II. Faktencheck
Wie Sie den allgemeinen Nutzen einer medizinischen Empfehlung überprüfen können
Therapievorschläge sind letztlich immer der Versuch, in die Zukunft zu sehen. Wenn ein Arzt eine Therapie empfiehlt, kann er nie mit 100-prozentiger Sicherheit voraussagen, was diese Therapie bei seinem Patienten wirklich bewirkt, er kann es nur abschätzen. Doch wie lässt sich der Erfolg einer Therapie abschätzen? Zum Beispiel, indem man eine Therapie empfiehlt, die man aus eigener Erfahrung kennt und von der man weiß, dass sie schon vielen anderen Patienten geholfen hat. Erfahrung ist sehr wichtig, hat aber auch ihre Tücken, dazu später mehr.
Natürlich kann man es auch machen wie Nostradamus, der berühmte Astrologe des Mittelalters: Man packt seine Prophezeiung in möglichst allgemeine, unverständliche oder geheimnisvolle Worte, so dass jeder das herauslesen kann, was er gern hören möchte. Unverbindliche Aussagen lassen sich immer schlecht überprüfen und der Prophet kann sich leicht herausreden, wenn die Erwartungen später nicht in Erfüllung gegangen sind: »Tut mir leid, da müssen Sie mich falsch verstanden haben.«
Ähnlich machen es auch heutige Ersteller von Horoskopen, Handleser und – Alternativmediziner mit Pendeln, Energiestrommessungen oder Irisdiagnostik. Patienten erhalten auf diese Weise so nichtssagende Diagnosen wie »Darmpilze«, »Leberreizung«, »Nierenschwäche« oder – derzeit besonders beliebt – »Nahrungsmittelunverträglichkeit« bzw. »Belastung durch Umweltgifte«. Das kann alles und nichts bedeuten. Die anschließend empfohlenen Therapien stehen in keinem direkten und nachweisbaren Zusammenhang mit solchen »Diagnosen«: Auslassdiäten, Mineralstoffe, Entschlackungskuren etc. bringen meist nur kurzfristige Erfolge, die vor allem dem Placeboeffekt geschuldet sein dürften. Natürlich gibt es Ausnahmen, denn auch ein Wahrsager kann ab und zu richtig liegen. Gezielt wirkende Medizin sieht allerdings anders aus.
Wissenschaftliche Prinzipien
Der wohl ambitionierteste Versuch, die Zukunft vorauszusagen, um sie dann gezielt ändern zu können, heißt »Wissenschaft«. Was bedeutet Wissenschaft genau? Im dtv-Brockhaus-Lexikon lesen wir dazu Folgendes:
»Hauptziel der Wissenschaft ist die rationale, nachvollziehbare Erkenntnis der Zusammenhänge, Abläufe, Ursachen und Gesetzmäßigkeiten der natürlichen wie der historischen und kulturell geschaffenen Wirklichkeit; neben der Erweiterung des Wissens über die Welt liefern vor allem Naturwissenschaft und Technik die Mittel zu vorausschauender Planung und gezielter Veränderung der Wirklichkeit. Als Hauptmerkmal der Wissenschaft wird eine von Wertungen, Gefühlen und äußeren Bestimmungsmomenten freie, auf Sachbezogenheit gründende Objektivität angesehen, welche neben dem methodischen Konsens die Verallgemeinerungsfähigkeit und allgemeine Nachprüfbarkeit wissenschaftlicher Aussagen begründet.«
Das klingt kompliziert, aber es geht auch einfacher. Drei Kriterien müssen erfüllt sein, damit etwas als Wissenschaft oder wissenschaftlich gelten darf:
- Objektivität
- Verallgemeinerungsfähigkeit
- Nachprüfbarkeit
Auf der Grundlage dieser Vorgaben gelangen der Menschheit in den letzten 250 Jahren Erfolge, die vorher undenkbar waren, von der Dampfmaschine bis zum Flug auf den Mond. Dennoch gilt auch für die Wissenschaft die Erkenntnis: »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« [2]
Und deshalb braucht Wissenschaft Experimente und Studien, um neue Ideen und Verfahren objektiv auf ihre allgemeine Wirksamkeit zu überprüfen. Denn in gut geplanten Experimenten und Studien kann man feststellen, ob sich ein bestimmtes Ergebnis immer wieder erzielen lässt, sowohl im Labor als auch im richtigen Leben, unabhängig von Zeit und Ort.
