I. Einleitung:
Intransparente Finanzdiktatur
Es gehört zu den faszinierenden Eigenschaften des
Menschen, dass er seine eigenen Kulturleistungen
weder vorhersieht noch gänzlich versteht.
Ulrike Herrmann1
Unholistische Evolution des Geldsystems
Es lässt sich schwerlich behaupten, dass das heutige Geldsystem von einem Genie entworfen oder nach einem Masterplan erschaffen worden wäre. Vielmehr hat sich das Geldsystem über die Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende schrittweise entwickelt und zu einem sehr komplexen »Monster«2 ausgewachsen. Das Endergebnis ist weder schön noch gut, es gibt keine demokratische Struktur, kein verfasstes Ethos und keine Gründungsvision des »Ganzen«. Das Geldsystem wurde nie bewusst erschaffen und als Werkzeug für die Menschheit angelegt. Jeder einzelne Schritt und jede Zu-Tat mag für bestimmte Gruppen Sinn ergeben und ihnen einen Vorteil verschafft haben, doch das Ganze dient nicht allen gleich und schon gar nicht dem Gemeinwohl. So definiert sich aber kein öffentliches Gut, keine demokratische Infrastruktur, die alle gleich behandelt und dem Ganzen dient.
Selbstverständlich ist bei weitem nicht alles schlecht am gegenwärtigen Geldsystem: Mit Geld wird sehr viel Gutes gestiftet und es erleichtert uns den Alltag; eine Reihe von Grundfunktionen bringt allgemeine öffentliche Vorteile, vom gesetzlichen Zahlungsmittel über individuelle Bankkonten bis hin zur Möglichkeit, einen Kredit aufzunehmen. Doch genau diese Vorteile gilt es zu orten, zu destillieren, sinnvoll auszugestalten und demokratisch zu beschließen. Was wirklich gut ist, wird auf reichliche Zustimmung stoßen.
Doch in zu vielen Aspekten ist das heutige Geldsystem eine Bereicherungsquelle für wenige, ein Casino und Selbstbedienungsladen für Insider, SpekulantInnen und SpielerInnen, mitunter eine gefährliche Waffe. Auch diese Waffe hat niemand vorsätzlich designt und geplant, sie entstand durch sukzessives Aneinanderfügen immer neuer Funktionen, Gesetzgebungsakte und technischer Innovationen. Die Evolution des Geldsystems lässt sich in Etappen zusammenraffen:
– Vor Geld als Tausch- oder Zahlungsmittel waren Kredit und Schuld, wie wir heute aus anthropologischen und historischen Forschungen wissen.3
– Danach erst entstanden Tauschmittel mit Nutzwert: zum Beispiel Holz, besonders oft Rind. Das doppelt »durchgestrichene« Dollar-, Pfund- oder Yen-Zeichen geht noch auf Viehhörner zurück.4
– Es folgten Tauschmittel mit Symbolwert: Muscheln, Knochen, oder bestimmte Steine. Damit etwas als Geld fungieren konnte und innerhalb einer Gemeinschaft als solches anerkannt wurde, musste es selten sein.
– Nach und nach setzten sich die Edelmetalle durch: Kupfer, Silber, Gold.
– Diese wurden alsbald zu den Goldschmieden getragen zur sicheren Aufbewahrung. Die Goldschmiede inspirierten die ersten Depositenbanken, die ausschließlich das Aufbewahrungsgeschäft, nicht aber das Kreditgeschäft wahrnahmen.
– Die Depositenbanken haben das Hinterlegen von Gold durch Banknoten oder auch Wechsel quittiert: die ersten Vorläufer von Papiergeld als Zahlungsmittel.
– Goldschmiede und Depositenbanken begannen, ein und dasselbe Goldstück mehrfach zu verleihen: der Beginn des Banksystems mit fraktionaler Reserve.
– Aus dem »spontanen« fraktionalen Banking wurde legales fraktionales Banking: Geschäftsbanken entstehen (in Mitteleuropa im 14. Jahrhundert).
– Private Geschäftsbanken gründeten ab dem 17. Jahrhundert Zentralbanken.
– Zentralbanken deckten die nationalen Währungen vorerst noch mit Gold: Gold-Standard.
– Die Golddeckung geht verloren (1971). Zentralbanken drucken Papiergeld ohne Deckung: Fiat-Geld.
– Die Computerisierung bringt die bisher größte aller Revolutionen: elektronisches Buchgeld. Geld kann erschaffen werden, ohne dass es gedruckt wird. Mit dem Buchgeld ist jede Gelddeckung aufgehoben. In Europa besteht die Basisgeldmenge M1 (Bargeld plus Girokontoguthaben) heute je nach Land zwischen 5 und 20 Prozent aus Zentralbanknoten und Münzen und zu 80 bis 95 Prozent aus Buchgeld.5
– Infolge der doppelten Buchführung können Banken selbst Buchgeld schöpfen. Diese sogenannte Giralgeldschöpfung erweitert die Geldmenge und führt zu Inflation – entweder auf den Gütermärkten oder auf den Finanzmärkten: asset price inflation (lat. inflare = aufblähen).
– An den Börsen und Finanzmärkten werden nicht nur Wertpapiere gehandelt (Aktien, Anleihen, Kredite …) sowie Rohstoffe und Währungen, sondern auch Wetten auf deren zukünftige Preisentwicklung abgeschlossen: Derivate.
