Tartuffe auf dem Land
1807
I.
Eine Irre.
Der Adjunkt des Gräflich-Portia’schen Patrimonialgerichts auf Schloss Oberlauterbach ist erschüttert.
Das Mädchen ist nicht bei Trost. Es ist krank.
Oder doch bloß verlogen? Und dreist obendrein?
Der erste Impuls des Beamten ist, die Besucherin mit ein paar Ohrfeigen zur Vernunft zu bringen und anschließend in hohem Bogen aus dem Amtszimmer zu werfen. Hat er nichts anderes zu tun, als sich die infame Denunziation einer 17-Jährigen anzuhören und sich mit ihren Räuberpistolen die Zeit stehlen zu lassen? Für wie dumm hält sie ihn, dass sie glaubt, er würde ihr diese haarsträubende Geschichte abnehmen? Was erlaubt sich dieser verlauste Bauernfratz eigentlich?
Der Adjunkt hebt die Hand. Doch etwas lähmt ihn, der Zorn, den er dafür aufbringen müsste, will sich nicht einstellen. Er lässt die Hand sinken und mustert das Mädchen. Die Schultern an den Oberkörper gezogen steht es vor ihm, spindeldürr, die Wangen vor Aufregung gefleckt, mit geröteten Augenrändern und flatternden Lidern.
Gleich heult sie los, denkt er, hoffentlich dreht sie mir nicht durch, ein hysterischer Anfall hat mir gerade noch gefehlt. Was für ein Elend. Was mag dem armen Geschöpf zugestoßen sein, dass ihr Gehirn eine derart wahnhafte Geschichte ausbrüten konnte? Welcher Dämon träufelt ihr bloß diese krankhaften Einbildungen ein?
Der Adjunkt fühlt sich hilflos. Wie mit durchtriebenen Verleumdern umzugehen wäre, wüsste er. Doch durchtrieben – nein, das ist dieses Kind nicht, so gut kennt er seine Pappenheimer, lange genug ist er auf seinem Posten. Er findet keine andere Erklärung. Dieses Kind ist nicht bei Sinnen.
Was soll er bloß bloß mit ihr machen?
Der Adjunkt fixiert sie noch einmal streng. Sie zuckt fluchtbereit, doch sie hält seinem Blick stand, halb verschüchtert, halb vertrotzt.
Er fasst sich. Jetzt um einen fast väterlichen Ton bemüht, fordert er sie auf, ihre Angaben zu wiederholen, hört geduldig zu, fragt nach, wendet die üblichen Tricks an, verwirrt sie mit Absicht (Habe sie nicht eben eine blaue Schürze erwähnt? Und blonde Haare habe die Fremde gehabt? – Nein? Hellbraune? Habe sie nicht vorhin gesagt, dass –?).
Die Stimme des Mädchens ist brüchig vor Aufregung, doch sie macht keine Fehler, widerspricht sich nicht, korrigiert ihn, wenn er ihr wieder eine falsche Erinnerung unterschieben will. Fahrig eine sumpffarbige Strähne unter ihrem Kopftuch verstauend, dann wieder mit bäuerlich groben, rissigen Fingern den Bund ihrer verwaschenen Schürze befingernd, wiederholt es das Ungeheuerliche, dessen Zeuge es gewesen sein will.
Der Adjunkt macht sich Notizen. Schließlich ermahnt er sie, vorläufig Stillschweigen zu bewahren, und geleitet sie hinaus. Sie würde von ihm hören, verspricht er.
»Bestimmt?«
Er nickt ernst. Bestimmt, denkt er. Was immer du dann zu hören bekommst.
Dann rast er in den oberen Stock, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und informiert seinen Vorgesetzten.
»Noch einmal in Ruhe«, dämpft der Hofmarksrichter seine Aufgeregtheit. »Frauenknecht, sagten Sie, ist ihr Schreibname? Saß nicht eine Familie dieses Namens auf dem hiesigen Thomashof?«
Der Adjunkt ist noch immer außer Atem. Er schluckt, nickt. »Katharina, so ihr Name, ist die Letzte der Familie. Eltern und Schwester sind bereits verstorben.«
»Der Hof war zuletzt im Besitz von Hochwürden Riembauer, nicht wahr?«
»Nachdem er auf die Pfarrstelle von Nandlstadt berufen wurde, verkaufte er, richtig. Er soll dabei ein gar nicht so schlechtes Geschäft gemacht haben.«
Der Richter winkt unwillig ab. »Es sei ihm vergönnt«, sagt er. Heutzutage schrumpfen die Pfründe der Kirche, denkt er, die Zeit spielt gegen sie, viele ihrer Güter wurden in den vergangenen Jahren verstaatlicht, ihre Macht schwindet. Wer sollte es da einem Landpriester übel nehmen, wenn er zusieht, wo er bleibt? »Wozu überhaupt diese gehässige Anmerkung? Gehört das zur Sache?«
Der Adjunkt schüttelt den Kopf.
