1 Netzwerke zur Lösung sozialer Probleme
Wir interpretieren Seniorengenossenschaften als Netzwerke (Köstler, 2007b), als Orte der Rollenorientierung, Identitätsstiftung und sinngebenden Personenwerdung, ohne außer Acht zu lassen, dass auch strategische Überlegungen zum Eintritt in eine Seniorengenossenschaft sowie zum Engagement dort grundlegend sein können. Beginnen wollen wir mit einigen theoretischen Überlegungen, die den Rahmen zeichnen, innerhalb dessen sich das Forschungsfeld zentriert, die aber auch deutlich machen, wie vieldimensional ein Forschungsvorhaben ist, das den Menschen und seine Netzwerke in den Mittelpunkt stellt.
1.1 Netzwerke als Form und als Norm
Netzwerke sind ein universelles Phänomen des Menschen. Der Mensch lebt nur in Wechselwirkung zum Mitmenschen, und seine soziale Welt ist eine solche der sozialen Beziehungen. Zugleich lebt der Mensch in den Netzwerken als personalisierte Individualität. Dies bedeutet, dass er einerseits seine Identität in den Rollenorientierungen findet, die mit den sozialen Beziehungen verbunden sind. Denn er ist so gesehen nur als Mitmensch selbst eine Person. Auf der anderen Seite kann er aufgrund seiner Besonderheit als personales Selbst, eben seines Ich-Bewusstseins, Distanz schaffen zu den Netzwerken. Eingebunden in Netzwerke gewinnt der Mensch relative Autonomiespielräume. Diese machen dann das Verhältnis des eigenen Selbst zu den sozialen Bindungen zum Thema eigenständiger Reflexionen. Der Mensch hat die Seinseigenschaft, eine „exzentrische Positionalität“ einzugehen, wie Helmuth Plessner (Plessner, 2003) als philosophischer Anthropologe dies nannte.
Daraus ergibt sich die Möglichkeit, dass das Verhältnis des Menschen zu den Netzwerken seiner sozialen Beziehungen recht unterschiedliche Gestalt, verschiedene Formen und auch verschiedene Qualitäten annehmen kann. So kann der Mensch in einen Konflikt mit seinen Netzwerken geraten. Er kann sich von seinen sozialen Beziehungswelten entfremden. Er kann dort aber auch völlig aufgehen und unkritisch sich selbst und seine Autonomiemöglichkeiten verlieren.
Dabei müssen Netzwerke nicht unbedingt gesellschaftlich wertgeschätzt, akzeptiert oder gar rechtlich erlaubt sein. Es können Netzwerke abweichenden Verhaltens sein, im Sinne von kriminellen Vereinigungen oder politisch problematisierten Organisationen. Offensichtlich ist, dass im sozialpolitischen Kontext (Schulz-Nieswandt, 2010) in der Regel solche Netzwerke diskutiert werden, die individuell wie gesellschaftlich und somit auch politisch positiv geschätzt werden. Dies sind Netzwerke, die Gemeinwohlverpflichtungen aufweisen oder zumindest positive externe Effekte produzieren. Rahmengebend sind dann gewollte rechtliche Fördermaßnahmen und politische Anerkennungskulturen.
Die soziale Tatsache, um mit dem klassischen französischen Soziologen Èmile Durkheim (Durkheim, 2007) zu sprechen, dass die menschliche Existenz immer „Wechselwirkungen“ unterworfen ist, wie es der klassische deutsche Soziologe Georg Simmel (Simmel, 2006) nannte, ändert nichts daran, dass die normative Debatte, welche Netzwerke aus welchen Gründen wie geschätzt, geschützt, gefördert und entwickelt werden sollen, getrennt von den empirischen Tatsachen geführt werden muss.
1.1.1 Zwei idealtypische Formen von Netzwerkbeziehungen
Individualisierte Personen haben die Möglichkeit, unterschiedliche Blickwinkel auf ihre persönlichen Netzwerke einzunehmen und sich in unterschiedliche Handlungslagen zu den Netzwerken zu begeben. Voraussetzung sind ihre einerseits seinsmäßigen, andererseits immer auch aktivierungsbedürftigen Fähigkeiten, sowohl über sich selbst reflektieren zu können als auch die eigene Einbindung in soziale Rollenkreise und somit ihre Integration in die Gruppe reflektieren zu können. In der Sozialkapital-Forschung, die sich mit den Netzwerken der verschiedenen Formen beschäftigt, werden hierzu wichtige Unterscheidungen getroffen.
