2. Bedürfnisse, Gefühle und Strategien – Das Zentrum Gewaltfreier Kommunikation
Was willst du, dass ich für dich tun soll? – Biblische Inspirationen
Ich möchte zunächst von einer Wundergeschichte erzählen, die Markus berichtet (10, 46–52): Jesus heilt einen Blinden. In der revidierten Lutherübersetzung von 1984 ist der griechische Text so übersetzt:
Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!
Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.
Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.
Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf Jesus: Er überfällt den Blinden nicht einfach mit irgendetwas – nicht einmal mit einem Heilungswunder. Jesus respektiert die Würde und die Autonomie des blinden Mannes: Was soll ich für dich tun? Jesus fragt nach den Bedürfnissen des Blinden: Was brauchst du? Sie sollen im Zentrum stehen. Wann frage ich, wann fragen Sie, wenn wir mit Erwachsenen oder vor allem, wenn wir mit Kindern zusammen sind, nach deren Bedürfnissen: Was brauchst du? Was ist dir jetzt wichtig? Aus Jesu Frage „Was soll ich für dich tun?“ spricht die Achtung vor diesem Fremden am Wegesrand, den andere zum Schweigen bringen wollten. Er soll rufen und reden dürfen, er soll „Ich“ sagen können.
„Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“, „Herr, ich möchte wieder sehen können!“ Ein blinder Bettler richtet Bitten an Jesus. Zunächst bittet der Blinde um Erbarmen, ein uns fremd gewordenes Wort: Es bedeutet mitfühlen, mitempfinden, Anteil nehmen, Mitgefühl zeigen. Der Blinde bittet um Empathie. Die Menschen verweigerten ihm genau das: Schweigen sollte er. Doch der Blinde steht zu seinem Bedürfnis, und er schrie lauter: „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Und Jesus unterbricht seinen Weg, hält inne, hat in diesem Moment nichts Wichtigeres zu tun: Er wendet sich dem Blinden zu. Präsenz! Der mitfühlende Jesus fragt den Blinden, was er tun solle. „Herr, ich möchte sehen können!“ Mitgefühl ist das Erste, was er braucht, einen, der Anteil nimmt an seinem Leben. Und im Vertrauen auf solches Mitgefühl kann er dann bitten: „Herr, ich möchte sehen können!“ Physical needs stehen im Zentrum dieser Wundergeschichte.
Einiges wird diesen Bitten innerlich vorausgegangen sein: Möglicherweise ist der Blinde zutiefst verzweifelt. Und er kennt den Grund seiner Verzweiflung: sein unerfülltes Bedürfnis zu sehen. Und dahinter stehen vielleicht noch zwei andere Grundbedürfnisse, die Grundlage aller unserer Bedürfnisse sind: das Bedürfnis nach Autonomie – endlich mal nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen sein müssen, einfach Ich sein können – und das Bedürfnis nach Verbindung und Gemeinschaft – endlich gleichberechtigt dazugehören können. Vielleicht – eine waghalsige Vermutung, ich gebe es zu, doch Juden kennen ihre Schrift – hat sich Bartimäus mit seinem Bedürfnis nach Autonomie und Verbundenheit und Gemeinschaft auch an Psalm 31 erinnert: „Denn du, Gott, bist mein Fels und meine Burg“ (Vers 4) und „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Vers 9). „Denn du, Gott, bist mein Fels und meine Burg“ – „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ – Verbundenheit. Und „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – „Herr, ich möchte wieder sehen können!“ – Autonomie.
Der Blinde kennt seine Situation, nimmt seine Gefühle wahr, entdeckt die dahinter liegenden Bedürfnisse, und jetzt gibt’s nur noch eines: Ich möchte, dass dies wahr wird. Und er bittet Jesus um Mitgefühl und darum, sehen zu können. Und er sieht. Und er geht. Und er folgt nach.
Es gibt ein Gedicht einer zeitgenössischen italienischen Dichterin, Patricia Cavalli, dessen letzte Zeile unserer Geschichte einen schönen Gedanken hinzufügt. Das Gedicht heißt „Guarda!“, „Schau her!“. Und die letzte Zeile lautet: „Schau mich an! Auferstehe mich!“9
Ich habe nun nichts anderes getan, als mit den Möglichkeiten Gewaltfreier Kommunikation diese Geschichte nachzuerzählen. Im Anschluss an diese Wundererzählung fallen mir vier Wünsche an Sie ein, wenn Sie jetzt dieses Kapitel über Bedürfnisse, Gefühle und Strategien lesen und bearbeiten:
Ich wünsche Ihnen, dass Sie wie der Blinde in unserer Wundergeschichte zu Ihren Bedürfnissen stehen! Dies erscheint mir als ein guter Weg, sehender zu werden!
