Frankreich
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Seit dem 12. Jahrhundert, seit der mittelfranzösische Dialekt sich in Paris als Landessprache durchsetzte, bedeutet Paris Frankreich. Die Tradition bewahrt Paris. Alles andere ist zur „Provinz“ verurteilt: ein Wort, das im Französischen einen beinah beleidigenden Charakter trägt. Der provencalische Dialekt hat einige bemerkenswerte Dichter hervorgebracht (Frédéric Mistral); aber sie haben sich gegen, nicht mit Hilfe von Paris durchgesetzt. Acht Jahrhunderte schon ist Paris Großsiegelbewahrerin der französischen Sprache und Dichtung: und diese acht Jahrhunderte haben aus der französischen Sprache jenes edle Instrument geformt, auf dem ein Pariser Droschkenkutscher genau so virtuos spielt wie ein Anatole France während die deutsche und die russische Sprache sich fortwährend entwickeln und der Individualismus in ihnen die absonderlichsten Blüten treibt (die deutsche Sprache erlaubt jedem, sein eigenes Deutsch zu sprechen). Das Französische kennt nur eine Sprache, die jeder spricht, deren Regeln zeremoniell sind und deren Entwicklung abgeschlossen ist. In einer solchen Sprache muß eine streng formale Tradition wirken. In Deutschland gibt es nur eine geistige Tradition: es ist der Geist der Mystik, der Geist des deutschen Volksliedes, der Geist der Romantik, der auch im sogenannten Expressionismus spukt. Frankreich kennt den Expressionismus nicht. Der Geist seiner Sprache erlaubt ihn nicht. Wie die Alten, so zwitschern die Jungen, und nur einige Allerjüngste vollführen, von Ausländern (dem Galizier Guillaume Apollinaire und dem Rumänen Tristan Tzara) angeregt, dadaistische Jazztänze.
Die Kämpfe der Franzosen gegen Sachsen, Longobarden, Sarazenen unter Karl dem Großen geben den Hintergrund für die Heldenlieder, deren bedeutendstes ist das Rolandlied (um 1100). Wie der Ruhm entsteht, in Legende und Dichtung, illustriert hübsch das Rolandlied. Der wirkliche Roland war ein untergeordneter, unscheinbarer Recke, der, wie der Historiker Einhard erzählt, 778 in Spanien bei einem Rückzugsgefecht ums Leben kam. Aus einem kleinen Soldaten wird das Ideal einer ganzen Rasse, aus einem unbedeutenden Rückzugsgefecht eine Schlacht, die Weltepochen scheidet. Jean Bodel dichtet das abenteuerliche Epos vom Sachsenkriege, das schon zum Abenteuererund Ritterroman hinüberleitet, der entstand, als der höfische Ritter das Bedürfnis empfand, sich einmal im Spiegel der Kunst zu betrachten. Im Spiegel sah er König Artus und seine Tafelrunde, umgeben von Zauberern, Nixen, Riesen, Zwergen, Wahrsagern, einem ganzen mythologischen Zirkus. Die Liebe betreibt der romanische Ritter als Gesellschaftsspiel. Nur im Tristanroman erhebt er sie über sich selbst. Christian von Troyes (um 1300) ist der Autor der Romane von „Iwein“ und „Parsifal“. Die Fabliaux (eine Art Novellen) werden zum moralischen Zeitspiegel. Es geht munter in ihnen her. Rosenkränze werden in ihnen nicht gebetet, auch Heilige treten nicht auf, es seien denn sehr wunderliche Heilige wie verhurte Mönche, oder Fabelwesen, wie Ehemänner mit Hirschgeweih. Die Tierfabel kam auf. Aus dem großen Äsop wurde ein Äsopchen, ein „Ysopet“. Aus einem kleinen Fuchsmärchen der große Fuchsroman, der Roman „de Renard“, der unserem „Reineke Fuchs“ zum Vorbild diente. Der Fuchsroman ist politisch und tendenziös zu werten. Reineke Fuchs ist der aufkommende Bürger, der sich seiner Haut mit allerlei Listen zu wehren hat gegen die Fürsten (Löwen) und Herren vom Hofe (Wolf und Bär). 1789 hat er Löwe, Bär und Wolf zur Strecke gebracht. In Bestiarien wurden Fabeltiere beschrieben (Franz Blei hat einen späten Nachfahren dieser Bestiarien geliefert, als er die deutschen Dichter der Gegenwart in einem solchen zoologischen Lexikon abkanzelte). Die allegorische Dichtung geht auf Guillaume Loris zurück, der blutjung starb, ohne sein Märchen von der Wunderrose beendet zu haben, die nichts anderes ist als eine Schwester der blauen Blume des Novalis. Im Mittelpunkt der altfranzösischen Legendenliteratur steht die Jungfrau Maria, die sogar Dieben ihr Handwerk verzeiht, wenn sie nur vor jedem Diebstahl ein Gebet an sie sprechen …
Die Themen der Mysterienspiele finden sich im mittelalterlichen Frankreich wie überall. Die Passion, der Leidensweg des Herrn, wird dramatisiert, wobei der Teufel … die komische Person ist. Unter den ersten Lyrikern finden sich Fürsten, wie Herzog Karl von Orleans (1391 bis 1465). Im 16. Jahrhundert taten sich sieben Dichter zu einem Bund zur Erneuerung der französische Kultur zusammen, der sich „Die Pleiade“ nannte. Ihr Hauptstern war Pierre Rons ard (1524 bis 1585), der mit der Franciade Frankreich ein Nationalepos schenken wollte, der Ilias würdig. Was ihm nicht geglückt ist. Auf eigenen derben Füßen steht François Rabelais (1483 bis 1553) mit seinem „Gargantua und Pantagruel“. Der Weltwanderer Gargantua ist ein riesiger Fresser und Säufer, sein Sohn Pantagruel besucht die Universität Paris. Beider Erlebnisse sind konkav und konvex gespiegelte Abbilder des damaligen Frankreich. Derb, zynisch, wild, unsentimental und lebendiger als das Leben brüllt und speit Rabelais seine Satiren von sich, weil er sich, wie Gargantua an Bratwürsten, an der Zeit überfressen und sie wieder von sich geben muß (da sie keineswegs so bekömmlich ist wie Bratwürste).