»Dann verschonen Sie mich gefälligst«, brummt der Richter. »Aber jetzt sagen Sie mir – damit ich sicher sein kann, mich nicht verhört zu haben –, die kleine Frauenknecht klagt tatsächlich gegen Hochwürden Riembauer? Der in unserer Gemeinde so segensreich gewirkt hat? Und dann auch noch wegen Mordes? Herr im Himmel, was ist das? Wahnsinn? Eine besitzlose Magd hat die Stirn, einen Vertreter der Kirche zu verleumden? Hat sie auch nur den Hauch eines Beweises für ihre Hirngespinste?«
»Sie habe die Tat selbst miterlebt, behauptet sie. Sie soll im Herbst 1807 geschehen sein.«
»Großartig«, belfert der Richter los. »Und schon jetzt, keine fünf Jahre später, macht sie Meldung? Wo mit Sicherheit sämtliche Spuren längst verwischt, wichtige Zeugen möglicherweise verstorben sind, andere vermutlich nur noch verwaschene Erinnerungen haben? Es wird immer absurder.«
»Sie erklärt es damit, dass sie Angst gehabt habe. Sie sei den Kontakt mit hohen Herrschaften nicht gewohnt und habe gefürchtet, als Verleumderin gezüchtigt und verjagt zu werden. Außerdem fürchte sie die Rache dessen, den sie der Tat bezichtigt, wie sie sich auch –«
»Ein Funken Realitätssinn scheint also noch vorhanden zu sein. Ist ja schon fast wieder tröstlich.«
»– wie sie sich auch davor fürchte, den – alles ihre Worte, mit Verlaub! – raffinierten Lügen und Ausreden Hochwürden Riembauers nicht gewachsen zu sein. Er verdrehe alles, seife alle Welt mit seinem frommen Getue ein, wie er es auch schon mit ihren Eltern und ihrer Schwester getan habe. Außerdem habe sie um ihr Leben gefürchtet. Sie sei ja noch nicht volljährig und bis vor kurzem noch gezwungen gewesen, im Haushalt mit ihm zu wohnen. Von Mutter und Schwester hatte sie zu deren Lebzeiten keine Hilfe, sagt sie, diese hätten unter vollständigem Einfluss des Pfarrers gestanden.«
»Ach! Und diese Angst ist mit einem Mal verflogen? Das soll ein Mensch glauben?«
»Nun, dazu erklärt sie: Sie habe sich durchaus schon früher zwei Seelsorgern der Nachbargemeinde anvertraut, diese hätten ihr jedoch geraten zu schweigen. Ich vermute, dass man ihr keinen Glauben schenkte.«
»Nur allzu verständlich! Phantastereien einer Pubertierenden, was sonst!«
»Jedenfalls habe sie das für lange Zeit mutlos gemacht. Aber die Erinnerung habe sie jahrelang gequält.«
»Haben Sie ihr die Schwere der Vorwürfe verdeutlicht? Sie auf die Strafe hingewiesen, die es nach sich zieht, wenn sich die Haltlosigkeit ihrer Anschuldigungen erweist? Hat sie keinerlei Ehrfurcht vor dem heiligen Stand?«
»Auf die Konsequenzen habe ich sie natürlich hingewiesen. Aber sie blieb eisern bei ihrer Aussage.«
»Würde sie diese auch unter Eid wiederholen?«
Der Adjunkt nickt. »Allerdings ist sie erst siebzehn Jahre alt. Und damit noch nicht eidesmündig.«
Der Richter verstummt für einen Augenblick. Die Sache beginnt ihn zu beunruhigen. Er misst seinen Untergebenen mit einem schrägen Blick.
»Haben Sie eigentlich schon erwogen, dass etwas völlig anderes dahinterstecken könnte? Schlichte Bosheit? Rachsucht, weshalb auch immer? Habgier?«
Der Adjunkt wiegt den Kopf. »Berechtigte Frage«, räumt er ein. »Ich habe sie mir natürlich ebenfalls gestellt. Tatsächlich beansprucht sie auch, am Erlös des Verkaufs des elterlichen Anwesens beteiligt zu werden. Sie betrachtet es als ihr Erbteil.«
»Sehen Sie! Und schon haben wir ihn, den wahren Grund! Welche Niedertracht!«
»Jedenfalls behauptet sie, von dieser Summe keinen Kreuzer gesehen zu haben. Hochwürden Riembauer habe ihr dies mit der Begründung vorenthalten, er habe sich schließlich zuvor aufopfernd um ihre Eltern gekümmert. Was sie jedoch bestreitet. Allen Gewinn aus der Ökonomie habe er für sich verwendet, bei den Kosten für Arzt und Arznei für ihre hinfälligen Eltern jedoch geknausert.«
»Natürlich bestreitet sie das! In jeder zweiten Querele in unserem Gerichtssprengel geht es um Schäbigkeiten dieser Art, und nicht zu selten stellt sich heraus, dass die Ansprüche unberechtigt sind! – Nein! Es ist nichts als eine Denunziation der niedrigsten Art! Und darauf fallen Sie herein? Sie, mit Ihrer Erfahrung?«
»Eben.« Der Adjunkt nickt. »Weil ich Erfahrung habe.«
Ein skeptischer Blick. »Das will sagen?«
»Dass ich bei diesem Kind zwar größte Erregung, aber keine eifernde Gehässigkeit verspürt habe. Nur tiefste innere Not. Das Mädchen äußert sich außerdem klar. Sie beschreibt detailliert den Ort auf dem Thomashof, an dem das angebliche Opfer verscharrt worden sein soll. Aufgefordert, die Angaben zu Ort, Zeit, Namen der Beteiligten, Ablauf der Tat zu wiederholen, unterlaufen ihm keine Fehler. Herr Richter dürfen mir glauben, dass ich sämtliche Methoden angewandt habe, um sie ins Wanken zu bringen. Nach dem Lehrsatz: Stelle einem Lügner immer wieder die gleichen Fragen zu seiner Geschichte, und sie wird sich verändern. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Hinzu kommt –«
»Was? – Herrgott, so reden Sie!«
»Nun, mir kam in den Sinn, dass es vor etwa fünf Jahren im Bezirk tatsächlich eine gerichtliche Enquete zum Verschwinden einer jungen Frau gab, deren Verbleib niemals aufgeklärt werden konnte.«
»Ich erinnere mich. Die Sache machte einigermaßen Furore. Wie war der Name noch gleich?«
»Anna Eichstätter, gebürtig zu...