Postnatale Konsequenzen fetaler Entwicklung: Einfluss der Geburtsmaße auf die spätere Entwicklung und Gesundheit
Bettina Gohlke & Joachim Woelfle
Einleitung
Ein zu niedriges Geburtsgewicht ist nach wie vor in der ganzen Welt die Ursache für eine hohe Mortalität und Morbidität in der Säuglingszeit und während der Kindheit (WHO, 2002). Es ist – wie wir in den vergangenen 15 Jahren gelernt haben – assoziiert mit zahlreichen Folgeerkrankungen bis ins hohe Erwachsenenalter. Für Kinder, die als so genannte „SGA“-Neugeborene (small-for-gestational-age; zu leicht/zu klein für das Gestationsalter) auf die Welt kommen, ist es wichtig, dass diese Daten in die Betreuung mit einfließen.
Definition
Die Definition des SGA ist in der Literatur nicht einheitlich. In der Vergangenheit wurde oft vor allem seitens der Neonatologen die 10. Perzentile der Normalverteilung für das Geburtsgewicht und/oder die Geburtslänge als Grenze gesetzt, um die Geburtsmaße eines Kindes als AGA, „approriate-for-gestational-age“ (Länge und/oder Gewicht dem Gestationsalter entsprechend) oder SGA festzulegen. Aber auch die 3. Perzentile wurde oft als Definitionsgrundlage verwendet. Wieder andere haben den Ponderal Index (Gewicht (kg): Länge3 (m3)) als Messgrundlage verwendet. In den vergangenen Jahren wurde seitens der Pädiatrischen Endokrinologen, die sich mit den metabolischen und hormonellen Folgerkrankungen des SGAs beschäftigen, gefordert, die Abweichung von mehr als 2 Standardabweichungen vom für die Bevölkerung festgelegten Mittelwert als Definitionsgrundlage zu nehmen (Clayton et al., 2007). Hierbei ist wichtig, dass das Gestationsalter korrekt bestimmt ist, um ein leichtes Gewicht aufgrund einer Frühgeburtlichkeit von einem zu leichten Gewicht bezogen auf das Gestationsalter (SGA) zu differenzieren.
Ebenso ist es wichtig, die für die jeweilige Bevölkerung korrekten Perzentilenkurven als Grundlage zu wählen. In Deutschland liegen letzte Erhebungen von Voigt et al. (1992) vor. Es zeigt sich, dass vor allem das durchschnittliche Geburtsgewicht und damit auch die Grenze von –2 Standardabweichungen vom Mittelwert in den vergangenen 30 Jahren deutlich zugenommen hat (in den 1970er Jahren lag die damals noch verwendete 10. Perzentile bei 2500 g, heute liegt sie bei 3070 g). Demgegenüber hat sich die durchschnittliche Geburtslänge kaum verändert und liegt recht konstant bei 47 cm.
Es gibt vielfältige Ursachen, warum ein Neugeborenes zu leicht oder zu klein für sein Gestationsalter sein kann. Man unterscheidet
- maternale Ursachen (Gefäßkrankheiten, Umweltfaktoren, Infektionen, Ernährung),
- plazentare Ursachen (Insuffizienz, Ablösung, Infarkt, Gefäßanomalien),
- Demografie (Alter und Größe der Mutter, Größe des Vaters, gynäkologische Vorgeschichte, ethnische Abstammung),
- fetale Ursachen (genetische Defekte, angeborene Fehlbildungen),
- Stoffwechselstörungen, multiple Schwangerschaften.
Es ist anzunehmen, dass das Risiko für das Auftreten der mit dem SGA assoziierten metabolischen und hormonellen Folgen je nach Ursache unterschiedlich hoch ist. Liegt dem leichten Geburtsgewicht eine intrauterine Wachstumsverzögerung zugrunde (IUGR), ist dies eher mit dem Risiko der Folgeerkrankungen assoziiert, als wenn ethnisch bedingte Unterschiede zu einem leichten Geburtsgewicht führen und diesem Geburtsgewicht keine intrauterine Pathologie zugrunde liegt. Die Differenzierung zwischen den verschiedenen oben genannten auslösenden Ursachen für eine SGA-Geburt und das damit verbundene unterschiedlich hohe Risiko für die Entstehung von metabolischen und endokrinologischen Folgen ist Gegenstand neuester Forschung. Sicher ist, dass die Kopfumfangsentwicklung mit der neurologischen Entwicklung eng korreliert und diese sowohl bei Geburt als auch in der sich anschließenden Zeit sorgfältig kontrolliert werden sollte.
Folgen
Dystrophie
Nach der Perinatalzeit zeigt ein Teil der Kinder eine Gedeihstörung, die mit einer Ess- oder Ernährungsstörung assoziiert sein kann. Hierbei ist zunächst eine differenzierte Abklärung nötig. Dazu gehört, dass Kalorienzufuhr und Gewichtszunahme exakt dokumentiert werden, um den vielleicht nur subjektiv bestehenden Eindruck zu objektivieren. Ein Kind, dessen Gewichtsentwicklung entlang der Perzentilen erfolgt, ist anders zu bewerten als eines, das sich perzentilenflüchtig entwickelt! Beim letztgenannten sollte eine Abklärung hinsichtlich
- der Physiologie des Schluckaktes,
- des Vorliegens einer Malabsorption und/oder Maldigestion,
- des Vorliegens von angeborenen Stoffwechselstörungen
erfolgen.
