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E-Book

German Glück

Reise durch ein unerwartet glückliches Land

AutorSabine Eichhorst
VerlagLudwig
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641199951
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die Deutschen haben einfach kein Talent zum Glück: Sie sind unzufrieden und blicken pessimistisch in die Zukunft, sagen Statistiken. Von wegen!

Sabine Eichhorst reist durch Deutschland und findet das Glück in Kiel und München, Duisburg und Leipzig. Ein Pastor im Rollstuhl erzählt vom Glück, nicht mit Gott und dem Leben zu hadern, und eine Frau, deren Firma in Konkurs ging, vom Glück des Scheiterns. Ein Metzger berichtet vom Glück, den richtigen Beruf zu haben, eine Ex-Eremitin vom Glück des Alleinseins, eine Flüchtlingshelferin vom Glück zu helfen ... Eines ist allen Glücklichen gemein: Sie machten sich auf die Suche, statt zu warten, dass das Glück sie findet.

Neunzehn sehr persönliche und beeindruckende Begegnungen mit glücklichen Deutschen.



Sabine Eichhorst studierte Germanistik und Soziologie, arbeitete lange als Journalistin für verschiedene Radioprogramme der ARD und wurde für ihre Reportagen mit dem CIVIS-Medienpreis und dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet. Seit 1993 schreibt sie auch Bücher und veröffentlichte u. a. den SPIEGEL-Bestseller »Ein Tagwerk Leben - Erinnerungen einer Magd«. Zuletzt erschienen ihre Sachbücher »Der Himmel so weit« (2015) und »Der Mann im Wald« (2016), der Roman »Die Liebe meines Vaters« (2016) sowie der SPIEGEL-Platz-1-Bestseller »Sonnenseite« (2021).

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Leseprobe

Das Glück der Möglichkeiten

Zum ersten Mal sah ich Ruth Frobeen bei einer Weihnachtsfeier. Sie trug ein rotes Kleid, ihr dunkles Haar war hochgesteckt und sie strahlte. Sie strahlte vor Glück, so unbedingt, dass ich, nachdem ich mich an den Tisch gesetzt hatte, immer wieder zu ihr hinübersah. Diese Frau, dachte ich, muss eine wundervolle Kindheit gehabt haben. Sie schien in sich zu tragen, was Kinder im besten Fall, wenn sie in Liebe und Geborgenheit aufwachsen, entwickeln: ein tiefes Zutrauen zu sich und der Welt. Ist das nicht eine unabdingbare Voraussetzung für Lebensglück? Wie sonst könnte ein Mensch so unbedingte Zufriedenheit verströmen?

An einem verhangenen Freitagmorgen im Juli 2016 treffe ich Ruth wieder – erste Station auf der Reise in Sachen Glück ist eine Geigenbauwerkstatt in Hamburg-Eimsbüttel. Überall stehen, hängen, liegen Geigen, Bratschen, Celli. Auf einer Werkbank ein Bogen, ein Stück Kolophonium, es riecht nach Holz und Leinöl, im Radio spielt leise Musik.

»Kaffee?«, fragt Ruth und deutet auf eine Espressomaschine.

»Tee?«, frage ich.

Sie lacht. Ja, Tee könne man mit der Maschine auch machen. Sie sieht zu ihrem Mann hinüber. Frank Frobeen legt die Geige beiseite, der er gerade neue Saiten aufzieht, steht auf und nimmt ein zierliches Porzellantässchen aus dem Schrank. Ich kümmere mich darum, sagt er. Leise und freundlich, fürsorglich.

Wir gehen in den hinteren Teil der Werkstatt. Ruth ist Übersetzerin, Texterin und Autorin, in ihrem Büro steht ein großer Schreibtisch, vor dem Fenster ein Stehpult, daneben ein erbsengrünes Sofa. An einer Wand drei großformatige Stillleben. Auf dem Fensterbrett Kakteen und eine goldene Kaffeekanne.

