin Rabenstein10
I. Ganztagsschule in bildungspolitischen Diskursen20
Mehr Ganztagsschulen als Konsequenz aus PISA? Bildungspolitische Diskurse und Entwicklungen in den Jahren 2000 bis 2003 Christian Kuhlmann, Klaus- Jürgen Tillmann21
Debatten über Schulzeit in europäischen Ländern Thomas Coelen44
II. Symbolische Konstruktionen und die Legitimation des Ganztags in Praktikerdiskursen. Fallanalysen aus dem Forschungsprojekt LUGS63
Länderspezifische Rahmenbedingungen und Zielsetzungen – Zu den untersuchten Schulen Anna Schütz, Doreen Weide64
Legitimation des Ganztags an Grundschulen – Familiarisierung und schulisches Lernen zwischen Unterricht und Freizeit Bettina Fritzsche, Sebastian Idel, Sabine Reh, Julia Labede, Stefanie Altmann, Anne Breuer, Sabrina Klais, Evelyn Lahr, Antonia Surmann78
Bessere Erziehung statt Leistungsanspruch? Legitimation der Transformation schulischer Aufgaben an ganztätigen Förderschulen Christopher Bechtold, Angelika Krause, Joachim Scholz, Anna Schütz102
Weiterführende Schulen im Profilierungszwang – Ganztagsangebote als Anreiz und Erfordernis für eine ‚ Restschülerschaft’ Ylva Brehler, Doreen Weide114
Fehlende gymnasiale Arbeitshaltung der Schüler – Legitimationsfiguren an Gymnasien Kerstin Rabenstein, Fritz- Ulrich Kolbe, Julia Steinwand, Kerstin Hartwich130
III. Symbolische Konstruktionen des Ganztages aus schultheoretischer Perspektive144
Grenzverschiebungen des Schulischen im Ganztag – Einleitung zur schultheoretischen Diskussion Fritz- Ulrich Kolbe, Sabine Reh, Till- Sebastian Idel Bettina Fritzsche, Kerstin Rabenstein145
Verwahrloste Familien – Familiarisierte Schulen Zum Verhältnis von Schule und Familie in den Diskursen der deutschen Schulgeschichte seit 1800 Joachim Scholz, Sabine Reh152
Freizeit – Zum Verhältnis von Schule, Leben und Lernen Till- Sebastian Idel, Sabine Reh, Bettina Fritzsche171
Zum Verhältnis von Schule und Schülern Fritz- Ulrich Kolbe, Kerstin Rabenstein186
Grenzverschiebungen. Schule und ihre Umwelt – Systembildung und Autonomisierung im Modernisierungsprozess Fritz- Ulrich Kolbe, Sabine Reh213
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren234

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