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E-Book

Gestern waren wir doch noch jung

Eine Liebeserklärung an aufregende Zeiten

AutorMichael Jürgs
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641187613
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Die ersten Nachkriegsdeutschen sind im Rentenalter. Fühlen sich beim wehmütigen Blick zurück aber noch jung. Michael Jürgs, geboren im Mai 1945, gehört zu dieser Generation. In heiterer Gelassenheit schildert er jene aufregenden Zeiten, in denen aus der von Nazis geprägten Demokratur ein Land der Freien wurde - die Bundesrepublik. In denen jede noch so kleine Liebe ein großes Abenteuer war, die Helden John Lennon und Willy Brandt, John F. Kennedy und Rudi Dutschke hießen, es nur zwei Fernsehprogramme gab, in den Milchbars die Hormone tanzten und in verrauchten Kneipen die Revolution besungen wurde. Seine Reise in die Vergangenheit wird immer wieder unterbrochen durch Abstecher in die heutige Welt oder durch Begegnungen mit jungen Propheten und Machern des digitalen Fortschritts. Er geißelt zwar zornig die weltweit wachsende Verrohung und Verblödung im Netz, doch bestaunt ebenso im neugierigen Blick nach vorn die unendlichen Möglichkeiten des Internet.

Michael Jürgs war u.a. Chefredakteur von Stern und Tempo und hat sich als Biograph einen Namen gemacht. Seine Lebensbeschreibungen Der Fall Romy Schneider, Der Fall Axel Springer, Gern hab' ich die Frau'n' geküsst (über Richard Tauber), Bürger Grass und Eine berührbare Frau (über Eva Hesse) wurden ebenso Bestseller wie Die Treuhänder, Der kleine Frieden im Großen Krieg (2003) und Der Tag danach. Zusammen mit der Journalistin und TV-Moderatorin Angela Elis legte er das Pamphlet Typisch Ossi, typisch Wessi vor. Viel Anerkennung bekam er für seine Bilanz der deutschen Einheit Wie geht's, Deutschland? (2008) und für seine Geschichte des Bundeskriminalamts BKA. Die Jäger des Bösen (2011) und Codename Hélène: Churchills Geheimagentin Nancy Wake und ihr Kampf gegen die Gestapo in Frankreich (2012); seine Streitschrift Seichtgebiete (2009) verkaufte sich über 100.000mal. Er ist Co-Autor vieler Fernsehdokumentationen, die nach seinen Büchern gedreht wurden.

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Leseprobe

1

Vom Geschmack auf der Zunge prickelnder Brausewürfel

So gut, wie sie in alten Fotoalben erscheinen, waren gute alte Zeiten nie. Nur die privaten Rückblicke verklären jene realen Jahre. Auftauchend aus persönlichen Erinnerungen schweben im Frühling, Vivaldis Primavera summend oder brummend, Bienen und Maikäfer über Blumenwiesen, sind durchweg alle Sommer barfüßig, liegt im Winter stets reichlich Schnee für Schlittenfahrten und Schneeballschlachten. Einzig der Herbst fällt aus dem Bilder-Rahmen, wirkt verschleiert, abweisend, fast morbide. Doch selbst in den tatsächlich graustichigen Monaten gab es immer wieder Tage, an denen sich tief hängende Nebel den letzten Sonnenstrahlen ergeben mussten und noch einmal ein goldener Oktober aufblühte.

Die qua Amt und Alter hauptsächlich unsere Kindheit bestimmenden Figuren waren im Blick zurück stets edel, hilfreich und gut: Eltern liebevoll behütend, Lehrer gütig gerecht, Pfarrer die Hand an ihre Chorknaben nur gnädig segnend anlegend. Insbesondere Großmütter und Großväter vermittelten Geborgenheit. Sie besangen die draußen beim Spielen erlittenen kleinen Wunden und Schürfungen mit einem Lied, das ihnen schon in ihrer eigenen Kindheit einst ihre Großeltern tröstend vorgesungen hatten: »Heile, heile Gänschen, es ist bald wieder gut. Das Kätzchen hat ein Schwänzchen, es ist bald wieder gut. Heile, heile Mäusespeck, in hundert Jahren ist alles weg.« Von einem singenden Dachdecker aus Mainz wurde es mal zu einer Karnevalshymne verschunkelt.

Sie lasen Grimms Märchen vor, wenn ihre Enkel fiebernd im Krankenbett lagen, schmuggelten heimlich, sobald wir lesen konnten, von unseren Eltern untersagte Prinz-Eisenherz- und Mickymaus-Hefte ins Haus. Selbst Digital Kids von heute hören gebannt zu, wenn ihnen von Prinzen und Prinzessinnen, Riesen und Zwergen analog erzählt wird, fragen kindlich neugierig, bevor sie endgültig das Licht löscht: »Oma, hast du die Dinosaurier noch erlebt?« Ihre Vorstellungen von Vergangenheit sind zeitlos. In denen sind Oma und Opa und Ritter und Drachen alle etwa gleich alt, es gibt keinen Anfang und kein Ende.

