2. Voll auf Zucker
Über die Sucht nach dem Süßen
Wie der Zucker das Gehirn manipuliert / Ängstlichkeit und Zähneklappern: Laborratten auf Zuckerentzug / Warum Zucker stärker wirkt als Kokain / Süßes ohne Maß, sogar noch nachts am Computer / Ferrero ist das böse, böse Wort / Die freie Wahl ist eine Illusion / Die giftige Umgebung breitet sich aus / Jeden Tag Süßes: ein toller Körper, der das aushält
Oft zieht sie nachts noch mal los, hinaus in die Dunkelheit, um sich ihre Dosis Süßes zu holen. Sie macht das nicht freiwillig. Sie muss. Es ist wie ein Zwang, unter dem sie leidet. Oft ist sie am nächsten Morgen wie gerädert.
Davon will sie sich befreien, möglichst schnell, das ist der Grund, weshalb sie hier klingelt, an diesem Mittwoch, Punkt 13 Uhr. Sie ist natürlich ein bisschen aufgeregt, denn sie weiß ja nicht, was sie erwartet in diesem Bungalow am Waldrand.
Am Morgen hat es stark abgekühlt nach den überheißen Tagen zuletzt. Doch dann kommt die Sonne heraus, ein klarer blauer Himmel, leuchtend grün strahlen die Gärten. Es weht ein frischer Wind, er weht das Laub von den Bäumen aufs Kopfsteinpflaster, das es hier auch noch gibt in den Nebenstraßen von Niederschönhausen, einem Stadtteil im Norden von Berlin.
Es ist eine ruhige Gegend, eine schmale Wohnstraße mit kleinen Fachwerkvillen. An vielen Häusern wird renoviert, Handwerker sind bei der Arbeit. Viele Häuschen sind jetzt ganz schick, neu und eckig und modern. Schöne Gärten, verwildert manche, andere akkurat gepflegt: Rasen, Garage, Wäschespinne.
Das letzte Haus vor dem Waldrand ist der Bungalow von Christine Althen, einer sympathischen Frau mit hellen, langen Haaren, klarer Stimme. Frau Althen macht Hypnose. Das ist heute eine anerkannte Methode, Wissenschaftler haben die Wirksamkeit nachgewiesen. Es geht darum, dass Menschen sich befreien von äußeren Zwängen und wieder Herr werden im eigenen Haus, sozusagen.
Genau das will die junge Frau, darum ist sie gekommen. Frau Althen öffnet und bittet sie herein.
Es ist ein helles Zimmer, Kunst an den weißen Wänden, chinesische Malerei hinter Glas, davor stehen Orchideen. Auf dem Boden ein flauschiger grauer Teppich, ein Ständer mit Flipchart. Ein Tisch mit durchsichtiger Platte, zwei Gläsern Mineralwasser. Frau Althen nimmt an der Stirnseite Platz, vor sich einen Stift und ein Blatt Papier. Neben ihr steht ein Liegestuhl, mit hellem Segeltuch bezogen, in dem die junge Frau Platz nimmt, die sehr hübsch ist und schick angezogen, rote Bluse, schwarze Hose, helle Haut und rötliche lange Haare, mit denen sie immer wieder spielt, während sie redet.
Die junge Frau studiert Literaturwissenschaft in Berlin, ihren richtigen Namen will sie nicht nennen. Sie möchte Lara genannt werden.
Frau Althen fragt: »Darf ich Ihnen eine Decke geben?«
Lara lehnt ab: »Nein danke.« Und sie fängt dann gleich an mit dem Problem: »Also, ich esse zu viel Süßigkeiten, nach meinem Dafürhalten.«
»Welche Süßigkeiten?«
»Ja, also, Schokolade, eigentlich alles, was Zucker hat. Und ich mache es nicht in Maßen, sondern übermäßig. Und das möchte ich eben ändern.«
»Und was verstehen Sie unter übermäßig?«
»Na ja, dass ich dann halt zum Beispiel denke, okay, ich kaufe mir jetzt was Süßes, aber dann kann ich nicht nur eine Sache kaufen, sondern muss ganz viele kaufen, weil eines nicht genug ist.«
Lara ist süchtig auf Süßes. Und sie ist damit nicht allein. In den Buchhandlungen stapeln sich die Ratgeber: »Süchtig nach Süßem? So schaffen Sie den Ausstieg aus der Zuckersucht«. Oder: »Voll auf Zucker! Wie Sie die Sucht nach Süßem überwinden«. Als Pionierin gilt die norddeutsche Künstlerin und Autorin Ruth Alice Kosnick mit ihrem Buch »Frei von Zuckersucht. Ein 10-Schritte-Programm«, angelehnt an das Konzept der Anonymen Alkoholiker.
Wie die Alkoholiker. So fühlen sie sich schon. Bisher klang es eher witzig, wenn jemand sich als »Schokoholic« bekannte. Sie meinen es aber bitterernst.
»Der ganze Tag dreht sich nur um das Suchtmittel«, sagt Yvonne, kaufmännische Angestellte aus Wien, die sich einer Selbsthilfegruppe im Internet angeschlossen hat: »Es ekelt einen an, alles klebt und kratzt schon im Hals, und im Kiefer spürt man eine Sperre, und dennoch öffnet man den Mund und schiebt den siebten Schokoriegel rein und würgt ihn runter.«
Gruppenmitglied Maria, Lehrerin aus Bonn, hat sich in jeder Pause »vollgedröhnt« mit Süßigkeiten: »In der Klasse musste ich mich dann setzen, damit es mir nicht schwarz vor Augen wurde.«
Judith aus Düsseldorf, Gruppenleiterin Beschaffung in einer internationalen Firma, vergleicht Zucker mit Zigaretten: »Dass Rauchen eine Sucht ist, ist unbestritten. Ich reagierte auf Süßigkeiten ganz genauso.« Sie hat das Forum gegründet, das vor allem von Frauen besucht wird: von der Arzthelferin bis zur Floristin, von der Krankenschwester bis zur Diakonin. Die Leiterin eines Jugendzentrums ist dabei, eine Grafikdesignerin, auch Hausfrauen mit Kindern.
