Die eigenen Launen akzeptieren
Meine Arbeit besteht zum größten Teil aus Einzelgesprächen mit Patienten, daneben wurde ich im Lauf der Jahre aber auch immer wieder als Fachärztin für Psychiatrie zu Fernsehsendungen eingeladen. Kürzlich saß ich nachmittags zusammen mit einer Journalistin im Studio. Vor Beginn der Sendung unterhielten wir uns ein bisschen. Sie machte einen selbstbewussten und energiegeladenen Eindruck und schien mit ihrem Umfeld emotional verbunden. Wir hatten sofort einen Draht zueinander und genossen das leise Geplauder vor einer Sendung; doch dann fiel mir auf, dass ihre Fingernägel abgekaut waren. Als ich sie darauf ansprach, erzählte sie mir, dass ihre Therapeutin ihr schon wiederholt empfohlen habe, etwas zur »Beruhigung der Nerven« zu nehmen, aber sie könne sich mit dem Gedanken nicht so recht anfreunden.
»Ich wette, dass Ihnen Ihre Nervosität bei der Arbeit von Nutzen ist«, sagte ich. »Sie müssen ständig Augen und Ohren offen halten, um eine gute Story zu erkennen, über die es sich zu berichten lohnt, und ein großes Einfühlungsvermögen besitzen, um in einem Interview die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Außerdem vermute ich, dass Sie ein paar zwanghafte Züge haben, die Ihnen dabei helfen, alles im Griff zu haben, leistungsfähig zu bleiben und nicht lockerzulassen.«
Sie sah mich an, als hätte ich einen Blick in ihre Seele geworfen. »Ja«, sagte sie verblüfft. »Ja!«, wiederholte sie. »So bin ich: unruhig und kribbelig. So war ich schon immer. Warum sollte ich meine Persönlichkeit mit Tabletten bekämpfen?«
Ja, warum?
Noch nie haben so viele Frauen Psychopharmaka geschluckt wie heute. Sie schaffen damit eine neue Normalität, die ganz und gar nicht normal ist. Sie widerspricht unserer Biologie. Unser Gehirn ist anders verdrahtet als das von Männern, und unsere Hormone machen uns launischer.
Frauen sind gefühlsbetonter, und das aus gutem Grund. Während der Evolution hat sich das weibliche Gehirn auf eine Weise entwickelt, die Eigenschaften wie Empathie, Intuition, Emotionalität und Sensibilität stärkte.1 Wir kümmern uns um andere und schenken Leben; unsere Fähigkeit, die Bedürfnisse und Stimmungen anderer wahrzunehmen und darauf zu reagieren, spielt eine entscheidende Rolle für unser aller Überleben, sie ist das Fundament für Familie, Gemeinschaft und Beziehungen. Wir müssen es intuitiv ahnen, wenn unsere Kinder in Gefahr sind oder etwas brauchen oder wenn ein Mann in unserer Umgebung möglicherweise böse Absichten verfolgt. Wir ordnen uns unter, wenn das am sichersten ist, aber genauso verteidigen wir mit Zähnen und Klauen jeden, der unter unserer Obhut steht, sei es ein Familienangehöriger oder ein Freund.
Seit jeher hat man von Frauen verlangt, dass sie schwierige Arbeiten verrichten, und unser Körper verfügt dazu über wirksame Mechanismen. Im Alltag kann es jedoch ziemlich anstrengend sein, mit Mechanismen wie Stimmungsschwankungen und erhöhter Sensibilität leben zu müssen. Und als wäre das noch nicht genug, stehen wir, wie die Journalistin im Fernsehstudio, ständig unter dem Druck, unser Gefühlsleben und unsere angeborenen Stärken im Zaum zu halten.
Die Veränderten Staaten von Amerika: Eine Nation, die sich miserabel fühlt
Dass uns unsere Hormone launenhaft machen, ist eine Sache. Eine andere ist es, dass sich die Pharmaindustrie unsere Biologie durch gezielte Werbung zunutze macht. Antidepressiva werden zum überwiegenden Teil an Frauen verkauft, was zur Folge hat, dass Depression als Frauenkrankheit stigmatisiert ist, dass sich Männer seltener behandeln lassen und Frauen dazu ermuntert werden, brav die tägliche Dosis zu schlucken, damit sie für ihre Familie Essen kochen und sich um die Kinder kümmern können. In Frauenzeitschriften und im Fernsehen ist Werbung für Antidepressiva inzwischen gang und gäbe.
Die Zahl der Menschen, die Antidepressiva nehmen, ist in den vergangenen Jahren weltweit kontinuierlich in die Höhe geschossen. Die großen Pharmaunternehmen begannen, direkt an den Verbraucher gerichtete Werbung gezielt zu platzieren. In Amerika kommen den Terroranschlägen vom 11. September eine besondere Bedeutung zu. Die Frauen, die damals in meine Praxis kamen, litten an akuten Angstzuständen und fürchteten um die Sicherheit ihrer Männer, die an der Wall Street arbeiteten, oder um die ihrer Kinder, die downtown in die Schule gingen. Sie waren angespannt, unruhig und klagten über Schlaflosigkeit. Zur gleichen Zeit veröffentlichten die Hersteller eines Paroxetinpräparats eine Anzeige mit einer Frau auf einer überfüllten Straße, die mit zusammengepressten Lippen ihre Handtasche an sich drückt und von Begriffen wie »Schlafstörungen« und »Sorgen« umschwirrt wird. Dazu der Slogan: »Paxil könnte Millionen helfen.« Die Pharmahersteller hatten den 11. September als Marketingchance erkannt.2 Die Firma Glaxo beispielsweise verdoppelte ihren Werbeetat im Oktober 2001 auf 16 Millionen Dollar im Vergleich zu 8 Millionen Dollar im Oktober des Vorjahres.3 Wohlgemerkt, diese Summe gaben sie in einem einzigen Monat für Werbung aus, um all die Frauen zu ködern, die auf einen Terroranschlag mit Angst reagierten, was völlig natürlich ist. Und die Rechnung ging auf. Die Frauen begannen, die Medikamente zu schlucken, und blieben dabei.
