3. Zentrale Konzepte
3.1 Die Figur-Grund-Formation
Das Konzept der Figur-Grund-Formation entstammt der Gestaltpsychologie, die sich ausgiebig mit der Untersuchung der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt. Wie bereits kurz in Kapitel 2 beschrieben, ist die grundlegende Aussage der Gestaltpsychologie, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht die Umwelt einfach nur „abbildet“, sondern das Wahrgenommene bereits vorher strukturiert wird. Dies geschieht meist zu dem Zweck, einen Zusammenhang oder Sinn zu schaffen. Tritt ein Mensch beispielsweise in einen Raum, in dem sich mehrere Leute aufhalten und verschiedene Geräusche verursachen, während gleichzeitig im Radio ein schönes Lied gespielt wird, so ist das Individuum in der Lage, die begleitenden Geräusche auszublenden, um das Lied zu genießen. In diesem Fall handelt es sich bei dem Lied um die „Figur“ oder die „Gestalt“, die in den Vordergrund tritt für den Hörenden, während alle anderen Geräusche und Wahrnehmungen den „Grund“ oder „Hintergrund“ bilden. Der gesamte Vorgang wird auch als „Gestaltbildung“ oder „Gestaltwerdung“ bezeichnet. Das ganze Gefüge, hier der Raum mit allen Menschen, allen Geräuschen und allem Wahrnehmbaren, wird „Feld“ genannt.
Dazu ein Zitat von Fritz Perls (2012):
„Kein Individuum ist sich selbst genug; das Individuum kann nur in einem es umgebenden Feld leben. Das Individuum ist unvermeidlich in jedem Augenblick Teil des Feldes. Sein Verhalten ist eine Funktion des ganzen Feldes, das ihn und seine Umwelt einschließt.“ (S. 34)
Ob sich jemand also in einem Supermarkt, im Park oder am Arbeitsplatz aufhält, stets ist diese Person Teil eines „Feldes“, Teil der Umwelt. Auch wenn jemand alleine in seiner Wohnung sitzt oder sich in einem Wald meilenweit vom nächsten bewohnten Ort entfernt befindet, bleibt der Mensch Teil des jeweiligen „Feldes“.
In Bezug auf therapeutische Prozesse sind diese Aspekte des „Feldes“ oft sehr wichtig. So gehören beispielsweise alle Familienmitglieder immer zum Feld eines Menschen dazu, egal, ob sie in der Nähe sind oder nicht. Natürlich kann jeder Erwachsene entscheiden, ob und wie viel Kontakt zu den anderen Familienmitgliedern gehalten wird, wo er sich ansiedelt und wie er leben will – doch bleibt die Familie immer ein Teil des persönlichen Feldes.
Unsere „Figuren“ oder „Gestalten“ im Vordergrund wechseln oft rasant mit unseren Wahrnehmungen und Bedürfnissen. Während ich dies hier schreibe, bemerke ich plötzlich, dass ich Durst habe, und denke gleichzeitig, dass es wirklich besser wäre, etwas zu trinken. Schon mit diesen Überlegungen, tritt die Figur „Schreiben“ in den Hintergrund und die Figur „Trinken“ schiebt sich in den Vordergrund. Ich trinke und damit schließe ich die Figur „Durst“ und kann mich wieder der Figur „Schreiben“ zuwenden, die nun wieder voll im Vordergrund steht und meine ungeteilte Aufmerksamkeit hat. In diesem Zusammenhang wird auch davon gesprochen, „eine Gestalt zu schließen“. Jeden Tag durchlaufen wir unzählige Prozesse von Figuren im Vorder- und Hintergrund, von Gestalten, die wir schließen können, und ebenso von Gestalten, die wir nicht schließen können. Wenn wir beispielsweise mit jemandem Kontakt aufnehmen möchten, weil etwas Dringendes zu besprechen ist, und wir nutzen alle Hilfsmittel, wie Handy oder E-Mail, erreichen den anderen aber einfach nicht, dann ist es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, „die Gestalt“ zu schließen, das Vorhaben muss erst einmal aufgeschoben werden, bis ein erneuter Versuch der Kontaktaufnahme erfolgreich war oder der andere sich von sich aus gemeldet hat.
Unterschieden werden können ebenfalls „kleinere Gestalten“, die leicht zu schließen sind, wie beispielsweise mein Durst während der Tätigkeit des Schreibens, und „größere Gestalten“, zum Beispiel die Bewältigung des Todes eines geliebten Menschen.
Oft existiert auch ein direkter Zusammenhang von Zufriedenheit und der Möglichkeit, viele Gestalten schnell schließen zu können. Im Urlaub beispielsweise, befreit von etlichen Pflichten des sonstigen Alltagslebens, können Bedürfnisse und Gelüste meist schnell befriedigt werden: Wenn ich Hunger habe, esse ich; wenn ich müde bin, lege ich mich hin; wenn ich Lust auf einen Spaziergang habe, dann gehe ich los. Für viele Leute ist dies der pure Luxus.
