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Gescheiterte Globalisierung

Ungleichheit, Geld und die Renaissance des Staates

AutorHeiner Flassbeck, Paul Steinhardt
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783518757987
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR


<p>Heiner Flassbeck, geboren 1950, befasst sich seit Jahrzehnten intensiv mit Wirtschafts- und Währungsfragen. Er war 1998/1999 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, wo er sich für eine effektivere Regulierung der Finanzmärkte einsetzte. Seit 2003 ist er Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD).</p>

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Leseprobe

7Vorwort


Die Globalisierung war eine wunderbare Idee. Nachdem die große politische Spaltung in Ost und West, in Plan und Markt nach dem Fall der Berliner Mauer überwunden war, schien der friedlichen Kooperation aller Menschen nichts mehr im Wege zu stehen. Warum sollten die Menschen nicht in Freiheit miteinander kommunizieren und arbeiten und damit gemeinsam ihre persönliche Wohlfahrt mehren können?

Die hinter diesem Konzept der Globalisierung stehende Philosophie war denkbar einfach: Würde man nur die nationalen institutionellen Hürden aus dem Weg räumen, bildete sich auf globaler Ebene eine spontane gesellschaftliche Ordnung, in die sich jeder Einzelne nach seinen individuellen Fähigkeiten zum Nutzen aller einbringen könnte. Die globale Arbeitsteilung freier Menschen wäre die Krönung der uralten Idee des Liberalismus gewesen. Sie hätte die Freiheit des Individuums und gleichzeitig seine Effizienz maximiert. Der Traum vom freien und zugleich wohlhabenden Erdenbürger schien zum Greifen nah.

Alexis de Tocqueville, der Autor des großen Buches über (die Demokratie in) Amerika, hatte bereits im Jahr 1840 erwartet, die Demokratie werde eine solche offene und global vernetzte Gesellschaft hervorbringen:

 

In demokratischen Zeitaltern bewirkt die gesteigerte Beweglichkeit der Menschen und die Ungeduld ihrer Wünsche, dass sie unaufhörlich ihren Standort wechseln und dass die Bewohner der verschiedenen Länder sich vermischen, sich sehen, sich angehören und nachahmen. Nicht nur die Angehörigen eines gleichen Volkes werden 8sich so ähnlich; die Völker selber gleichen sich wechselseitig an, und alle zusammen bilden für das Auge des Betrachters nur mehr eine umfassende Demokratie, in der jeder Bürger ein Volk ist. Das rückt zum ersten Male die Gestalt des Menschengeschlechts ins helle Licht. (Zitiert nach Heidenreich 2002, S. 269)

 

Doch die Hoffnungen Tocquevilles auf die segensreichen Folgen des »demokratisches Zeitalters« wurden vom realen Verlauf der Geschichte bitter enttäuscht. Es hätte nicht der Wahl eines Präsidenten Trump bedurft, um zu sehen, dass der ökonomische und politische Liberalismus, der die gesamte Welt in den vergangenen vierzig Jahren mehr als jede andere Idee geprägt hat, kläglich gescheitert ist.

Die Unzufriedenheit vieler Menschen, die in der Wahl eines offen reaktionären Präsidenten zum Ausdruck kam, belegt nicht nur die politische Unfähigkeit des Liberalismus, die nötige Balance zwischen Freiheit und Gleichheit zu wahren, sondern viel mehr noch seine Unfähigkeit, die sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge in komplexen modernen Gesellschaften in ihrer Interaktion angemessen zu deuten und darauf basierend tragfähige politische Konzepte zu entwickeln.

Während die philosophischen und politischen Probleme des Liberalismus intensiv diskutiert worden sind, ist immer noch unverstanden, warum er auf seinem ureigenen Gebiet ‒ der Gestaltung der wirtschaftlichen Kooperation ‒ so eklatant versagt hat. Bis heute hält die große Mehrheit der Ökonomen an dem Dogma fest, »der Markt« solle bei fast allen wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen die Führungsrolle übernehmen, und dem Staat stehe lediglich die Rolle eines Rahmensetzers und Lückenfüllers zu.

Das war schon immer eine unangemessene Vorstellung 9von den Aufgaben eines Staates. Inzwischen ist sie jedoch schlicht durch die Realität widerlegt. Ja, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Untergang des Liberalismus von vorneherein unvermeidlich war, da er weder für die unabdingbare globale Kooperation der Nationalstaaten noch für die daraus sich ergebenden Folgen auf der nationalen Ebene ein zufriedenstellendes intellektuelles Konzept entwickelt hatte.

