Zur Einleitung:
Ein skeptischer Utopist
Sein Erscheinungsbild war außergewöhnlich. »Neurath«, so schrieb seine langjährige Freundin Margarete Schütte-Lihotzky, »war ein Hüne, groß und stark, mit langem roten Bart und kahlem Kopf, auf dem er einen riesigen Schlapphut trug. Eine auffallende Andreas-Hofer-Gestalt, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehten.«1 Man konnte ihn auch »für einen Assyrer oder Babylonier halten«, meinte Ernst Niekisch, der Mitstreiter aus der bayerischen Revolution2, für einen Epikuräer, einen »Lucullus«, korrigierte der Graphiker Gerd Arntz.3 Wenn Neurath badete, behauptete der amerikanische Philosoph Charles Morris, dann sei wegen seines Körpervolumens nur wenig Wasser notwendig gewesen, um die Wanne zu füllen.4 Wer Neurath beschrieb, konzentrierte sich zumeist auf wenige hervorstechende Merkmale (Größe, Umfang, Bart, Glatze), deren Ausprägungen allerdings unterschiedlich dramatisiert wurden. So erschien er als ein »überlebensgroßer Mann mit einer vollendeten Glatze und einem gewaltigen roten Vollbart wildester Art, der Fäuste wie ein Matrose hatte«, wie ein ehemaliger Schüler aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das Bild seines früheren Ökonomielehrers Otto Neurath in einem allerdings semifiktionalen Text zeichnete.5 »Als Du 18 Jahre alt warst«, schrieb ihm die Schulfreundin Dora Lucka rückblickend im britischen Exil, »hattest Du einen roten Bart, sehr viele Gliedmaßen und fuchteltest mit den Händen und vermutlich auch mit den Füßen, wenn Du eine Debatte abführtest.« Ein gemeinsamer Freund habe deswegen auch immer einen Tisch dazwischen gestellt, bevor er mit dem jungen Neurath zu debattieren begann.6 Ruhigere Gemüter, so wird berichtet, konnten den streitlustigen Riesen nur schwer ertragen. Seine Stimme dröhnte so laut, dass der Philosoph Moritz Schlick angeblich meinte, so jemanden könne man jedenfalls nicht in ein Haus einladen, in dem zuerst Mozart gespielt und danach leise darüber gesprochen wurde.7 Kein Wunder, dass sein Sohn Paul, der schon als Kleinkind von seinem Vater getrennt wurde, den Mann ein wenig zum Fürchten fand, als er ihn als knapp Zehnjähriger erstmals wiedersah.8
Erinnerungsbilder wie diese formen schon mehr eine literarische Gestalt als eine reale historische Person. Konsequenterweise ließ sein kurzzeitiger Mitarbeiter im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, der Schriftsteller Rudolf Brunngraber, im Jahr 1949 den vier Jahre zuvor gestorbenen Otto Neurath als Romanfigur wiederauferstehen. Jetzt sah der Koloss schon aus, als entstiege er »einem Kondottierebild des Castagno. Kahlköpfig, glattrasiert, mit einer viereckigen Nase, die wie ein Würfel aus dem Gesicht sprang, zwei Meter groß, mit bergigen Schultern und fettem Bauch.« Übertreibung ist ein legitimes Stilmittel der Literatur. Zwei Meter groß war Otto Neurath sicherlich nicht, aber auch mit 1,87 Meter, von denen Zeitgenossen berichten, ja selbst mit 1,82 Meter, die das militärische Hauptgrundbuchblatt für den jungen Rekruten Otto Neurath verzeichnet, überragte er die meisten seiner Zeitgenossen.9 Das zeigt sich auch auf zahlreichen Fotografien. Rudolf Brunngraber setzte seine Beschreibung fort: »Bei näherem Zusehen muteten die Elefantenaugen ebenso listig wie freundlich an und der Mund kokett wie der eines Mädchens.«10 Diese Elefantenaugen waren möglicherweise weniger der treffenden Beobachtungsgabe des Schriftstellers geschuldet als dem Umstand, dass der Elefant so etwas wie ein Selbstbild Otto Neuraths war: Neurath setzte gerne anstelle einer Unterschrift die Zeichnung eines Elefanten ans Ende seiner Briefe und griff damit in ironischer Weise das Motiv seiner Körpergröße auf. Diese Zeichnungen verraten Humor – als den »witzigsten Mann von Wien« soll ihn das Wiener-Kreis-Mitglied Herbert Feigl einmal bezeichnet haben.11 Seinen Humor, generell eine positive Lebenseinstellung scheint Otto Neurath über die Brüche seiner Biographie hinweg bewahrt zu haben. Angesichts eines überaus turbulenten und auch von schweren persönlichen Schicksalsschlägen gezeichneten Lebens ist das keine Selbstverständlichkeit.