»Ruth, hattest du eine glückliche Kindheit?«

Sie denkt kurz nach. »Doch«, sagt sie, »meine Kindheit war gut. Keine schlimmen Sachen. Ich habe die Dinge genommen, wie sie waren.«

Ruth wuchs ohne Vater auf. Als junge Frau ging ihre Mutter auf Weltreise, in Spanien traf sie Jaime und blieb. Als sie schwanger wurde und nach Deutschland zurückkehrte, kam Ruths Vater mit. Er landete in einer fremden Stadt in einem kalten Land, verstand die Sprache nicht, die Menschen nicht und am Ende auch nicht die Frau an seiner Seite. Und verschwand. War über Nacht einfach fort und tauchte nicht wieder auf. Ruth störte das nie. Sie wuchs in einem Haus voller Kinder auf, viele Scheidungskinder, ohne Vater wie sie, gemeinsam streiften sie durch die Straßen, liefen zum Kanal, bauten Hütten, bildeten Banden, mitten in der Stadt war Eimsbüttel ein Dorf. Als sie zehn war, fuhr sie mit der U-Bahn zu ihrer Großmutter, stolz, so selbstständig zu sein, so autonom. »Das Einzige«, sagt sie, »was mich manchmal störte, war, dass wir wenig Geld hatten.« Zu Ostern bekam sie ein Springseil – ihre beste Freundin ein lebensgroßes Reh aus Plüsch. Zum Geburtstag ein Buch – ihre Freundin eine Barbiepuppe. Andere Kinder fuhren nach Frankreich – Ruth und ihre Mutter machten Urlaub am Plöner See. »Aber«, sagt sie, »das hat mich auch stark gemacht.«

Sie ist elf Jahre alt, als sie auf dem Flohmarkt Spielsachen und Comics verkauft. Sie ist zwölf, als sie für ihre Großmutter, eine Genealogin, kleine Aufträge erledigt: Listen abtippen, Unterlagen archivieren, Bücher sortieren. Mit vierzehn läuft sie die Osterstraße, die Haupteinkaufsstraße im Viertel, hinauf und hinunter, eine Stunde ist sie unterwegs, vielleicht zwei, und staunt: Die Bäckerei sucht eine Aushilfe, das Café eine Kellnerin, der Lebensmittelladen jemanden, der Ware auspackt – in zahllosen Schaufenstern hängen Zettel, auf denen Jobs angeboten werden. Vor jedem Fenster bleibt sie stehen, späht hinein und stellt sich vor, wie es wäre, dort zu arbeiten. Hochzufrieden kehrt sie nach Hause zurück.

Sie suchte keinen Job. Es gab nicht viele Dinge, die sie unbedingt haben wollte, sich aber nicht leisten konnte. Was sie suchte, waren Möglichkeiten. »Ich habe meinen Blick geschärft«, sagt sie. »Wie könnte ich Geld verdienen, wenn ich es wollte?«

Das Jonglieren mit Möglichkeiten, diese Exkursionen in der Fantasie – was wäre, wenn? – liebt sie heute noch. Es ist das Wissen um Möglichkeiten, das Weiten der eigenen Welt, das Menschen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit gibt. Wer weiß, was er kann, fühlt sich nicht als Spielball fremder Mächte. Das hilft manchmal sogar, sich mit unbefriedigenden Situationen, die man im Moment nicht ändern kann, zu arrangieren.

»Absolut!« Ruth lacht, löst ihr Haar und wickelt es mit wenigen entschiedenen Handgriffen zu einem neuen Knoten. »Manchmal«, sagt sie, »wenn ich Leute über ihren Job jammern höre, denke ich: Überleg dir, was du willst, mach es in Teilzeit und in der restlichen Zeit verdienst du dein Geld. Dann räumst du von fünf bis neun irgendwo Regale ein und weißt beim Frühstück: Jetzt habe ich Zeit, mich um das zu kümmern, was ich gern machen möchte!«

»Regale einräumen?« Jetzt lache ich, denn ich höre schon die Chöre: Von fünf bis neun Uhr früh, spinnst du?

»Es kann auch ein anderer Job sein.«

»Du bist also bereit, einen Preis zu zahlen für Veränderung und Glück?«

Sie überlegt einen Moment. Und sagt: »Ich finde, früh aufzustehen ist kein hoher Preis.«

Als Ruth achtzehn ist, fährt sie mit ihrer Mutter nach Spanien, in den Ort, aus dem ihr Vater stammt. Ein paar Einheimische erkennen die Mutter wieder. Vom Vater keine Spur. Ich muss ihn auch nicht kennenlernen, denkt Ruth. Ich vermisse ihn nicht. Sie werde wirklich oft gefragt, sagt sie und seufzt, ob sie nicht neugierig auf ihn sei. Aber: Nein, ist sie nicht. Es sei alles so lange her, er sei irgendein Mann, der einmal eine Weile mit ihrer Mutter glücklich war, that’s it. Sie klingt dabei nicht traurig, nicht trotzig, nur nüchtern. Ihre Wurzeln hat sie dennoch gepflegt. In der Schule lernte sie Spanisch, war ein Jahr als Austauschschülerin in Honduras, studierte Englisch und Spanisch. Sie hatte nun einmal diesen Vater und die Vorstellung, dass irgendwo Menschen lebten, mit denen sie verwandt sei, Halbgeschwister gar, die sie zwar nicht suche, mit denen sie aber, wenn sie sie träfe, nicht sprechen könnte, fand sie befremdlich.

