2. Bedürfnisse, Gefühle und Strategien – Das Zentrum Gewaltfreier Kommunikation
Seit zwei Wochen und trotz vieler Gespräche jeden Tag dasselbe: Yamal (13) kommt am Morgen in die Klasse, wirft seinen Rucksack auf den Boden und geht auf seinen neuen körper- und sehbehinderten Mitschüler Christian zu, macht „Scherze“ über ihn, lacht, fragt ihn z. B., ob er viele Freunde habe, ob er überhaupt rechnen könne, warum er keinen Vater habe, ob er überhaupt etwas sehen könne ... Mehrere Mitschüler lachen mit. Heute ist es anders. Yamal steht vor der Tür, wartet aufgebracht auf mich und sagt, Christian habe „ohne Grund“ gedroht, ihn mit dem Baseballschläger zu schlagen, dabei habe er nur einen Scherz gemacht ...
Und ich überlege jeden Tag aufs Neue: Warum macht Yamal das?
Warum geht er ausgerechnet mit einem behinderten Mitschüler so um?
Und: Was ärgert mich so daran?
Als Sie Lehrerin oder Lehrer werden wollten, hatten Sie vielleicht die Sehnsucht, mit Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, das, was Sie lieben und Ihnen wichtig ist, Deutsch oder Englisch oder Mathe oder Religion oder Kunst, an Kinder und Jugendliche weiterzugeben, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, einfach eine so gute Lehrerin oder ein so guter Lehrer werden zu wollen wie Ihre Lieblingslehrerin oder Ihr Lieblingslehrer während Ihrer eigenen Schullaufbahn. Sie wollten glücklich werden in Ihrem Beruf und sich dabei einige – viele? – Ihrer Bedürfnisse erfüllen. So laden wir Sie ein, mit den Stichworten „Bedürfnisse“ und „Gefühle“ zu beginnen: In Gewaltfreier Kommunikation geht es um eine Haltung, nicht um eine Technik. Diese Haltung hat ganz viel mit dem zu tun, wonach wir uns sehnen – in unserem Beruf wie in unseren privaten Lebenszusammenhängen. Wir beschreiben diese Haltung so: Ich möchte mich auf einen Kommunikationsprozess einlassen, dessen Ausgang offen und dessen Ziel Authentizität und Verständigung ist. Dabei geht es erst einmal nicht um die „Lösung“ von als schwierig empfundenen Situationen / Konflikten, sondern zunächst geht es um mich als Lehrerin oder Lehrer:
- Wie kann ich auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso achten wie auf die Gefühle und Bedürfnisse der Kolleginnen oder Kollegen, der Schulsozialarbeiterinnen oder -arbeiter, der Schülerinnen und Schüler oder anderer Personen, die am Schulleben beteiligt sind?
- Wie kann ich mithilfe von Gewaltfreier Kommunikation und den von ihr angeregten (Selbst-)Reflexionsprozessen (mit Selbst-Empathie und Empathie12) anders als bisher mit als schwierig empfundenen Situationen umgehen?
Oder mit Justine Mol: „Bei Gewaltfreiem Kommunizieren geht es nicht darum, zu gewinnen oder recht zu behalten, sondern darum, einander zuzuhören, Unterschiede zu akzeptieren und mit ihnen zu leben.“13 Da zu allen Situationen, in denen unsere Gefühle uns anzeigen, dass Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden, auch Handlungen – in der Gewaltfreien Kommunikation spricht man von „Strategien“ – gehören, bieten wir Ihnen eine erste Übung mit diesem Stichwort an:
ÜBUNG
Bitte beschreiben Sie jetzt in jeweils drei Sätzen drei Situationen Ihrer Arbeit in der Schule, in denen Sie selbst vorkommen und die Ihnen schwerfallen, wo Sie Probleme sehen, sich unwohl fühlen ... Diese drei Herausforderungen sind das Material, mit dem Sie in diesem Kapitel immer wieder arbeiten werden.