Sind die Einflussfaktoren bekannt und kontrollierbar, reichen Experimente im Labor aus, um einen solchen Nachweis zu führen. Angenommen, man möchte wissen, ob ein neuer Werkstoff in puncto elektrische Leitfähigkeit dem bisher in Stromkabeln verwendeten Material überlegen ist. Dann führt man im Rahmen eines Experiments im Labor entsprechende Messungen mit einem herkömmlichen und einem Kabel aus dem neuen Material durch. Danach weiß man, ob das neue Material Strom besser leitet oder nicht. Wiederholt man das gleiche Experiment in einem anderen Labor, sollte das gleiche Ergebnis herauskommen, wenn alle wesentlichen Einflussfaktoren bekannt sind und berücksichtigt werden: Stromstärke, Widerstände, Temperatur etc. Schneidet das neue Kabel im Experiment besser ab, wird es allgemein und überall der bessere Stromleiter sein, in Maschinen oder Stromleitungen, im Winter wie im Sommer.
Will Medizin Wissenschaft sein, braucht sie gute Studien
Eine Medizin, die sich als wissenschaftlich versteht, sollte demnach in der Lage sein, echte Verbesserungen zu ermöglichen. Esoterik hat hier keinen Platz. Es geht nicht um die »Aura«, den »Spiralleib« oder das »Qi«, sondern um Lebensdauer, Schmerzintensität oder Beweglichkeit. Diese Verbesserungen sollten mit Therapien ermöglicht werden, die im Idealfall bei jedem Menschen gleich wirken und sich durch ein klar definiertes Messverfahren nachprüfen lassen. Und zwar wiederholbar und unabhängig von Ort und Zeit. Die drei Kriterien für Wissenschaft kann man – bezogen auf die Medizin – dann so formulieren:
- echte Verbesserung des Krankheitsverlaufs durch eine T herapie
- gleiche Wirkung bei jedem Menschen, der diese Krankheit hat und mit dieser Therapie behandelt wird
- wiederholbare Nachprüfbarkeit durch ein Messverfahren, unabhängig von Ort und Zeit
Ein Elektroingenieur oder ein Physiker hat es dabei in der Regel leichter als ein Mediziner. Experimente in diesen Fachgebieten lassen sich ziemlich exakt berechnen und vorhersagen. Doch was für ein experimentelles Gefäßsystem in der Physik gilt, gilt noch lange nicht für den menschlichen Blutkreislauf. Ich habe es mehr als einmal erlebt, dass Patienten sagten, sie hätten keine Beschwerden, obwohl sie erhebliche Verengungen (medizinisch »Stenosen«) der Herzkranzgefäße aufwiesen. Eigentlich wird dadurch der Blutfluss im Herzmuskel massiv behindert (koronare Herzkrankheit), was bei Anstrengung normalerweise Herzschmerzen auslöst (Angina pectoris). Bei anderen Patienten dagegen verursachten wesentlich weniger dramatische Engstellen erhebliche Herzprobleme. Ebenso gibt es Patienten, deren Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule schlicht katastrophal aussehen, und trotzdem können sie den Alltag ohne Schmerzen bewältigen. Und andere mit kaum auffallenden Wirbelveränderungen klagen über schier unerträgliche Schmerzen.
Außerdem muss man in der Medizin immer ein Auge auf den Placeboeffekt haben: Eine Therapie kann allein durch ihre pure Anwendung wirken. Also auch dann, wenn sie nur aus Zuckerpillen besteht, am besten von einem Arzt in einem weißen Kittel verordnet. Dies allein zeigt, dass die körperlichen und psychologischen Einflussfaktoren auf den Menschen enorm vielfältig und oft unberechenbar sind. Deswegen darf man in der Medizin neue Behandlungsverfahren oder Medikamente, die in einem Laborversuch positive Ergebnisse zeigten, niemals sofort für die Therapie bei realen Patienten zulassen. Sie können ganz andere Wirkungen hervorrufen. Es kommt vor, dass ein Wirkstoff im Labor an Zellkulturen getestet wird und dort beispielsweise eine krebshemmende Wirkung zeigt; bei der Anwendung am Menschen löst er jedoch Krebs aus. Medizin erscheint manchmal nur sehr bedingt logisch. Aber dennoch wollen wir wissen, was eine Therapie mit uns macht, und das möglichst vorher.
Deshalb hat sich in der Medizin folgendes Vorgehen etabliert: Angenommen, in einem Laborexperiment finden Forscher heraus, dass ein bestimmter Wirkstoff eine bestimmte medizinische Wirkung haben könnte (etwa eine Blutdrucksenkung), dann ist der nächste Schritt, diese Wirkung im Tierversuch zu bestätigen. Gelingt dies, muss der Wirkstoff zeigen, dass er die gleiche Wirkung auch beim Menschen erzielt, und zwar unter möglichst realistischen Alltagsbedingungen. Dieser Nachweis lässt sich nur im Rahmen einer gut geplanten medizinischen Studie führen. Erst, wenn eine solche Studie mit »echten« Personen zeigen konnte, dass ein Medikament oder eine neue Operationsmethode tatsächlich die gewünschte Wirkung hat, kann man davon sprechen, dass sie wissenschaftlich belegt ist. Deshalb sind Studien in der Medizin so wichtig.
Das A und O eines wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweises in der Medizin ist der Nachweis anhand einer qualitativ hochwertigen (das...