Idealtypus der strategischen Klugheit
Idealtypisch gesprochen, können Netzwerke zu einem reinen Instrument individuellen Handelns werden. Dann funktionalisiert der rationale Akteur, der seinen individuellen, eigensinn-orientierten Nutzen maximiert, die Netzwerke aus strategischen Gründen. Der Akteur geht aus Gründen der strategischen Verkettung (connectedness) aus Klugheit (prudence) eine mehr oder weniger vertragliche Partnerschaft ein. Damit bleibt das kooperative Verhalten gebunden an die erwartete Aussicht auf eine ökonomische Win-win-Situation; nach dem so genannten Pareto-Prinzip. Das Netzwerk ist dann weit davon entfernt, Selbstzweck zu sein. Es ist auch kein identitätsstiftender Ort des Akteurs als Person, im Sinne der existenziellen Perspektive des Selbst-Seins im Modus des sozialen Mitseins. Das verweist bereits auf den zweiten zu behandelnden Idealtypus des Netzwerkes. Netzwerke können an menschlicher Qualität gewinnen und den ökonomistischen Boden verlassen. Lange Zeithorizonte können sich bei den Akteuren herausbilden. Vertrauenskapital kann entstehen, wodurch sich auch Transaktions- und Regulationskosten der strategischen Verkettungen reduzieren lassen. Auch kann, wie es in der neueren experimentellen Spieltheorieforschung geschieht, von vornherein ein gewisses Maß an Fairness-Orientierungen auch bei eigensinnig orientierten Akteuren unterstellt werden. Je nach Handlungsfeld und Themenkreis ist dies unterschiedlich und hängt generell mit unterschiedlichen Sozialisationserfolgen hinsichtlich der erworbenen Empathie-Kompetenzen der Menschen zusammen oder weist vielleicht auch Gender-Effekte auf. Von einer Moral (der Klugheit) kann hier die Rede sein, weil sich Ego durchaus für Alter Ego interessiert, aber eben nicht unmittelbar, sondern im wohlverstandenen Eigeninteresse. Denn die Chancen des Erfolgs des eigenen Handelns müssen die Reaktionen des anderen Akteurs (Alter Ego), mit dem der Akteur (Ego) interdependent ist, einkalkulieren – und umgekehrt; eventuell sogar im Rahmen einer längeren Handlungskette.
Die neuere Sozialkapital-Forschung nennt dies weak ties. Wir entnehmen dem klassischen deutschen Soziologen Max Weber die Definition, Idealtypen (auch Gerhardt, 2001) seien als theoretische Konstrukte zu verstehen, die wesentliche Aspekte der sozialen Wirklichkeit absichtlich und gezielt überzeichnen, um Ausschnitte dieser sozialen Wirklichkeit gedanklich ordnen und entsprechend erfassen zu können. Dann wird wiederum deutlich, dass es sich zunächst nicht um eine Abbildung eines konkreten empirischen Sozialgebildes handelt. Auch meint Ideal-Typus nicht normativ einen sozial oder gar moralisch erwünschten Typus. Dagegen sind Realtypen nicht Kunstkonstrukte der gewollt-gezielten Übersteigerung eines Merkmals, sondern es geht, ungeachtet der Häufigkeitsverteilung ihres Auftretens, um reale Fälle. In empirisch fundierter Weise vereinigen diese realen Fälle dann nach kontrollierten Zuordnungskriterien festgehaltene Merkmalsausprägungen so verdichtend auf sich, dass diese realen Typen von anderen realen Typen faktisch zu unterscheiden sind.
Das bedeutet, dass der Idealtypus des strategischen Verkettungsmotivs des homo oeconomicus durchaus mit anderen Motiven gemischt vorliegen kann. Dieser Idealtypus kann als eine Dimension in einen Realtypus eingehen, so dass es zu einer empirischen Typologie kommen kann. Der Übergang von Ideal- zu Realtypen-Bildungen wird deutlich, wenn wir uns den zweiten Idealtypus der netzwerkbezogenen personalen Haltung anschauen.
Idealtypus des Selbst-Seins im sozialen Mitsein
Im Fall der Netzwerke, die von strong(er) ties gekennzeichnet sind, geht es mehr als um Nutzenmaximierung und Strategien. Und unsere Analyse wird offenlegen, Seniorengenossenschaften sind derartige Netzwerke. Dort geht es um Daseinsweisen und Existenzmodi des Menschen als Person, während es in Weak-ties-Netzwerken viele Flexibilitäten durch Brückenbildungen (bridging) zwischen Individuen gibt und wenig feste Bindungen (bounding).
Es geht in Strong-ties-Netzwerken psychologisch um die Möglichkeit, dass Individuen sich in Netzwerken als strong ties personalisieren können und zu einer reifen, bindungsfähigen Autonomie gelangen. Eben, weil sie sich aufgaben- und rollenorientiert gerade durch die liebende Sorgearbeit in Bindungen kulturell einbetten – im Unterschied zur strategisch-opportunistischen Verkettung. Individuen gelangen zu einem Identitätskonzept dergestalt, dass im Gegensatz zum Idealtypus der strategischen Klugheit des mit dem Alter Ego interdependenten homo oeconomicus eine gleichgewichtige Balance in einer Ich-Du-Wir-Figuration ermöglicht wird. Dies bedeutet, dass das Person-Sein in der Balance zwischen Ich-bezogener Selbstsorge, Du-bezogener Mitsorge und Wir-bezogener Fremdsorge eine identitätsstiftende Verankerung im Netzwerk der sozialen Beziehungen findet. Mit diesem Denken in der sozialen Figuration, dem Konzept des homo figurationis, lehnen wir uns einerseits an die Soziologie von Norbert Elias (Elias, 2006) an, andererseits sozial- und individualpsychologisch an George Herbert Mead (Mead, 2008) und Erik K. Erikson (Erikson, 2005).
Vielleicht wirkt dieser Idealtypus auch normativ idealer auf uns, da sich eine Parallele zu Immanuel Kants Ethik ziehen lässt. Gemäß Kant (Kant, 1984) soll der Mensch immer nur Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck sein. Und der Mensch solle so handeln, dass er sein Handeln auch dann noch als verallgemeinerungsfähig und gültig anerkennen kann, wenn er sich in die Lage der Menschen...