Ich wünsche Ihnen, dass Sie wie der Blinde in unserer Wundergeschichte darum bitten können, dass Ihr Leben schöner und reicher wird. Das erscheint mir als die eine Hälfte eines guten Wegs, glücklicher zu werden.
Mein dritter Wunsch: Ich wünsche Ihnen, dass Sie wahrnehmen, wenn Menschen um Sie herum, wer auch immer in der Gemeinde, in der Stadt oder an anderem Ort, zu Ihnen sagen oder auch nur so tun, als ob sie sagten: „Schau mich an. Auferstehe mich.“ Das erscheint mir als die andere Hälfte des Wegs, glücklicher zu werden.
Und schließlich wünsche ich Ihnen, dass Sie, auch wenn Sie alles zu wissen meinen, niemanden, vor allem nicht Menschen, die Ihnen anvertraut sind oder die jünger sind als Sie oder die sich Ihnen öffnen, überfahren, weil Sie ja wissen, was diese brauchen, sondern sich an diese Jesus-Geschichte erinnern. Auch Jesus hat gefragt: Was brauchst du?
Was wollten Sie für sich tun? – Die Sehnsucht des Anfangs
Als Sie Pfarrerin oder Pfarrer werden wollten, hatten Sie vielleicht die Sehnsucht, mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, das, was Sie lieben und Ihnen wichtig ist, die biblischen Traditionen oder die Hoffnungen der Mütter und Väter des Glaubens auf Gerechtigkeit und Frieden heute zu leben und weiterzugeben, oder Sie hatten vielleicht die Sehnsucht, einfach eine so gute Pfarrerin oder ein so guter Pfarrer werden zu wollen wie Ihre Lieblingspfarrerin oder Ihr Lieblingspfarrer während Ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Vielleicht war es ja auch ganz anders und Sie wollten sich das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit erfüllen, das in Ihrem Leben bis dato unerfüllt war? Ich nehme an, Sie wollten glücklich werden in Ihrem Beruf und sich dabei einige – viele? – Ihrer Bedürfnisse erfüllen. Welche Sehnsucht trieb Sie an und welche Bedürfnisse waren das, die Sie sich damals mit Ihrer Berufswahl erfüllen wollten, welche anderen sind vielleicht dazugekommen? Ich bitte Sie, sich dies zu vergegenwärtigen und Ihre Bedürfnisse hier zu notieren:
Ich lade Sie ein, bei Ihrer Sehnsucht zu bleiben und mit den Stichworten „Bedürfnisse“ und „Gefühle“ zu beginnen: In Gewaltfreier Kommunikation geht es um eine Haltung, nicht um eine Technik. Diese Haltung hat ganz viel mit dem zu tun, wonach wir uns sehnen – in unserem Beruf wie in unseren privaten Lebenszusammenhängen. Ich versuche immer wieder neu, diese Haltung für mich und andere zu beschreiben: Ich möchte mich auf einen Kommunikationsprozess einlassen, dessen Ausgang offen ist und auf dessen Weg Authentizität und Verständigung möglich werden. Unverzweckt und frei, absichtslos möchte ich da und mit anderen zusammen sein. Dabei geht es also erst einmal nicht um ein zielgerichtetes Handeln wie z. B. um die „Lösung“ von als schwierig empfundenen Situationen / Konflikten, sondern zunächst geht es um mich, um Sie als Pfarrerinnen oder Pfarrer, als haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter in Kirchen und Gemeinden:
- Wie kann ich auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso achten wie auf die Gefühle und Bedürfnisse der Kolleginnen oder Kollegen, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Menschen in ‚meiner‘ Gemeinde, denen ich begegne?
- Und erst dann – und vielleicht wird dies dann leichter oder ganz leicht, wenn ich gut mit mir selbst verbunden bin: Wie kann ich mithilfe von Gewaltfreier Kommunikation und den von ihr angeregten (Selbst-)Reflexionsprozessen (mit Selbst-Empathie und Empathie10) anders als bisher mit von mir als schwierig empfundenen Situationen umgehen?
Oder mit Justine Mol: „Bei Gewaltfreiem Kommunizieren geht es nicht darum, zu gewinnen oder recht zu behalten, sondern darum, einander zuzuhören, Unterschiede zu akzeptieren und mit ihnen zu leben.“11
Zu allen Situationen, in denen unsere Gefühle uns anzeigen, dass Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden, gehören auch Handlungen – in der Gewaltfreien Kommunikation spricht man von „Strategien“. Ich biete Ihnen dazu eine erste Übung an.
ÜBUNG
Bitte beschreiben Sie jetzt in jeweils drei Sätzen drei Situationen Ihrer Arbeit, in denen Sie selbst vorkommen und die Ihnen schwerfallen, wo Sie Probleme sehen, sich unwohl fühlen … Diese drei Herausforderungen sind das Material, mit dem Sie in diesem Kapitel immer wieder...