»Es ist größer, ein Heer zu führen. Am allergrößten: ein Volk.«
Der Maler sagt es wie zerstreut.
Moreau spricht langsam und kaut jedes Wort in seinem Munde: »Ich hasse das Volk, nachgerade, einzeln und in Masse. Was wollen Sie von mir? Es ist Friede. Können die Bourbonen noch immer nicht schlafen, wenn sie nachts an Frankreich denken?«
»Sie träumen auch am Tage von Frankreich.«
Der Zeichner strichelt an seinem Blatt.
»Man will eine Diktatur errichten. Bonaparte ist aus Ägypten zurückgerufen. Man schwankt zwischen Bonaparte und – Ihnen. Die Tugend und ihr Recht, General, ist auf Ihrer Seite. Warum zögern Sie? Ein Wort – und Sie sind Frankreichs Konsul. Das Volk liebt Sie. Es fürchtet Bonaparte.«
»Ich hasse das Volk. Darum wünsche ich ihm Bonaparte. Er wird es zugrunde richten. Ich werde denken: er ist das Werkzeug meiner Hand – weil meine Hand ihn gewähren ließ –, wenn er Frankreich quält. Denn es kostete mich – kaum ein Wort, nur eine winzige Tat, und Frankreich segelte nach meinem Winde. Aber ich bin Soldat. Nur Soldat. Verstehe mich nicht aufs Regieren. Nehmt den kleinen Korporal.«
Der Wagen rauscht durch die herbstliche Landschaft. Nebel hängt sich an die Flanken der Pferde.
Wohin fahre ich?
Moreau vergräbt sich in die Polster einer zärtlichen Vergangenheit. Noch schwärmt der Duft süßester Demoisellen verstaubt in den Nähten der Kissen, in den Ritzen der Fenster. Noch schwingt ein Hauch galanter Worte in den wehenden Gardinen.
Die süßesten Demoisellen wurden wilde Panther, die mit den Zähnen ihre Opfer zerrissen.
Die lispelnde Galanterie verklang im Gebrüll der Carmagnole.
Der König, – wenn er ein wenig vernünftiger gewesen wäre?
Aber Könige sind nie vernünftig.
Es hat ihn gereizt, das Schicksal, das er über sich aus den Lüften hereinbrechen sah, herauszufordern.
Was tat er, Moreau, anderes?
Der Bonaparte ist ein böser Hund, den man zertreten sollte. Er wird noch einmal die Tollwut kriegen. Die Inkarnation des Pöbels. Vom Pöbelwahn geboren. Im Meer des Volkes an den Strand getrieben. Eine ganz gewöhnliche Muschel, die vortäuscht, eine Perle zwischen ihren Schalen zu verbergen.
Ein Italiener! Ein Korse!
Das Volk braucht zur Anbetung immer ein Fremdes, Unbegreifliches, eines, das aus der Ferne kommt, die niemand kennt, von den Felsen Korsikas, aus der Bläue eines heißeren Himmels, im Blut die Rache seiner Väter fühlend.
Mein Vater war nur ein harmloser Advokat.
Advokaten liebt das Volk nicht. Es will betrogen, aber nicht verteidigt sein. Angeklagt will es werden. Ausgepeitscht. Gemartert und bespien. Dann leckt es verzückt seinem Quälgeist die Schuhe und frißt aus der Hand.
– Es dunkelt.
Der Wagen hält. Ein einsames Gasthaus liegt, wie aus dem Himmel gefallen, gleich einem Klotz im unfreundlichen Nebel. Der Kutscher steigt vom Bock und öffnet den Schlag.
»Mein Herr, wir müssen übernachten …«
Moreau wird mißtrauisch: »Was ist das für eine zweifelhafte Bude? Ihr seid bestochen. Wohin fahrt Ihr mich?«
Der Kutscher zuckt nachsichtig die Achseln.
»Eine schlimme Zeit. Aber ich bin nicht befähigt, sie zu verschlimmern.«
Moreau ragt im Nebel vor dem Wagen wie ein Meilenstein. Eine schmierige Funzel hängt wie ein Lampion trübe über ihm. Rechts stehen lange Reihen steifer Gespenster, welche die hölzernen Giraffenhälse nach Moreau recken.
Ich könnte jetzt in den Wald entlaufen, überlegt Moreau. Man würde mich nicht finden bei einem solchen Nebel.
Laut sagt er: »Ihr kennt Bonaparte?«
»Ja – und ich kenne Euch – und Sie kennen mich … Treten Sie nur unter das Haustor dort. Der Regen durchnäßt einen bis auf die Haut. Wir bleiben die Nacht hier.« –
Moreau sah die schlanken, eleganten Hände des Kutschers:
Wo habe ich nur mit diesen Händen schon zu tun gehabt?
Streichelten sie nicht einst einen Fiebernden und lagen kühl und fest auf seiner Stirn? Und dieser gute Glanz der Augen!
»Warum kommt Ihr immer wieder zu mir? Glaubt Ihr, daß ich krank bin?«
Der Kutscher sagte:
»Sie sind krank, General. Ich will Sie heilen, wie ich Sie schon einmal geheilt habe.«
»Ich habe den Maler neulich zur Tür hinausgeworfen.«
Der Kutscher lachte höflich.
»Oh, das hat nichts zu besagen. Sie werden ihn übrigens ebenfalls hier im Hause vorfinden. Dazu jemand, den Sie schwerlich hier vermuten werden. Treten Sie, bitte, ein.«
Er stieß die Tür auf (mit einem seiner schweren Stiefel: es machte ihm ersichtlich Vergnügen, Kutscher zu sein) und ließ Moreau eintreten. In einem gekalkten und verräucherten Gastzimmer saßen etwa zwanzig Männer ernst und schweigend beim Schein einiger Kerzen um einen langen, ungedeckten Tisch. Jeder hatte eine Kanne mit rotem Wein vor sich stehen.
