H. J. Peiper: Liebe Familie Heberer, verehrte liebe Renate, meine Damen und Herren!
„Bei jedem Abschied stirbt ein Stückchen Gegenwart in uns
und wird Vergangenheit,
doch unsere Seele weiß,
wie man das Glück bewahrt
in der Erinnerung
und so ihm eine Zukunft gibt,
die ohne Ende ist.“
Marlene Hörmann
Das Glück, daß es ihn gab, läßt dankbar sein. Es gab ihn für uns Schüler in unbestrittener Einmaligkeit.
Ich darf für seine Schüler sprechen, deren Ältester ich bin, und tue dies eingedenk einer ungewöhnlichen Vielzahl von Chirurgen, von Lehrstuhlinhabern, Chefärzten und Fachärzten, die bei unterschiedlichen Wechselbeziehungen seinen Einfluß auf das eigene Leben als Geschenk in die Zukunft mitnehmen konnten.
1953 hatte Rudolf Zenker mich bei Eintritt in die Marburger Klinik mit den Worten: „Ich ordne Sie meinem Oberarzt Heberer zu“ schicksalsmäßig an den jungen, soeben Habilitierten und gerade Verheirateten verwiesen, was mich zu seinem ältesten Wegbegleiter machen sollte. Ich durfte seinen erfolgreichen akademischen Weg über eine längere Strecke miterleben, was für den jungen Chef in den Kölner Kliniken nach einer späteren Buchwidmung zu „Jahren freudiger, fruchtbarer und vollendeter Zusammenarbeit“ werden sollte. Ich wurde sein erster leitender Oberarzt während der Kölner Zeit und zugleich sein erster Habilitand.
Georg Heberer, wie erlebten wir ihn, wie sah ihn die Umwelt? Er imponierte als begnadeter Chirurg, als innovativer Wissenschaftler, als faszinierender Lehrer; er beeindruckte durch ein immenses Spektrum künstlerischer, literarischer, historischer und kultureller Interessen und als ein Mensch zugleich mit der überzeugten Einbindung in den uralten ethischen Kodex des Arztes in Humanitas und Caritas. Kommunikationsfreude, Organisationstalent und ein scharfer Intellekt waren vereint mit Charme, Humor und großer Ausstrahlungskraft – auch mit Ecken und Kanten natürlich.
Dies alles zog uns in seinen Bann, beeinflußte unsere eigene Entwicklung und ließ uns mit seiner Förderung eigene Lebensaufgaben finden. Sein Umfeld wuchs mit jeder neuen Herausforderung. Ideenreichtum, Vorausblick und Durchsetzungsvermögen ließen ihn, wie wenige Chirurgen der Nachkriegsgeneration, Neuland in Klinik und Forschung erobern, die Entwicklung bedeutender akademischer Einrichtungen beeinflussen und internationales Ansehen gewinnen. Vier chirurgische Universitätskliniken wurden von ihm umgestaltet, modernisiert oder, wie in Großhadern, in Betrieb genommen.
1959 richtete er in Köln-Merheim, erstmalig für Deutschland, eine Abteilung für Experimentelle Chirurgie ein, die er dem Physiologen Bretschneider aus Göttingen anvertraute. Auf den 1. Lehrstuhl für Chirurgie nach Köln-Lindenthal berufen, realisierte er eine verbesserte Neuausführung dieser schon bald renommierten Institution als Voraussetzung für einen Umzug über den Rhein. Dort hat Herr Isselhard später Bretschneider ersetzt, als dieser den Lehrstuhl für Physiologie in Göttingen übernahm.
Eine Abteilung für chirurgische Immunologie kam unter Herrn Hermann hinzu. Dies geschah mit der Absicht, die gerade aufkommende Transplantationschirurgie von Anfang an wissenschaftlich fundiert aufzubauen.
In der Lindenburg ließ Georg Heberer unter Mitwirkung seiner Anästhesisten Eberlein und Bonhoeffer die wohl erste, hochmoderne und in einer bis dahin einmaligen Konzeption ausgeführte Intensivstation bauen.
Die Herzchirurgie wurde etabliert, in der er zusammen mit Zenker erste erfolgreiche Eingriffe mit der Herz-Lungen-Maschine bereits in Marburg durchgeführt hatte und nahm, erstmalig in der Welt, Resektionen von herznahen Aortenaneurysmen mit einer neuartigen, von Bretschneider und seinen Mitarbeitern entwickelten Kardioplegie vor. Einzelheiten jener wissenschaftlichen und klinischen Pioniertaten hat Herr Schildberg bereits dargestellt. Mir kommt es darauf an, die Auswirkungen jener Jahre auf die mehr und mehr hinzustoßenden Mitarbeiter zu schildern.
Was hat diesen Motor angetrieben, sich und seinen Schülern immer neue Aufgaben zu stellen, den Erfolg als Ansporn zu neuen Leistungen und den Mißerfolg oder Schwierigkeiten als Herausforderung zu ihrer Bewältigung zu verstehen? War es eine große Freude am Sein, am Erleben des aktiven Mitgestaltens, an der Durchsetzung eigener Wertvorstellungen, war es das Wissen um ein Höchstmaß an ärztlicher Verantwortung im Beruf des Chirurgen?
Der Ausbau von Schwerpunkten in der Gefäß- und Thoraxchirurgie, in der plastischen Chirurgie, in der gastroenterologischen, in der endokrinen Chirurgie usw. entsprachen Heberers Vorstellungen von der koordinierten Vielfalt in der Einheit einer Klinik. Diese Konzeption wurde in München in der Innenstadt und in Großhadern ausgebaut. Hier entstanden das Projekt des „Münchner Modells zur Organtransplantation“ und die Organisation eines Traumazentrums.