Diese Form von Werbung führte bei vielen von uns, vor allem all denen, die in den 1990er-Jahren erwachsen wurden, zu der überzogenen Vorstellung, wir seien Amateurpharmakologen. Wir hatten genug Werbeanzeigen gesehen, um zu wissen, bei welchen Mitteln seltener Nebenwirkungen auftreten, welche die Libido beeinträchtigen (Wellbutrin, ein Antidepressivum, das den Serotoninspiegel nicht steigen lässt) und bei welchen ein erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Tod besteht (Abilify, ein bei Depressionen verschriebenes Antipsychotikum, wenn es bei älteren Demenzkranken angewendet wird). Meine Mutter hat oft gesagt: »Halbwissen ist immer gefährlich.« Die Mitglieder der Generation X sind schnell dabei, sich mit Psychopharmaka einzudecken, die sie von Freunden, Ärzten und aus dem Internet beziehen, und sie auch an Freunde und Familienangehörige weiterzuverteilen. Wie einem Bericht der New York Times zu entnehmen ist, »vertrauen sie auf eigene Recherchen und die Erfahrungen anderer, um Problemen wie einer Depression zu Leibe zu rücken […], medizinisches Fachwissen ist in ihren Augen nützlich, aber nicht unbedingt erforderlich«.4
Mittlerweile schluckt buchstäblich jeder Antidepressiva, egal ob Mensch oder Tier. Im Ernst – einer meiner Patienten hat eine untergewichtige Katze, der kürzlich Remeron verschrieben wurde, ein Antidepressivum, das appetitanregend wirken kann. Im heutigen Gesundheitssystem, in dem Versicherungen das Sagen haben, werden Ärzte einen Patienten am schnellsten los, indem sie ihm ein Rezept in die Hand drücken, um dann den nächsten ins Sprechzimmer bitten zu können. Außerdem kommt der Patient auf diese Weise immer wieder, um sich auf bequeme Art Nachschub zu besorgen. Leider bedeuten kürzere Arztbesuche, wie sie inzwischen die Regel sind, dass mehr Zeit dafür aufgewendet wird, Symptome mit Tabletten zu bekämpfen, und weniger Zeit dafür, dem Problem auf den Grund zu gehen, um eine dauerhafte Lösung zu finden. Über gesündere, allerdings auch anstrengendere Behandlungsmethoden wird einfach nicht geredet. Cholesterinsenkende Mittel, sogenannte Statine, sind ein gutes Beispiel dafür. Ein Arzt kann sich zwanzig Minuten lang bemühen, einen Patienten von einer Ernährungsumstellung und mehr Bewegung zur Senkung des Cholesterinspiegels zu überzeugen, oder er kann ihm ein Rezept für Tabletten ausstellen – ganz im Sinne der freundlichen Pharmavertreter, die seine Praxis heimsuchen.
Frauen sind besonders empfänglich für Überverschreibungen. Zahlreiche Statistiken zeigen, dass Ärzte Frauen eher Psychopharmaka verschreiben als Männern,5 vor allem Frauen zwischen fünfunddreißig und vierundsechzig, die häufig über Unruhe, Schlafprobleme, sexuelle Störungen oder Antriebslosigkeit klagen. Neulich fragte mich eine unter nervöser Unruhe leidende Patientin, ob sie vielleicht mal Risperdal, ein Antipsychotikum, nehmen sollte, ihrer Kollegin habe es bei Angstattacken geholfen. Risperdal wurde ursprünglich zur Anwendung bei Schizophrenie entwickelt, aber Menschen mit Schizophrenie machen lediglich ein Prozent der Weltbevölkerung aus. Offensichtlich ist es einträglicher, 50 Prozent der Bevölkerung als Zielgruppe ins Visier zu nehmen: Frauen. Ein genialer Schachzug der Pharmaindustrie.
Damit will ich nicht sagen, dass der Einsatz von Psychopharmaka grundsätzlich kontraproduktiv ist. Aber Menschen, die diese Medikamente eigentlich gar nicht brauchen, schlucken sie, während bei anderen, die tatsächlich an psychischen Erkrankungen leiden, diese weder diagnostiziert noch behandelt werden, und zwar häufig aufgrund sozioökonomischer Faktoren.6 Zweifellos müssen Ärzte mitunter schwerere Geschütze auffahren. Eine wochenlang anhaltende vegetative Depression, bei der man es nicht schafft, aus dem Bett zu kommen, zu duschen oder zu essen, überwindet man nicht einfach, indem man Selbstanalyse betreibt. Bei manischen Phasen, in denen man mehrere Tage hintereinander nicht schlafen kann, ist ein Stimmungsstabilisierer notwendig.
Die kosmetische Psychopharmakologie hat Ähnlichkeit mit der kosmetischen Chirurgie. Wenn sich immer mehr Frauen Brustimplantate einsetzen lassen, kommt sich der Rest von uns...