Auf der Wiese hinter dem Haus spielten wir später Fußball. Falls nur zwei aufliefen, weil alle anderen wieder mal wegen des ihnen verpassten Hausarrests fehlten, ersetzten Murmeln das Ballspiel. Sie ruhten an spielfreien Tagen in kleinen Leinenbeuteln. Spieler erkannten sich gegenseitig an stark verdreckten Zeigefingern. In Bäumen bauten wir aus geklauten Brettern Beobachtungsposten. Gleichaltrige aus dem Nachbardorf waren natürliche Feinde. Die griffen hinterlistig unvermittelt an. Deshalb saßen unsere Wachen im Baum.

Die Wirklichkeit hat im Rückblick keine Chance gegen Erinnerungen, die in verklärend heiterem Licht erscheinen. Tatsächlich aber war die Realität eine oft andere als jene, die uns auf den Fotos vorgegaukelt wird. Da regnete es mitunter auch damals schon im Sommer so heftig, dass Bienen ertranken und Enten auf überschwemmten Wiesen schwammen; krachten im Winter verwegene Rodler auf vereisten Pisten gegen Bäume; brachen zart gebaute Ballerinen beim Schlittschuhlaufen ins Eis ein; wurden im Frühlingserwachen die Maikäfer von Hühnern und Krähen bei lebendigem Leib verspeist; hatte der Herbst vor allem Husten, Schnupfen, Heiserkeit im Repertoire. Und unabhängig vom Wetter ließen in allen vier Jahreszeiten zu viele Gottesdiener die Kindlein zu sich kommen, setzten zu viele Eltern und Lehrer streng und auch mit Gewalt die Einhaltung der Sekundärtugenden Gehorsam, Ordnung, Pünktlichkeit durch.

Als wir kurzen Hosen und Kniestrümpfen entwachsen waren, halfen gegen diese bedrückende deutsche Dreifaltigkeit der Autoritäten sorgfältig ausgedachte Strategien bei Expeditionen in verlockend unbekannte Welten. Mädchen waren plötzlich nicht mehr blöd und nervig, sondern fremde Wesen. Es begann die Erforschung der Fremde. Aus pubertärer Notlage geborene Notlügen wirkten befreiend. Die Ehrlichen wuchsen ungeküsst auf, weil sie sich dem Wertekanon der Eltern unterordneten. Sich einengenden Regeln widerspruchslos zu fügen beruhte aber nicht etwa nur auf der Einsicht, altersbedingt wehr- und rechtlos zu sein. Vorgetäuschter Gehorsam gehörte taktisch bereits zur Planung von Fluchten. Aus heutiger Sicht kleine. Aber damals spannende große.

Zunächst brauchte es eine überzeugende Begründung. Zum Beispiel demütig selbst erbeten einen wegen schlechter Zensuren erforderlichen Nachhilfeunterricht im verhassten Fach Mathematik. Das stieß auf spontane Zustimmung der Eltern. Freiwillige Mehrarbeit, um die Versetzung nicht zu gefährden, wurde als lobenswerte Einsicht in Notwendigkeiten begrüßt. Dafür übernahmen sie gern die anfallenden Kosten. In die Zukunft von Nachkommen zu investieren versprach ihnen Rendite fürs Alter. Bestmöglich ausgebildete Söhne würden dank beruflicher Erfolge später finanzielle Zuwendung für die dann Alten garantieren, herzensgebildete Töchter sich um deren emotionale Bedürfnisse kümmern.

In der Tat war Nachilfe in Mathematik angesichts der Zensurenzwischenstände geboten, wurde jedoch von Betroffenen als vergeudete Lebenszeit betrachtet. Die unverstandene Welt der Zahlen sollte für die Sehnsucht nach einer unbekannten Welt herhalten, um sich im Tanz der Hormone auf lockendes Neuland vorzutasten. »I can’t stop lovin’ you« von Ray Charles übertönte anfangs aufflackerndes schlechtes Gewissen über die lässliche Sünde, die Geometrie einer ersten Liebe zu studieren statt die eigentliche mit ihren Bruch- und Kommazahlen, dem antiproportionalen Dreisatz, den tückisch unter variablen Gleichungen lauernden Wurzeln. Anträge auf Erhöhung des Taschengelds wurden üblicherweise nur einmal jährlich entschieden. Für eine Verbesserung schulischer Leistungen gab der Vater jederzeit freudig. Solche Ausgaben dienten schließlich dem hehren Ziel besserer Zensuren.