Otto Neurath lebte und arbeitete in vielen verschiedenen Städten. Die beiden für ihn wichtigsten waren wohl Wien und Oxford. Der 1882 in der Donaumetropole Geborene liebte seine Heimatstadt – auch wenn er schon früh aus Studien- oder beruflichen Gründen für längere Zeit in Berlin, Leipzig und München war oder etwa die Länder des Balkans bereiste. Er galt als lebenslustig und gesellig, verzichtete aber auf Tabak und Alkohol. Von zwei legendären Wiener Institutionen – dem »Heurigen« und dem Kaffeehaus – besuchte er daher nur Letzteres, vor allem um Besprechungen abzuhalten, zu diskutieren und Zeitungen zu lesen – nicht selten alles zugleich. In der Emigration rief er sich diese Eindrücke, Orte, Menschen und Stimmungen in Erinnerung, sprach und korrespondierte mit Freundinnen und Freunden darüber und verwendete typische Wörter, Ausdrücke und Sprüche seiner Heimatstadt. In seinen letzten Jahren begann er allerdings seine Wiener Zeit neu zu betrachten, seine damalige Rolle zu überdenken und vor allem die hässlichen Seiten der Stadt einer kritischen Analyse zu unterziehen. Dazu zählte der Antisemitismus, mit dem er als Sohn eines jüdischen Vaters immer wieder konfrontiert gewesen war. Als er Wien im Zuge des Bürgerkriegs im Februar 1934 für immer verlassen musste, fand er zunächst im holländischen Den Haag und dann im englischen Oxford eine neue Heimat, mit der er sich geradezu vorbehaltlos identifizierte.
Obwohl Otto Neurath sich in vielen Bereichen einen Namen gemacht hatte und vor allem im Roten Wien der Zwischenkriegszeit geradezu ein public intellectual gewesen ist, erinnerten sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der NS-Herrschaft nur mehr wenige an ihn. Nach seinem Tod am 22. Dezember 1945 erschienen zwar einige Nachrufe, etwa in österreichischen, deutschen, britischen oder amerikanischen Medien, doch bald schien er vergessen zu sein. Erst in den 1970er und 1980er Jahren setzte ein langsamer Prozess der Wiederentdeckung ein, der sich bald beschleunigte und im Grunde bis heute anhält. Einzelne Teile des vielschichtigen und umfangreichen Lebenswerks haben neues Interesse hervorgerufen und damit unterschiedliche Bilder Neuraths in Erinnerung gebracht: der Anti-Philosoph des legendären Wiener Kreises, der die Metaphysik aus dem wissenschaftlichen Denken verbannen wollte, der Arbeiterbildner und revolutionäre Sozialisierungstheoretiker, der einen Weg in den nahen Sozialismus aufzeigte, der Erfinder einer internationalen Bildsprache, deren Spuren bis zu den optischen Leitsystemen und Infographiken der Gegenwart reichen. Otto Neurath bearbeitete so viele Fragestellungen und Themenbereiche auf den Gebieten der Ökonomie, Soziologie und Philosophie, der Wissenschaftslogik und Wissenschaftsgeschichte, der Bildpädagogik und selbst der Literaturgeschichte, dass sehr leicht der Eindruck verschiedener intellektueller Biographien entstehen kann. Tatsächlich ist Neuraths Werk aus verschiedenen Ansätzen und Fachbereichen heraus – etwa der History and Philosophy of Science, der Bildpädagogik und des graphischen Designs, der Geschichte der Arbeiterbewegung und vielen anderen mehr – immer wieder neu entdeckt worden, oft ohne dass die Forschenden die Arbeiten der jeweils anderen zur Kenntnis nahmen oder auch nur voneinander wussten. Eine mittlerweile in ihrer Fülle nur schwer überschaubare wissenschaftliche Sekundärliteratur macht dies freilich nicht immer einfach.
In diesem Buch wird nun der Versuch unternommen zu zeigen, dass klare Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Teilen von Neuraths Werk existieren. Otto Neurath hatte zweifelsfrei ein wissenschaftliches und ein politisches Programm. Obwohl darin viele unterschiedliche intellektuelle Strömungen einflossen, basierte es vor allem auf einem reflexiven Verständnis der Aufklärung, in deren enzyklopädische Tradition er sich explizit stellte, und verfolgte das Ziel eines selbstbestimmten, sozialen und »glücklichen« diesseitigen Lebens. Neurath suchte dabei mit wissenschaftlicher Hilfe nach Möglichkeiten ökonomischer Planung und politischer Gestaltung, die er als vereinbar mit individueller Freiheit und gesellschaftlichem Pluralismus betrachtete. Seine »wissenschaftliche Weltauffassung« war weder naiver Positivismus noch fortschrittsgläubiger Szientismus. Er wollte kein wissenschaftliches »System« entwerfen, das an die Stelle politischer oder religiöser, die Menschen entmündigender Ordnungssysteme trat, sondern betonte im Gegenteil die Vorläufigkeit und grundsätzliche Fehlbarkeit wissenschaftlicher Aussagen. Entscheidungen zwischen verschiedenen, jeweils gut begründbaren Optionen, auch solche politischer Natur, müssen daher immer wieder und ohne absolute Sicherheit von den Menschen getroffen werden.
Dieses Buch ist sowohl eine intellektuelle als auch eine politische Biographie, in der die widersprüchlichen Zugänge Neuraths zur und seine Rolle in der Politik kritisch diskutiert werden. Gerade politische Fragen und Positionen bildeten ein wichtiges Bindeglied der verschiedenen Teile von Neuraths Werk. Er verstand sich zwar selbst niemals vorrangig als politischen Aktivisten, geschweige denn als Politiker. Doch obwohl er selbst den heute etwas irritierenden Begriff des »Gesellschaftstechnikers« verwendete, um seine Rolle zu beschreiben, war er ein politischer Intellektueller. Wie zu zeigen sein wird, produzierte diese selbst definierte Rolle eines unpolitischen Experten Probleme, sowohl theoretische als auch praktische. Für eine...