– Neben den einfachen Wetten (Put-/Call-Optionen, Futures) entsteht mit dem Investmentbanking ein ganzes Universum neuer Finanzinnovationen, von der Verbriefung von Krediten unterschiedlicher Qualität (Collateralized Debt Obligations) über Versicherungen gegen den Ausfall von Krediten oder Staatsanleihen (Credit Default Swaps) bis hin zu Partial-Return-Swaps, Partial-Return-Reverse-Swaps und Total-Return-Swaps. Das globalisierte Finanzcasino wird kontinuierlich komplexer und undurchschaubarer. In den USA bewegte sich der Wert der Aktiva des Finanzsektors bis in die 1980er Jahre auf einem Niveau um 450 Prozent der Wirtschaftsleistung. 2007 stieg dieser Wert auf 1000 Prozent.6
– Die Banken weisen nur einen Teil ihrer Kreditgeschäfte in den Bilanzen aus. Ein relevanter Teil wird außerbilanziell über sogenannte Schattenbanken durchgeführt. Dabei spielen besondere Rechtskonstruktionen und Steueroasen eine zentrale Rolle. In den USA wird nur noch die Hälfte des Bankgeschäfts im Licht der Bilanzen dokumentiert, 23 Billionen US-Dollar verharren im Schatten und brüten dort neue finanzielle Zeitbomben aus.7
– Der computerisierte Wertpapierhandel (Hochfrequenzhandel) treibt die Umsatzvolumina an den Börsen ins Astronomische. Aktien und andere Wertpapiere werden in Millisekunden gekauft und wieder verkauft. Laut Insidern macht der Hochfrequenzhandel bereits über fünfzig Prozent des Aktienhandelsvolumens in New York und Frankfurt aus.8
– Der Derivate-Umsatz muss in Millionen Milliarden – in Billiarden – gemessen werden. Solche Zahlen sprengen jede Vorstellungskraft, sie sind losgelöst von den realwirtschaftlichen Kennzahlen: Der globale Waren- und Dienstleistungshandel belief sich 2011 auf 22 Billionen US-Dollar9, das Welt-BIP auf 70 Billionen US-Dollar10: zwischen einem und zwei Prozent des statistisch erfassten Derivate-Umsatzes.
Im Zuge dieser »Evolution« hat das Geld mehr und mehr Funktionen aufgeladen. Geld ist nicht mehr nur ein Wertmaß (für die Preise von Produkten und Dienstleistungen) und ein Tauschmittel oder besser: Zahlungsmittel zur Vereinfachung von Täuschen und Abwicklung von Käufen. Geld hat zudem die Funktion des Kredites, des Wertspeichers (Sparen, Altersvorsorge), des Produktionsmittels (Unternehmen), der Versicherung (gegen Ernteausfall, Wechselkursschwankung oder Zinsänderung), des Statussymbols (Anerkennung, Selbstwert, Zugehörigkeit) oder des Machtmittels (Einschüchterung, Korruption, Bestechung, Erpressung). Geld ist auch ein Steuermittel für die Finanzierung der Staatsaufgaben. Es gibt bei weitem keinen Konsens darüber, was Geld alles ist und welche Funktionen es hat. Dieser Aufgabe könnte eine systematische Geldwissenschaft nachgehen, doch ist die Existenz einer solchen nicht bekannt. Zwar tragen einzelne Lehrstühle und Lehrveranstaltungen diesen Namen, aber es gibt schon allein für Bankwissenschaften mehr Lehrstühle als für Geldwissenschaften. Die Geringachtung des Geldes betrifft prominente Ökonomen: »In der politischen Ökonomie kann es kein für sich genommen unbedeutenderes Thema geben als Geld«, meinte beispielsweise John Stuart Mill.11 Auch Paul A. Samuelson warnt in seinem Standard-Lehrbuch die Studierenden vor der Befassung mit dem Thema Geld: »Nur das Währungsproblem hat mehr Menschen um den Verstand gebracht als die Liebe.«12
Helmut Creutz schreibt: »Selbst in der zuständigen Wissenschaft wird das Thema Geld noch als Rätsel behandelt oder weitschweifig umgangen.«13 Ist es Zufall, dass es nur ein schwaches wissenschaftliches Interesse an der Funktionsweise des Geldsystems gibt, obwohl dieses zu hundert Prozent menschengemacht ist und so weitreichende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche hat? Ist der »Nebel um das Geld«14 und seine Spielregeln Teil der Herrschaft des Geldes? Es leuchtet wohl ein, dass Geld nur dann zur Zufriedenheit der Menschen funktionieren und der Wirtschaft dienen kann, wenn wir es a) gründlich durchschauen und b) bewusst gestalten – oder nicht?
Multiple Dysfunktionalität des aktuellen Geldsystems
Ergebnis der »bewusstlosen« und »lichtlosen« Geldordnung ist eine multiple Dysfunktionalität des gegenwärtigen Geldsystems aus ökonomischer, ökologischer, ethischer und demokratischer Perspektive. Das aktuelle Geldsystem ist:
– Unverständlich. Versuchen Sie, eine »ExpertIn« in zwei Minuten verständlich erklären zu lassen, wie Geld von privaten Banken geschöpft wird. Sie werden in mindestens neun von zehn Fällen scheitern. Einer der bekannteren Geld-Publizisten, Helmut Creutz, glaubt gar nicht an Geldschöpfung durch private Banken: »Würden...