Neurokognitive Entwicklung
Es konnte gezeigt werden, dass 10–35 % aller ehemaligen SGA-Kinder kleinere Auffälligkeiten bezüglich der Entwicklung und im Verhalten zeigen.
Besonders häufig sind dabei
- verzögerter Sprechbeginn,
- Sprachstörungen,
- Schwierigkeiten im abstrakten Vorstellungsvermögen (Rechenprobleme),
- Aufmerksamkeitsstörungen, mangelhafte Konzentrationsfähigkeit,
- starke Unruhe, „Zappeligkeit“,
- Lernprobleme.
Langes Stillen (mehr als 24 Wochen) scheint sich positiv auf die intellektuelle Entwicklung auszuwirken (Rao et al., 2002). In einer Untersuchung an 32 365 Kindern, die mit normalem Geburtsgewicht geboren wurden, im Vergleich zu 1921 Kindern, die mit einer intrauterinen Wachstumsverzögerung geboren worden waren, stellte Strauss et al. (1998) signifikante Unterschiede im IQ mit 7 Jahren fest.
IQ (Wechsler) 96.8 " 14.8 (AGA) vs. 90.6 " 14.8 (SGA)
(Bender-Gestalt) 62.3 " 13.8 (AGA) vs. 57.3 " 13.9 (SGA).
Wachstum
Ehemalige SGA-Kinder sind während der Kindheit und als Erwachsene im Durchschnitt etwa 1 SD kleiner als AGA-Kinder (Karlberg & Albertssou-Wikland, 1995). Unter den kleinwüchsigen Erwachsenen sind 22 %, die eine niedrige Geburtslänge hatten, 14 % hatten ein zu geringes Geburtsgewicht. Zwar holen 85–90 % der SGA-Neugeborenen hinsichtlich ihres Wachstums typischerweise in den ersten zwei Lebensjahren auf, d.h. aber jedes zehnte SGA-Kind bleibt zu klein. Diejenigen, die zu den Extremfrühgeborenen gehören und hierfür auch noch ein zu leichtes Geburtsgewicht haben, sowie diejenigen, die vor allem hinsichtlich ihrer Geburtslänge als „zu klein“ gelten, haben das größte Risiko nicht ausreichend aufzuholen und einen Kleinwuchs zu zeigen. Beim Vorliegen eines Silver-Russel-Syndroms (hohe Stirn, dreieckiges Gesicht mit kleinem Kinn, proportionierter Kleinwuchs bei Geburt, Asymmetrie, Klinodaktylie) ist immer zu erwarten, dass kein Aufholwachstum auftritt.
Während sich bei einem reifen SGA-Neugeborenen immer bereits in den ersten zwei, spätestens nach vier Lebensjahren zeigt, ob ein Aufholwachstum stattfindet, kann das SGA-Frühgeborene auch schon mal einen längeren Zeitrahmen für das Aufholwachstum benötigen und sollte daher regelmäßig alle 3–6 Monate untersucht werden (Gibson et al., 2000).
Körperzusammensetzung
Häufig findet sich bei den ehemaligen SGA-Neugeborenen eine geringe Muskelmasse und später – während der Pubertät – eine deutliche Zunahme des abdominellen Fettgewebes („zentrale Fettverteilung“). Vor allem Kinder mit ausgeprägtem Aufholwachstum während der Kindheit und forcierter Gewichtszunahme während dieser Zeit haben ein erhöhtes Risiko, später adipös zu werden (Baird et al., 2005).
Endokrine Folgen
In Tierversuchen konnte gezeigt werden, dass eine „intrauterine Programmierung“ für das postnatale Wachstum, die spätere Gewichtszunahme, die Pubertät und die metabolischen sowie endokrinologischen Funktionen stattfindet (Fowden & Forhead, 2004). Auch beim Menschen gibt es eine Vielzahl von Studien, die eine solche „fetale Programmierung“ nahe legen, wenn auch die Beweisführung hier schwer ist!
Wachstumshormon
Auffälligkeiten in der Wachstumshormon-IGF-1 Achse finden sich häufig beim SGA-Neugeborenen. Bereits im Nabelschnurblut haben SGA-Neugeborene ein signifikant niedrigeres IGF-1 als AGA-Neugeborene (Gohlke et al., 2005). Später wiederum finden sich eher Auffälligkeiten in Stimulationstests oder bei der Bestimmung der Spontansekretion.
Pubertät
Zumeist ist der Pubertätsbeginn ehemaliger SGA-Kinder nicht auffällig, jedoch gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass der Pubertätswachstumsspurt geringer ist und die Menarche bei den Mädchen 5–10 Monate eher eintritt als im Altersdurchschnitt (Bhargava et al., 1995). Beides wirkt sich negativ auf die Endlänge aus. Gerade wenn die Jugendlichen einen frühen Pubertätsbeginn haben, scheinen sie einen kurzen Pubertätsverlauf zu haben, was sich wiederum negativ auf die Endgröße auswirkt.
Es ist gut dokumentiert, dass SGA-Mädchen, die in der Kindheit ein rasches Aufholwachstum mit ausgeprägter Gewichtszunahme zeigen, oft eine frühe Adrenarche entwickeln (Ibanez et al., 1999). Eine prämature Adrenarche liegt definitionsgemäß vor,...