11Prolog
Ich habe viele Geschichten über Russland erzählt bekommen und einige selbst erzählt. Als ich elf oder zwölf war, in den späten 1970er Jahren, erklärte mir meine Mutter, die UdSSR sei ein totalitärer Staat. Sie verglich das sowjetische Regime mit dem nationalsozialistischen – für eine Sowjetbürgerin ein unerhörter Gedanke. Meine Eltern erzählten mir, das Sowjetregime werde ewig währen und deshalb müssten wir das Land verlassen.
In den späten 1980er Jahren – ich war inzwischen angehende Journalistin – geriet das Regime ins Schwanken und sank schließlich zu einem Haufen Schutt zusammen. So lautete jedenfalls die Geschichte, die damals erzählt wurde. Gemeinsam mit zahllosen anderen Reportern berichtete ich begeistert vom Aufbruch meines Landes zu Freiheit und Demokratie.
Zwanzig Jahre lang habe ich dann den Tod einer russischen Demokratie dokumentiert, die nie wirklich lebensfähig geworden war. Verschiedene Leute erzählten dazu unterschiedliche Geschichten: Viele beharrten darauf, Russland habe nur einen Schritt zurückgesetzt, nach zwei Schritten vorwärts in Richtung Demokratie. Die einen machten Wladimir Putin und den KGB für das Scheitern verantwortlich, andere die angebliche Vorliebe der Russen für die eiserne Hand und wieder andere den rücksichtslosen, anmaßenden Westen. Es kam ein Zeitpunkt, an dem ich mir sicher war, dass ich die Geschichte vom Verfall und Untergang des Putin-Regimes schreiben würde. Bald darauf verließ ich Russland zum zweiten Mal – diesmal als Erwachsene mittleren Alters mit Kindern. Wie zuvor meine Mutter mir, so erklärte jetzt ich meinen Kindern, warum wir nicht in unserem Land bleiben konnten.
Die Umstände sprachen für sich. Die russischen Bürger hatten 12seit fast zwei Jahrzehnten immer mehr Rechte und Freiheiten eingebüßt. Im Jahr 2012 begann die Regierung Putin flächendeckend gegen politische Gegner vorzugehen. Sie führte Krieg gegen den inneren Feind und gegen Nachbarländer. Bereits 2008 war Russland in Georgien eingefallen. 2014 folgten die Annexion der Krim und die Unterstützung der sogenannten Separatisten in der Ostukraine. Die russische Führung entfesselte einen Informationskrieg gegen Idee und Wirklichkeit der westlichen Demokratie. Es dauerte eine Weile, bis westliche Beobachter sich klargemacht hatten, was da geschah. Inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden, Russland in der Weltpolitik als aggressiven Akteur wahrzunehmen. Im Weltbild der USA gilt das Land wieder als Reich des Bösen und als existenzielle Bedrohung.
Die Repressionen, die Kriege, selbst der Rückfall Russlands in die alte Rolle auf globaler Bühne – all das hat sich vor meinen Augen abgespielt. Von diesen Geschehnissen wollte ich berichten, aber zugleich auch von dem, was nicht geschehen ist: von der Freiheit, die nicht ergriffen wurde, und der Demokratie, die nicht erwünscht war. Wie lässt sich eine solche Geschichte erzählen? Wo lassen sich Gründe dafür festmachen, dass etwas nicht da ist? Wo beginnen und mit wem?
Es gibt grob gesagt zwei Arten von Büchern über Russland, die sich an ein breites Publikum richten: Die einen handeln von den Mächtigen – den Zaren, Stalin, Putin und ihrem Umkreis. Sie wollen erklären, wie das Land regiert wurde und bis heute regiert wird. Die anderen berichten von »normalen Menschen«, um zu zeigen, wie es ist, in diesem Land zu leben. Doch selbst die besten journalistischen Bücher über Russland – vielleicht sogar gerade sie – vermitteln stets nur einen Teilaspekt, wie die sechs Blinden in der indischen Fabel, die einen Elefanten beschreiben sollen, aber jeweils nur vom Kopf oder nur von den Beinen berichten. Auch wenn in anderen Büchern Schwanz, Rüssel und Rumpf beschrieben werden, gibt es kaum welche, die zu erklären versuchen, wie das Tier insgesamt aussieht oder um was für ein Tier es sich eigentlich handelt. In die13sem Buch habe ich mir zum Ziel gesetzt, das ganze Tier zu beschreiben und zu erklären.