Die Marguerite Valois , Königin von Navarra, ist die charmante Autorin des „Heptameron“, frivoler Novellen. Als die Mysterienspiele 1548 aus puritistischen Gründen verboten wurden, wandte die Tragödie sich griechischer Nachahmung zu. Charles Perrault (1628 bis 1703) sammelt, ein französischer Grimm, die französischen Volksmärchen. 1635 gründete der Kardinal Richelieu die Académie Française, die die oberste Wächterin der französischen Literatur darstellen sollte. Sie begann ihre Tätigkeit mit der Herausgabe eines normgebenden Diktionärs. François Malherbe und Boileau regelten die Verskunst. Die Nachahmung der Antike ebbte ab. Die jungen Franzosen begannen, sich für gescheiter als die alten Griechen zu halten. Was Äschylos und Euripides können, das können wir längst, so dachten (und denken sie noch heute). Aber der tiefer Blickende wird sich vom Geschrei einer neuen Klassik nicht bluffen lassen. Die sogenannte klassische Epoche des französischen Theaters hat das Unausstehlichste, Langweiligste und Platteste hervorgebracht, was je auf der Bühne eines Kulturvolkes sich anspruchsvoll darstellte. Racine und Corneille, Meister in der aristotelisch aufgebauten Handlung, aber herzund sinnlos, bleiben weit hinter den griechischen Dichtern, weit hinter Engländern zweiten Ranges, weit hinter den spanischen Dramatikern zurück. Für Racine kommen als „tragisch empfindende Wesen“ überhaupt nur Götter, Heroen und Personen des Hofes in Betracht. Der gewöhnliche Mensch bei dem jede Dichtung zu beginnen hat war ihm ein Dreck. Der Äschylustknabe Pierre Corneille (1606 bis 1684) dramatisiert heroisch den „Cid“. Er schrieb „Horace“, „Cinna“, „Polyeucte“ (ein Märtyrerdrama), bis der sophoklässig gestimmte Jean Racine (1639 bis 1699) ihn aus der Gunst des Publikums verdrängt: mit patriotisch verkappten Stücken wie „Andromaque“, „Britannicus“, „Mithridate“. Sein bestes bleibt „Athalie“. In der Behandlung des Verses erweisen sich beide Klassizisten als Meister. Die Klassik hat einen Gegenpol in einer romantischen Bewegung, der man den großen Fabeldichter Lafontaine, die novellistischen Satiren des Cyrano de Bergerac (dessen Abenteuer Edouard Rostand im 20. Jahrhundert erfolgreich dramatisierte), den komischen Roman eines Paul Scarron zuweisen kann. Nicht nur langweilig wie das Drama, sondern schlecht war die Lyrik, in der man damals sich übte. Noch um 1550 sang man so liebliche, schamhafte und schmerzliche Sonette, wie die der Lyoneserin Louise Labé. Jetzt schrieb man, wie man strickte oder kochte: alles nach der peinlichen Regel des Kochbuchs. Man kochte Gedichte, indem man horazische Sonette wie Kohl aufwärmte. Molière war einer der wenigen, die die Hohlheit dieser „Kunst“ durchschauten, er ist auch der Größte seiner Zeit. Die Literaturwissenschaft, die sich mit französischer Literatur beschäftigt, täte gut daran, das Schwergewicht endlich einmal aus der sogenannten klassischen Epoche in das 19. Jahrhundert zu verlegen, das die wahre französische Klassik hervorgebracht hat: einen Balzac, einen Flaubert, einen Verlaine, Baudelaire, Rimbaud. Molière (1622 bis 1673) hat die Menschen, die er schuf, nicht nur erlebt, er hat sie auch gespielt. Er trat in seinen eigenen Stücken auf und ließ sich als Sganarelles verprügeln. Während Corneille Schemen kommandiert, erscheinen bei Molière wirkliche Menschen. Im Mittelpunkt steht immer ein bis ins peinlichste genau geschilderter Charakter, der an sich und in sich komisch oder tragikomisch wirkt und der doch gleichzeitig ein Laster symbolisiert: den Geiz, die Heuchelei, den Hochmut. („Tartuffe“, „Der eingebildete Kranke“, „Der Geizige“.) Er verspottet auch, wie in den „Pretiösen“, geistige Moden seiner Zeit. Der Heuchler „Tartuffe“ bildet den Höhepunkt des französischen Theaters. Schon Goethe hat den tragischen Zug in Molières Komödien definiert, der besonders im „Misanthrop“ und im „Geizhals“ die Komödie weinend übergrinst. Molières Tod ist selbst eine Tragikomödie. Er spielte den eingebildeten Kranken, eine seiner Lieblingsrollen: als aus dem Spiel unversehens Ernst wurde und der verspottete Tod ihm den Puls zudrückte, den er sich „im Spaß“ gefühlt. Am Hofe der Könige bildete einen beliebten Zeitvertreib das Erfinden von schlagenden Epigrammen und geistvollen Aphorismen. Ihr Meister ist der Herzog von Larochefoulcauld, dem sie in den Armen schöner Hofdamen einfielen. Er ist Skeptiker...