Wir beginnen mit einer Beispielsituation aus einer unserer Fortbildungen mit Lehrerinnen und Lehrern:
Der Lehrer einer berufsbildenden Schule berichtet: „In meiner Schule kommuniziert der Schulleiter im Wesentlichen mit Aushängen oder E-Mails. Er möchte, dass die Lehrerinnen und Lehrer diesem Kommunikationsstil vertrauen und den Aushängen bzw. E-Mails Folge leisten. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind empört über diesen Kommunikationsstil.“
Situation 1:
Situation 2:
Situation 3:
2.1 Bedürfnisse
2.1.1 Was verstehen wir in Gewaltfreier Kommunikation unter Bedürfnissen? – Einige Hinweise
Alles, was wir denken, fühlen und tun, hat mit einem Bedürfnis zu tun. Unsere Handlungen dienen dazu, Bedürfnisse zu erfüllen.14
„Bedürfnisse“ meint hier „universelle Lebensmotive“15: Alle Menschen in allen Kulturen haben dieselben grundlegenden Bedürfnisse, um ein erfülltes Leben zu führen. Bedürfnisse sind nicht an eine Zeit, einen Raum, einen Ort oder eine Person gebunden. Wie wichtig einem Menschen das eine oder andere Bedürfnis gerade ist, hängt von der momentanen individuellen Situation ab.
Bedürfnisse in diesem Sinne sind immer angemessen, immer berechtigt und immer positiv formuliert, weil sie unser Überleben und Wohlergehen sichern.16
Von Bedürfnissen unterscheiden wir Strategien. Das verwechseln wir oft. Ein Beispiel: Ein Hochschullehrer sagt zu seinen Studentinnen und Studenten: „Es ist mir ein großes Bedürfnis, dass Sie pünktlich um 9 Uhr im Seminar sind.“ Doch dies ist kein Bedürfnis, sondern die Bitte / Aufforderung zur Pünktlichkeit ist eine Strategie, um ein bestimmtes Bedürfnis des Hochschullehrers zu erfüllen. Welche Bedürfnisse könnten hinter „9 Uhr pünktlich im Seminar“ stecken? Es könnten sein: Klarheit, Planbarkeit, Verlässlichkeit, Teamgeist, Wertschätzung ...
Ein zweites Beispiel: Um mir das Bedürfnis nach Erholung zu erfüllen, kann ich unterschiedliche Strategien wählen: klassische Musik hören, um den See laufen, mich mit Freunden treffen, shoppen gehen, im Internet chatten, eine Techno-Disco besuchen, im Garten arbeiten, das Auto waschen, einen Krimi lesen, schlafen ...
M. Max-Neef, lateinamerikanischer Ökonom und Träger des Alternativen Nobelpreises, hat – hier vereinfacht – aufgrund empirischer Forschung und reflexiver Theoriebildung neun solcher Grundbedürfnisse der Menschen formuliert:
- Bedürfnisse des physischen Lebens (Wasser, Essen, Luft usw.)
- Sicherheit / Schutz
- Verständnis / Empathie
- Liebe
- Erholung / Spiel
- Kreativität
- Geborgenheit / Gemeinschaft
- Autonomie / Selbstbestimmung
- Sinn / Inhalt
Diese Grundbedürfnisse, so Max-Neef, sind unabhängig von den kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer Menschen leben, und daher konstitutiv für alle Menschen.17
Eine Liste von Bedürfnissen, die wir immer wieder in der Schule benutzen, ist die folgende, die die Bedürfnisse in einer Sprache formuliert, die auch Kinder verstehen.
Bedürfnisse ...18 | Brauchst du ...? Möchtest du ...? |
Erholung | ... freie Zeit, Zeit, in der dir keiner sagt, was du tun sollst, ... |
Kreativität | ... deine Kraft spüren, entdecken, was du schaffen kannst, etwas Neues machen, das zu dir passt, ... |
Identität | ... herausfinden, was du wirklich willst, verschiedene Sachen ausprobieren und sie wieder lassen können, wenn es dir damit nicht gut geht, ... |
Freiheit | ... selbst entscheiden, was für dich gut ist, ... |
Autonomie | ... selbst entscheiden, was du tust, selbst aussuchen, was du magst, wählen können, wie du etwas machst, ... |
Authentizität | ... sagen, was wirklich in dir los ist, tun, wonach dir wirklich ist, so sein können, wie du bist, ... |
Sicherheit | ... sehen können, dass es dir bei einer Sache gut gehen wird, ... |
Kooperation | ... dass alle miteinander etwas tun, wir zusammen helfen, wir ein Team sind, ... |
Effektivität / (Selbst-)Wirksamkeit | ... es schaffen können, dass sich Dinge ändern ... etwas erledigen / beenden, was du dir vorgenommen hast, ... |