Die Sucht nach dem Süßen scheint ein Massenphänomen zu werden.
Die Sucht nach dem Süßen ist mehr als die Lust auf ein Eis im Sommer, das Stück Schokolade an dunklen Wintertagen, die Freude am Christstollen zu Weihnachten.
Lust macht Freude. Wer süchtig ist, leidet an der Lust.
Das Süße wirkt im Gehirn nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen tatsächlich wie eine Droge, vergleichbar sogar mit Kokain. Und es nutzt einen uralten Mechanismus im Menschen: Das Gehirn vertraut auf die Ungefährlichkeit des Süßen. So ist es aus Urzeiten programmiert. Es ist sogar besonders empfindlich gegenüber den süßen Reizen.
Die Süchtigen sind nicht mehr Herr ihrer Handlungen. Ihre Steuerungsfähigkeit ist eingeschränkt. Dabei sollten sie ja die mündigen Verbraucher sein, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und aller nötigen Informationen den Supermarkt betreten und dann eine vollkommen rationale Entscheidung treffen.
So stellen sich das die Politiker vor, die die Gesetze machen. Und die Gerichte, wenn es um Schadensersatz geht. Wenn die Menschen immer dicker und zudem krank werden: selbst schuld. So lautete bisher das Urteil der Ernährungsexperten, der Mediziner, der Öffentlichkeit, auch der Medien. Der mündige Verbraucher soll selbst wissen, was er tut.
Mündigkeit setzt klaren Verstand voraus, doch den hebelt das Suchtmittel aus. Wenn das Süße die Herrschaft übernimmt, das Gehirn manipuliert, ist keine freie Wahl mehr möglich. Sie haben keine Wahl: Sie müssen.
Zumal das Angebot ihnen immer weniger Alternativen bietet. Das Angebot wird immer stärker eingeschränkt, die Auswahl verengt. Es kommt aus Supermärkten, Fast-Food-Restaurants, immer die gleichen Marken, und zwar weltweit. Selbst in der Südsee ist es heute einfacher, eine Cola zu bekommen, als eine Kokosnuss. Das Gesunde ist weit weg, nah aber die süße Droge. Sogar an der Kasse in der Tankstelle. Wo die Süßigkeiten gleich neben dem Jägermeister liegen.
Gefährlich ist die Suchtdebatte für die Zuckerbranche. Sie wird zum Problemfall, sieht sich plötzlich in eine Reihe gestellt mit Schnapsfabriken, Big Tobacco, gar Drogendealern. Und hält dagegen, mit Wissenschaftlern oder zunächst einem Witzchen: »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der eine Bank ausgeraubt hat, um einen Schokoriegel oder Eiskrem oder Popcorn zu kaufen«, höhnte Richard Adamson, Pharmakologe und Lobbyist bei der Softdrink-Vereinigung American Beverage Association in der US-Hauptstadt Washington.
»Zuckersucht ist ein Ernährungsmärchen!«, meldete der Bundesverband der deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) unter Berufung auf einen britischen Professor namens David Benton von der Universität Swansea in Wales. Der hatte 160 Studien ausgewertet und »fand keinerlei Bestätigung«. Benton ist ein rühriger Experte, er arbeitet zusammen mit den Sachverständigen von Ferrero, Coca-Cola, Pepsi-Cola, Südzucker, Kraft, Kellogg in speziellen Sondertruppen (»Task Forces«) etwa zu Kohlenhydraten, organisiert vom International Life Sciences Institute (ILSI), der wichtigsten Lobbytruppe der Nahrungsindustrie (zu ILSI siehe Hans-Ulrich Grimm: »Vom Verzehr wird abgeraten«).
»Es gibt keine Zuckersucht«, sagte auch der Münchner Professor Hans Hauner zum Frauenmagazin Cosmopolitan. Professor Hauner ist Direktor des »Else Kröner-Fresenius-Zentrums« für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München. Der Professor sitzt auch im »Wissenschaftlichen Beirat« des Instituts Danone, einer »unabhängigen« Ernährungsorganisation des »Fruchtzwerge«-Konzerns. Er hatte früh schon Auftritte etwa in einem Werbeblättchen des Bundesverbandes der Deutschen Erfrischungsgetränke-Industrie, darin sagte er, es gebe »keinen Beleg zwischen zuckerreicher Ernährung und Übergewicht«. Er kennt sich also aus in der Welt der süßen Verführer.
Auch Europas Branchenführer Südzucker sieht keine Suchtgefahr, sagte der Chef Wolfgang Heer im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ): »Zucker auf die gleiche Stufe zu stellen wie eine Droge oder Alkohol, halte ich für Unfug. Ich glaube nicht, dass solche Thesen wissenschaftlich haltbar sind.« Da wandte die SZ ein: »Es ist aber auch erwiesen, dass zu viel Zucker krank und dick macht.« Und Heer antwortete mit dem Mantra der Hersteller, die Zutaten für schlechte Essgewohnheiten produzieren: »Es gibt keine guten oder schlechten Lebensmittel, es gibt nur falsche Ernährungsgewohnheiten.«
Das ist natürlich Unsinn. Wenn es...