Ich beschloss, mit dem Niedergang des Sowjetregimes zu beginnen: Die Annahme, dass es »zusammengebrochen« sei, musste hinterfragt werden. Des Weiteren beschloss ich, mich auf die Menschen zu konzentrieren, für die das Ende der Sowjetunion zu den frühesten prägenden Erinnerungen gehört: die Generation der Anfang bis Mitte der 1980er Jahre geborenen Russen. Sie sind in den 1990er Jahren aufgewachsen, dem vielleicht umstrittensten Jahrzehnt der russischen Geschichte. Einigen ist es als Zeit der Befreiung im Gedächtnis geblieben, andere verbinden damit Chaos und Leid. Diese Generation hat ihr gesamtes Erwachsenenleben in einem Russland unter der Führung Wladimir Putins verbracht. Bei der Auswahl meiner Protagonisten habe ich auch nach Leuten gesucht, deren Leben sich durch die Repressionswelle im Jahr 2012 drastisch verändert hat. Dank Ljoscha, Mascha, Serjosha und Shanna – vier jungen Leuten aus unterschiedlichen Städten, Familien, ja aus unterschiedlichen sowjetischen Lebenswelten – konnte ich erzählen, wie es war, seine Kindheit in einem Land zu verbringen, das sich öffnete, und in einer Gesellschaft volljährig zu werden, die sich verschließt.
Bei der Recherche hielt ich Ausschau nach Gesprächspartnern, die »normal« waren – insofern ihre Erfahrungen beispielhaft für Millionen andere stehen – und zugleich außergewöhnlich: intelligent, leidenschaftlich, zur Selbstbeobachtung fähig und in der Lage, ihre Geschichten lebendig zu erzählen. Doch wer das eigene Dasein in der Welt als sinnvoll erfahren will, braucht Freiheit. Das Sowjetregime hat den Menschen nicht nur die Möglichkeit genommen, frei zu leben, sondern auch die Fähigkeit, wirklich zu verstehen, was ihnen vorenthalten wurde und wie das geschah. Es wollte die persönliche und historische Erinnerung ebenso auslöschen wie die wissenschaftliche Erforschung der Gesellschaft. Der geballte Krieg gegen die Sozialwissenschaften hatte zur Folge, dass westliche Wissenschaftler jahrzehntelang besser in der Lage waren, Russland 14zu interpretieren, als die Russen selbst. Sie konnten das Defizit jedoch nicht ausgleichen, da sie als Außenstehende nur beschränkt Zugang zu Informationen hatten. Das alles schadete nicht nur der Wissenschaft, es war vor allem ein Angriff auf die humane Verfasstheit der russischen Gesellschaft. Denn diese wurde dadurch der Werkzeuge und sogar der Sprache beraubt, die sie benötigte, um sich selbst zu verstehen. Die einzigen Geschichten, die Sowjetrussland sich über sich selbst erzählte, stammten von sowjetischen Ideologen. Was kann ein modernes Land über sich wissen, wenn ihm weder Soziologen noch Psychologen, noch Philosophen zur Verfügung stehen? Und was können seine Bürger über sich wissen? Ich begriff, dass die einfache Handlung meiner Mutter – das Sowjetregime in eine Kategorie einzuordnen und mit einem anderen Regime zu vergleichen – ein außerordentliches Maß an Freiheit erfordert hatte. Diese Freiheit verdankte sich zumindest teilweise der bereits gefallenen Entscheidung zur Emigration.
Um die größere Tragödie zu schildern, den Verlust des Erkenntnisinstrumentariums, suchte ich nach Gesprächspartnern, die in der sowjetischen und postsowjetischen Zeit versucht hatten, sich dieses Instrumentarium anzueignen. So wurde die Besetzung um einen Soziologen, eine Psychoanalytikerin und einen Philosophen erweitert. Wenn jemand das nötige Handwerkszeug hat, um einen Elefanten zu definieren, dann sie. Sie sind keine »normalen Menschen« – die Geschichte ihres Kampfes um die Wiederbelebung ihrer Disziplin ist nicht repräsentativ. Und ebenso wenig sind sie »Mächtige«. Sie sind diejenigen, die versuchen zu verstehen. In der Putin-Ära sind die Sozialwissenschaften mit neuen Methoden unterworfen und herabgewürdigt worden, und meine Protagonisten sahen sich vor völlig neue, unmögliche Entscheidungen gestellt.
Beim Zusammenfügen all dieser Geschichten habe ich mir vorgestellt, ich arbeite an einem umfangreichen faktografischen russischen Roman, der sowohl die individuellen Tragödien darstellen soll als auch die Ereignisse und Ideen, die sie geprägt haben. Ich wollte zeigen, wie es war, in den vergangenen dreißig Jahren in 15Russland zu leben – und zugleich erzählen, wie Russland selbst in dieser Zeit gewesen ist und wie es wurde, was es heute ist. Ich hoffe, dass das vorliegende Buch diesem Anspruch gerecht wird. Und...