Beim Eintritt Moreaus erhoben sich alle von den Bänken.
Einer sagte:
»Es lebe Moreau!«
Die andern stimmten leise ein.
Ein Platz am Tisch war freigelassen. Moreau ging auf ihn zu und nahm Platz.
Er sah sich flüchtig, aber aufmerksam um. Der erste, dessen Augen er begegnete, war Pichegrue, sein ehemaliger Oberfeldherr im Nordfcldzug gegen Holland. Er sah den Maler Boubourouche. Er sah viele andere, deren Namen er nicht wußte und deren Gesichter seine Erinnerung zu kennen vermeinte.
Aber oben an der Tafel saß an der Schmalseite, allein für sich, jemand, der sein Blut zu Kristall erstarren und erfunkeln machte, ein Jüngling von etwa neunzehn Jahren, schlank, verträumt, mit Händen, die wie Elfenbein unter Spitzenmanschetten lagen.
Es war der Bourbone.
Er erhob sich und ging auf Moreau zu. Sein Gang war Musik, in deren Rhythmus sich der zarte Leib wiegte. Über seine Stirne fielen dunkelbraune Locken. Seine Ohren waren klein wie die einer Maus. Seine Augen blickten ruhig und unverwirrt wie zwei Gestirne.
Er reichte Moreau beide Hände und sagte:
»Willkommen, General.«
Moreau hielt diese Hände eine Sekunde fiebernd in den seinen.
Das war das Volk nicht mehr, das er gelernt hatte zu verachten. Das war nicht der Schweiß des marschierenden Soldaten, nicht der hungrige Blick des Plünderers, grün schillernd, nicht der zitternde Sprung des Schänders, die schwelende Hand des Brandstifters.
Das war ein Engel, von Wolken sanft herniedergestiegen, durch den Nebel des Herbstes. Unerkenntlich dem großen Haufen der brüllenden Plebejer.
Das war ein Sohn der Madonna.
Wenn selbst das Volk ihn sähe – es würde ihn nicht erkennen.
Er, Moreau, war ein Auserwählter. Ein Soldat Gottes. Ein Soldat der Madonna. Ein Diener ihres Sohnes.
O selig, Diener eines solchen Herrn zu sein.
Moreau schlug den Plutarch auf und las: »So sind denn die sonderbarsten Ereignisse auch dieser Männer dargetan worden. –
Vergleicht man nun das Leben des einen mit dem Leben des anderen überhaupt und im besonderen, so fällt der Unterschied nicht so leicht in die Augen, da er unter einer Menge bedeutender Ähnlichkeiten beinahe vergeht. Wenn man aber jeden wie ein Gedicht oder Gemälde nach den einzelnen Linien und Teilen einer besonderen Prüfung unterzieht, so ist es zwar beiden gemein, daß sie ohne alle vorhandenen Hilfsmittel allein durch ihre großen Eigenschaften und Talente zu den höchsten Ämtern und dem höchsten Ansehen gelangt sind. Aber man findet auch, daß Aristeides zu einer Zeit, wo Athen noch nicht so stark und mächtig war, wo die Führer und Häupter des Volkes noch in ziemlich gleichem und ebenem Verhältnis zueinander standen, sich emporgeschwungen hat. Cato hingegen wagte es, aus dem Bauernstand heraus sich in das ungeheure Meer der Staatsverwaltung zu stürzen, die keinem mehr gestatten wollte, den Pflug mit dem Stab des Feldherrn und die Schippe mit dem Talar des Richters zu vertauschen. Eine Gesellschaft, die in ihrer Machtvollkommenheit jedem, der außerhalb ihrer stand, mit frechem Stolz begegnete.
Im Krieg waren beide unbesiegbar, aber in der Verwaltung des Staates mußte Aristeides unterliegen, da er durch Kabalen verdrängt und aus der Stadt verbannt wurde …«
Moreau hielt inne mit Lesen. War das Vergangenheit? Zukunft? Was wußte dieser alte Grieche? Ach, daß es immer dieselben Menschen gibt, und daß auch die außergewöhnlichen noch sich gleichen wie ein Ei dem andern. Mit dem Unterschiede, daß der eine ein Kiebitzei und der andere ein Kuckucksei ist …
Ich bin, wie es scheint, ein Kuckucksei. Mich hat der Vogel Zeit in ein falsches Nest gelegt – Moreau las weiter:
»Daß der Mensch keine vollkommenere Tugend besitzt als die politische, darüber ist sich jedermann klar …«
Eben diese Tugend habe ich nicht. Ich glaubte einmal, sie zu besitzen, als ich in Reimes die Studenten organisierte. Als ich vom Balkon die Prozession des Volkes schreiten sah. Es war der Rhythmus der Masse, das Soldatische, das mich begeisterte. Die Buntheit des Tuches. Der Wunsch, den Farben, Klängen, Bildern zu befehlen.
Ich habe nur eine Tugend: die soldatische.
Und alle Fehler: die soldatischen.
Der gesetzgebende Rat gab den Generälen Moreau und Bonaparte am 4. November ein Fest im Siegestempel.
Der 4. November war zufällig Moreaus Geburtstag.
Moreau sprang wie ein kleiner Junge durch das Fest.
Er tanzte mit Christophe und stellte ihn allen Leuten als seinen Sohn vor.
Eine Dame schwebte von der Estrade herab.
Ihre Augen treffen...