Das Konzept von Gestalt und Hintergrund, auch „Figur und Grund“ genannt, verändert den Blickwinkel auf Freuds Theorie vom verdrängten Unbewussten, das zu Heilungszwecken des Patienten durch verschiedene Techniken ins Bewusstsein geholt werden soll. Da es aber nicht unbedingt immer heilsam ist, das Unbewusste bewusst zu machen, bleibt die Frage nach dem Sinn dieses Unterfangens. Das Unbewusste wird aus gestalttherapeutischer Sicht als Hintergrund angesehen, der aber aktuell nicht unbedingt relevant ist für das Individuum und somit auch im Hintergrund bleiben kann. Eine Ausnahme bilden dabei die Teile des Unbewussten, die aus verdrängten Anteilen bestehen und die sehr wohl zur Besserung beitragen können, wenn sie ins Bewusstsein geholt werden. Die Gestalttherapie bezeichnet verdrängte Anteile, die wichtig zur weiteren Entwicklung des Individuums sind und nicht ins Bewusstsein kommen, als „fixierter Figur-Grund-Prozess“. Fixierung meint an dieser Stelle ein „Festhalten“ oder auch Tendenzen zum starren und starken Sich-Anklammern an Situationen oder Menschen.
Während in den ersten Jahrzehnten der Fokus der Gestalttherapie stärker auf der Bearbeitung der „Figur“ lag, wandelte sich dies in den 1980er-Jahren dahingehend, dass nun auch der Spannung und dem Verhältnis von Figur und Grund mehr Raum gegeben wurde.
Diese Entwicklung ist mit dem gesellschaftlichen Kontext zu erklären: In den Anfängen der Gestalt ging es vor allem darum, wieder etwas zu spüren, mehr wahrzunehmen und mithilfe dieser Informationen auch in der Welt mehr mitzuwirken, sie mitzugestalten. Heute, bei der Arbeit mit der Spannung zwischen der Figur und dem Hintergrund, ist eher das Ziel, Werten wieder eine Bedeutung zu geben und innere Freiräume zu schaffen. Der Hintergrund steht dabei vor allem für Bedeutungen und Prioritäten, die ein Individuum Dingen verleiht, beispielsweise wie wichtig ihm materielle Güter sind, welche Bedeutung sie für ihn haben und was er bereit ist, dafür zu tun.
Anders ausgedrückt könnte man auch sagen: Die Gestalttherapeuten der Anfänge wollten nicht nur einzelne Klienten in ihrer Entwicklung unterstützen, sondern auch die gesamte Gesellschaft dahingehend verändern, dass alle friedlicher, mit weniger Ängsten und Hemmungen zusammenleben könnten. Hier spielen viele politische Strömungen der damaligen Zeit eine große Rolle, ebenso wie die Einflüsse Paul Goodmans mit seinem Gedankengut zu politischen Systemen, sozialen Strukturen und anarchistischen Ansätzen.
Heute steht dieser Anspruch, die Welt grundlegend zu verändern, nicht mehr im Vordergrund, sondern eher die Befähigung des Individuums, sich selbst zu spüren, die Umwelt wahrzunehmen und sich mit sich selbst, anderen Menschen und der Welt wohlzufühlen und authentisch zu sein.
3.2 Kontakt
Das Wort Kontakt entstammt dem lateinischen „contigere“ (im 2. Partizip „contactus“) und bedeutet wörtlich „berühren“. Die Begriffe „Kontakt“ und „Berührung“ nehmen in der Gestalttherapie eine sehr zentrale Rolle ein. Zuerst einmal steht jeder Mensch mit sich selbst in Kontakt, beispielsweise wenn er ein Gefühl wahrnimmt oder eine Erinnerung sehr präsent ist, die auch wiederum Gefühle auslöst.
Darüber hinaus stellt „Kontakt“ eine Begegnung mit einem Gegenüber dar, was Martin Buber als „Ich-und-Du“ bezeichnet hat, also eine wirkliche Begegnung und Berührung.
Von „Kontaktfähigkeit“ sprechen Gestalttherapeuten, wenn ein Mensch in der Lage ist, den Kontakt herzustellen. Durch die sogenannte „Kontaktgrenze“ bewahrt der Organismus sich selbst und schafft es dennoch, mit der Umwelt in Kontakt zu treten und alles Nötige für das Überleben und die persönliche Entwicklung zu entdecken und zu assimilieren. Die Kontaktgrenze variiert natürlich von Person zu Person: Jeder entscheidet mit seiner „Ich-Grenze“ letztendlich selbst, welchen Umweltbedingungen er sich aussetzt, soweit dies in der Macht der Selbstbestimmung liegt.
Man könnte auch sagen, dass Kontakt einen Prozess ständiger kreativer Anpassung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt darstellt, der immer wieder erneuert wird.
Der eigentliche Ausgangspunkt für die Wichtigkeit des Kontaktes in der Gestalttherapie liegt in der Relevanz der Sinneskanäle: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen, denn Sinnesorgane werden letztendlich als Kontaktorgane definiert. Sie sind sozusagen unumgängliche Hilfsmittel, damit Kontakt zustande kommen kann. Natürlich sind nicht alle Sinneskanäle zu allen Zeiten wesentlich für die Entstehung von Kontakt, doch liefern sie den Menschen wichtige Informationen für sich selbst und über die anderen. Wenn einzelne Sinneskanäle wegfallen, zum Beispiel in einem komplett dunklen Raum, dann werden die anderen Wahrnehmungskanäle stärker aktiviert, wie das Hören, Fühlen oder Riechen. Bei behinderten Menschen, beispielsweise Blinden oder Gehörlosen, wird der „verlorene“ Sinneskanal so weit wie möglich vom Gehirn durch die Schulung der anderen Kanäle kompensiert.
Für die Gestalttherapie bedeutet Kontakt einen Prozess des Austauschs zwischen Organismus und Umwelt. Eine Person ist beispielsweise mit der Umwelt in Kontakt, wenn sie Nahrung zu sich nimmt. Der Kontakt besteht...