Wieder ging es ihr um Möglichkeiten.

Dass ihre Töchter einen Vater haben, macht Ruth trotzdem froh. Frank lernte sie kennen, als sie auf der Suche nach einer Bratsche zu dem alten Geigenbaumeister ging, den sie schon lange kannte. Ein fremder junger Mann öffnete ihr. Schaute auf das dänische Buttergebäck in ihren Händen und sagte: »Das ist kein Kuchen.« Sie hatte dem alten Geigenbaumeister versprochen, Pflaumenkuchen mitzubringen, aber nirgendwo welchen gefunden. Was für ein frecher, gut aussehender, eingebildeter Fatzke!, dachte Ruth.

Als sie wenige Tage später wieder die Treppen zur Werkstatt hinaufläuft, diesmal mit Pflaumenkuchen (aber ohne Sahne, damit sie vielleicht, ganz vielleicht, einen Grund hat, am Tag darauf noch einmal zu kommen), ist der alte Geigenbaumeister nicht da. Ruth und Frank essen Kuchen und reden und reden und reden.

Dann fliegt Ruth nach England, zum Studium.

Die beiden schreiben sich Briefe. Sie telefonieren. Und eines Tages, sie kennen sich gerade drei Monate, steht Ruth wieder in einer roten Telefonzelle, draußen regnet es in Strömen und Frank erzählt von der Hochzeit eines Freundes. »Und wann heiraten wir?«, fragt sie.

Und denkt im nächsten Moment: Auweia, was habe ich gesagt? Ich habe ihm einen Heiratsantrag gemacht!

Wenn er Ja sagt, werde ich hysterisch.

Wenn er Nein sagt, todtraurig.

Wenn er Ja sagt, stellt es mein Leben auf den Kopf.

Wenn er Nein sagt, auch.

Beides ist schrecklich, irgendwie …

Ruth hält den Atem an und Frank denkt nach, einen endlosen Augenblick lang. Dann sagt er: »Mach dein Studium zu Ende und anschließend zieh zu mir.« Er wohnt zu der Zeit in einer 30-Quadratmeter-Wohnung. »Sollten wir nach einem Jahr immer noch heiraten wollen, heiraten wir.«

»So«, sagt Ruth und muss laut lachen, »treffen wir bis heute alle wichtigen Entscheidungen.« Aus dieser Verbindung von Spontaneität und Klugheit heraus, wo nüchterne Überlegung auf Eingebungen trifft, sie beleuchtet, prüft, bescheidet. »Und es gibt nichts, was wir bereuen«, fügt sie hinzu, »cool, oder?« Ihre Wangen glänzen. Ihre großen dunklen Augen strahlen.

Woher nimmt sie den Mut?

»Man entscheidet sich eben.«

Man entscheidet sich eben? Als gäbe es da draußen nicht Scharen von Menschen, die ein Leben damit verbringen, nach dem besseren Mann, dem besseren Job, dem besseren Haus, dem besseren Leben zu suchen.

Ruth schüttelt den Kopf. »Man verliebt sich«, sagt sie, »aber dann entscheidet man sich auch füreinander. In schwierigen Zeiten weiß man: Man hat sich füreinander entscheiden, man hat ein gemeinsames Ziel.« Allerdings müsse man im Dialog bleiben, sonst ginge es nicht. Frank und sie reden viel. Sie streiten auch viel, aber sie finden immer eine Lösung, weil sie miteinander reden.

»Ich glaube …« Ruth legt den Kopf ein wenig auf die Seite und denkt nach. »Ich glaube, ich betone gern das Gute in den Dingen. Ich suche es, schäle es heraus oder versuche, Dinge zum Guten zu wenden. Es käme mir gar nicht in den Sinn, nach einem anderen Mann zu suchen, einem, der vielleicht noch etwas besser ist als der, den ich habe.« Dabei glaubt sie nicht einmal, dass es nur eine Liebe im Leben gibt. Frank sei durchaus ihre große Liebe – aber es hätte auch ein anderer sein können.

Glück...

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