„Ausbildung durch Forschung“ und „Fortschritt durch Forschung“ erhob Heberer zur Maxime seines Nachwuchses. Dabei förderte er die „Klinische Chemie und Biochemie“, wie sie auf Frey und Wehrle zurückging, und schuf eine klinikinterne „Sektion für Klinische Forschung“ unter Brendel und danach Meßmer. „Stand und Gegenstand chirurgischer Forschung“ widmeten wir Schüler dem Chef als wissenschaftliche Veranstaltung und in Buchform zu seinem 65. Geburtstag. Dies spiegelt die unermüdlichen Impulse für Forschungsarbeiten in den verschiedensten Bereichen des großen Gebietes der Chirurgie wider.
Georg Heberers Ideenreichtum ging über Jahrzehnte in die Gestaltung regionaler, nationaler und internationaler Fachveranstaltungen und -kongresse ein.
Auf das umfangreiche literarische Oeuvre ist Herr Schildberg bereits eingegangen. Thematisch beschäftigte ihn dabei immer wieder das Spannungsfeld zwischen Tradition, technischem Fortschritt und ärztlichem Auftrag mit seiner geistig-moralischen Bewältigung.
Voraussetzungen für die nur exemplarisch aufgewiesene Lebensleistung Georg Heberers waren sein kompromißloser Leistungswille mit einem feinen Gespür für sich anbahnende Entwicklungen, eine mitreißende Motivationsbefähigung, Menschenkenntnis und ein souveräner Führungsstil – dabei die Mentalität eines Vollblutchirurgen von schier unerschöpflichem Durchstehvermögen und mit überschäumender Vitalität, eines Klinikers von Leib und Seele.
Dabei ließ er seinen vielen Mitarbeitern adäquaten Freiraum zu eigener Profilierung. Eine Vielzahl von Namen wäre zu nennen, würde aber den gegebenen Rahmen sprengen.
So entstand eine Chirurgenschule bester Prägung, in der trotz natürlicher Konkurrenz und unterschiedlicher Charaktere stets Toleranz und Zusammengehörigkeitsgefühl herrschten. Vielfach heute in Frage gestellt, setzt diese Schule das Erbe von Payr, Kirschner und Zenker fort. Die Realität einer Chirurgenschule ergab sich für uns als Schüler Georg Heberers als Selbstverständlichkeit. Es entsprach seiner Überzeugung, wie er sie bei seiner Abschiedsvorlesung noch einmal zum Ausdruck brachte: selbst im Hinblick auf die sich so rasant verändernden substantiellen Grundlagen, sollte eine Weitergabe von Wertvorstellungen und die Einzelbeziehung zwischen Lehrer und Schüler auch in Zukunft unberührt bleiben.
Neben einer Persönlichkeitsprägung durch die Vorbildfunktion des Chefs entwickelte sich weit mehr, vor allem das Gefühl, einer großen Familie anzugehören. Wir danken bei dieser Gelegenheit Renate Heberer, diesbezüglich integrierend und immer mit offenem Ohr und Herzen, auch für unsere Frauen, gewirkt zu haben.
Für Viele von uns war Georg Heberer nicht nur Lehrer, sondern Freund. Es drängt mich dabei, Theodor Billroth zu zitieren aus seinem Nekrolog auf den geliebten Lehrer und Freund Wilhelm Baum in Göttingen; „Er gehörte zu den Menschen, von welchen Shakespeare sagt, sie seien „in der Verschwendung der Natur geboren.“ Aus der Fülle seines Wissens, Fühlens und Könnens gab er mit verschwenderischem Wohlwollen seine Gaben der Menschheit hin. Sein Geist war stets beweglich, er hatte die regeste Teilnahme an den Menschen und an allen menschlichen Dingen, und so erzeugte er stets Bewegungen auf Bewegungen, und das ist doch eigentlich die Unsterblichkeit des Geistes!“
Auch bei Georg Heberer taten sich Welten jenseits des Berufslebens auf. Wir Schüler durften teilhaben an seinen Anregungen zu Ausstellungsbesuchen überall in der Welt, an seinen Konzerterlebnissen, an gemeinsamen Kongreßbesuchen, an den vielen, vielen Büchern, die er zwischen den sonstigen zahlreichen Aktivitäten, auch den sportlichen, wie Skilaufen und Golfspielen, las und weiter empfahl. Wir erinnern an wahre Sternstunden des Zusammenseins: an die Oper in Sydney, an die Museen in Chicago, an das Spiel von Frau Trede an der größten Orgel Asiens in Hongkong, an den Start von John Glenn in Fort Lauderdale und Claudio Abbado in der Berliner Philharmonie nach einem Weg vom „Adlon“ durch Brandenburger Tor und Tiergarten. Vor unseren Augen erscheinen die Kreidefelsen auf Rügen, der Hafen von San Francisco, die „Dame von Elche“ und das Brücke-Museum, der Gipfelaufstieg auf den Spitzkogel in Osttirol und die Bergwelt von Arosa, auch die winterlichen Skiabfahren mit Freund Nikolaus, dem Postboten. Oder in Japan: die Barnes-Collection in Tokio, die Tempel und Gärten von Kioto und Nara, Himeji, die atemberaubende mittelalterliche Burg.
Und dann: „Om Mani Padme Hum“ – das berühmte, auf der ganzen Welt bekannte Mantra hat ihn auf seinen zahlreichen Wegen durch die buddhistische Welt als mystisches Gelübde des Erleuchtungswesens immer wieder beeindruckt, wenn er es...