Das wahre Ziel lag allerdings in entgegengesetzter Himmelsrichtung. Entweder in einer Milchbar, wo das schmalzige Verlangen von Rocco Granata nach »Marina« erklang, Begleitsound für eigenes Verlangen. Bei geteiltem Eisbecher oder in der letzten Reihe im Kino, egal wie der Film hieß, wurde das Geld ausgegeben. Um keinen Verdacht bei elterlichen Mäzenen aufkommen zu lassen, gehörten zum Masterplan vorzeigbare Ergebnisse. Die Note in Mathematik musste sich durch den finanziellen Einsatz verbessern. Sonst würde dessen Mehrwert infrage gestellt, und mit den kleinen Fluchten wäre es vorbei. Deshalb bekam der Klassenprimus in diesem Fach zwanzig Prozent der von den Eltern gutgläubig zur Entlohnung übergebenen Silbermünzen ab, was bei einem Stundenlohn von fünf Mark einmal die Woche für ihn, den angeblichen Nachhilfelehrer, am Monatsende vier Mark ausmachte. Als Gegenleistung vermittelte er bei Mathearbeiten unterm Tisch mindestens zwei, höchstens jedoch drei richtige Lösungen. Mehr wären dem amtierenden Lehrkörper aufgefallen.

Der pflegte seinen über Jahrzehnte erworbenen Ruf, gnadenlos streng zu sein. Nie ein Auge zuzudrücken, falls es beispielsweise auf dem Schulklo nicht wie üblich stank, sondern nach Zigaretten roch. Es könnte diese seine Haltung der Grund dafür gewesen sein, dass ihm eines frühherbstlichen Morgens, als er in seinen Garten blickte, sämtliche Sträucher und Pflanzen ihre Wurzeln entgegenstreckten. Böse Buben hatten sie offenbar aus der Erde gezogen. Dies sei, wurde ihm am Tag danach per Postkarte mitgeteilt, auf der kein Absender vermerkt war, ein anschauliches Beispiel für Wurzelziehungen im wahren Leben. Er ahnte, wer ihm geschrieben hatte, konnte uns aber nichts beweisen.

Milchbars und Eisdielen waren außer Schallplattenläden, in denen alle kleinen runden Scheiben, Singles mit 45 Umdrehungen, manche rot, manche schwarz, manche blau, kostenlos angehört werden durften, ehe dann nur eine einzige gekauft wurde, die offiziell erlaubten Jugendzentren. Ab 18 Uhr waren sie geschlossen. Jazzkeller genannte Etablissements, gelegen fern bürgerlicher Wohngegenden, oder dem weltbekannten Londoner »Marquee« nachempfundene Clubs mit Live-Musik gab es allenfalls in den Großstädten Hamburg, Berlin, München, Frankfurt, Düsseldorf, Köln.

Die Tanzstunden, in die wir ungeachtet unterschiedlichen Alters als Klassenverbund geschickt wurden, um gefälliges Benehmen sowie Walzer, Tango und Foxtrott zu lernen, sind als frühe Stätten der Erniedrigung gespeichert. Gorbatschows dereinst geflügelter Satz, dass vom Leben bestraft werde, wer zu spät komme, hatte zwar andere Ursachen, aber damals ähnliche Folgen. Selbst Sekunden des Zögerns beim Kommando »Aufforderung zum Tanz«, ein nur um Bruchteile verpasster Start zur anderen Seite des Studios, wo aufgereiht die Mädchen saßen, wurden umgehend geahndet – wer nicht rennt zur rechten Zeit, muss nehmen jene, die übrig bleiben. Es waren nicht die Schönsten. Weshalb ihre Bilder aus der Erinnerung gelöscht sind.

Die Milchbar als vielstimmiger Ort der Begegnungen ist vom Zeitgeist längst entsorgt. Ebenso ihre vielen Verwandten, wo auch immer Milchbars in Deutschland West einst erblüht waren als elternfreie Räume. Im Osten, drüben, gab es, wie in Gemeinschaftskunde von der uns indoktrinierenden christdemokratischen Lehrkraft zu hören war, erstens keine Bars, zweitens Milch nur für Junge Pioniere, drittens immer Eiszeit, aber nie Eis.

Unser Barbetreiber West dagegen, uralt um die dreißig, aus Rom über die Alpen gezogen, verkaufte zwar süße Milchcocktails und bunte Eiskugeln, aber im Hinterzimmer vor allem das, was für Jugendliche unter achtzehn verboten war. Einen Schuss Rum, damit...

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