Was bis heute nicht verstanden wird: Die wirtschaftliche Theorie hinter dem Liberalismus ist nicht nur an manchen Stellen unzureichend und verbesserungsbedürftig. Nein, diese »Theorie«, der man eigentlich schon das Signum einer Theorie nicht zugestehen sollte, ist prinzipiell nicht in der Lage, die Dynamik eines marktwirtschaftlichen Systems zu verstehen, und daher ungeeignet, um aus ihr valide politische Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Wer auf dem theoretischen Fundament des Wirtschaftsliberalismus eine historische oder politische Analyse vornimmt, liegt zwingend falsch. Denn wirtschaftsliberale Theorien, insbesondere die sogenannte Neoklassik, interpretieren gesellschaftliche Systeme, die dynamisch und jeweils historisch einmalig sind, als ein wiederkehrendes Spiel von Zuständen (Gleichgewichtszuständen), dessen Grundcharakteristik vollkommen statisch und ahistorisch ist.

Aus einem dynamischen Ablauf, der essenziell aus sequenziellen Zusammenhängen besteht ‒ also einer Abfolge von Ereignissen, die sich nur im Ablauf der realen Zeit begreifen lassen ‒, hat die liberale Ökonomik eine Kunstlehre entwickelt, bei der sich zeit- und geschichtslos Angebots- und Nachfragekurven schneiden. Liberale Öko10nomik ist im Kern der gescheiterte Versuch, fast alle relevanten wirtschaftlichen Phänomene als die Lösung des Problems der Verteilung knapper Güter über einen perfekten Markt zu erklären.

Offensichtlich geworden ist die Konzeptionslosigkeit des Wirtschaftsliberalismus in der großen globalen Krise an den Finanzmärkten, die 2007 begann und in den beiden Jahren danach die Weltwirtschaft erschütterte. Höchst ineffiziente Kapitalmärkte haben damals gezeigt, dass das Dogma der Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Steuerung aller Wirtschaftsbeziehungen nicht richtig sein kann. Aber auch die nicht enden wollende Arbeitslosigkeit, die obszöne, weil dysfunktionale Ungleichheit, die Hilflosigkeit bei der Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft und der in vielen Ländern der Welt immer stärker zunehmende Druck, der Armut durch Abwanderung zu entkommen, zeigen, wie fundamental falsch die liberale Weltdeutung ist.

Dennoch kam der Wirtschaftsliberalismus ‒ nach einem kurzen Intermezzo der Staatsintervention und einer aufkeimenden Einsicht in das fundamentale Versagen von Märkten ‒ fulminant zurück. Es war schiere wirtschaftliche Macht, die den politischen Entscheidungsträgern unmittelbar nach der Krise klargemacht hat, dass der Staat zwar den Retter in der Not spielen darf, dass daraus aber keineswegs der Schluss gezogen werden könne, dass über die Aufgaben- und Machtverteilung zwischen Markt und Staat neu nachgedacht werden müsse.

Die Systemkrise, die sich damals offenbarte, ist inzwischen als Thema aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verschwunden. Überwunden aber ist sie keineswegs. Deflationäre Tendenzen, Nullzinsen, die anhaltend hohe 11Arbeitslosigkeit, die Krise des Freihandels und die Unfähigkeit, die Investitionsdynamik früherer Zeiten wiederzubeleben, belegen zehn Jahre später, dass von einer Rückkehr zur Normalität nicht die Rede sein kann.

Dieses Buch zeigt an den Brennpunkten der Globalisierung detailliert auf, warum die (neo)liberale Hoffnung, den Staat auf die Rolle eines Rahmensetzers und Lückenfüllers reduzieren zu können, getrogen hat. Die Kapitalmärkte beispielsweise brauchen tagtäglich Hilfestellung vom Staat, um überhaupt funktionieren zu können; die sogenannten Arbeitsmärkte brauchen die Stabilisierung durch den Staat ganz unmittelbar, und das Geldwesen ist ‒ anders als es der Liberalismus glauben macht ‒ eine Domäne des Staates.

Die überragende Bedeutung der staatlichen Steuerung der Marktprozesse führt die Nationalstaaten jedoch in ein Dilemma. Denn es gibt keinen Mechanismus, der dafür sorgen könnte, dass die auf nationaler Ebene gefundenen Preise, Löhne und Zinsen sich so ergänzen, dass schwere Konflikte zwischen den Staaten verhindert werden können. Daher ist die internationale Koordination der Politik unumgänglich, wenn eine Weltordnung angestrebt wird, die den intellektuellen und kulturellen Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern, den Handel mit Gütern und Dienstleistungen zum Vorteil aller daran Beteiligten und die Bewegungsfreiheit des Einzelnen über die nationalen Grenzen hinweg ermöglicht.

Kurz gesagt: Der demokratische Nationalstaat braucht eine globale Ordnung, und die globale Ordnung braucht handlungsfähige Nationalstaaten. Denn nur in einem demokratischen Nationalstaat können die Preise gefunden 12werden,...

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