Vom Glück des Widerspruchs
ANNE WILL: Lieber Hans Küng, wir sitzen hier im November 2013, an einem wunderschönen Tag, knallblauer Himmel, draußen Sonnenschein. 2013 ist für Sie ein besonderes Jahr, Sie sind 85 geworden, im März, und Sie haben mit dem dritten Band Ihre Lebenserinnerungen abgeschlossen. Also eine Art Abschluss, ein Ende, vom »Abend des Lebens« schreiben Sie. Außerdem haben Sie öffentlich gemacht, dass Sie an Parkinson erkrankt sind. Und Sie haben auch gesagt, vor langer Zeit ja schon, Sie werden dann, wenn die Krankheit Sie verändern sollte, Sterbehilfe in Anspruch nehmen, aus dem Leben scheiden. Woher wissen Sie eigentlich, dass dann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, kein irdisches Glück mehr auf Sie wartet?
HANS KÜNG: Ach, ich würde nicht sagen, dass kein irdisches Glück mehr auf mich wartet, sondern ich weiß dann nur, dass mein Leben sich vollendet hat, dass ich weiter keine Aufgaben mehr zu erfüllen habe, dass es einfach Zeit ist. Wie es bei Kohelet im Alten Testament heißt, es gibt eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Und dann wird es eben so weit sein.
ANNE WILL: Ist es ein bestimmter Tag, den Sie jetzt schon kennen?
HANS KÜNG: Nein. Ich habe auch nie gesagt, ich würde mich sofort verabschieden, das wurde eine Zeit lang durch die Medien so verbreitet. Ich habe immer noch die Möglichkeit, dass meine verschiedenen Krankheiten …
ANNE WILL: Was ist es denn alles?
HANS KÜNG: Na ja, mit dem Schreiben habe ich Schwierigkeiten, ich habe Schwierigkeiten mit den Augen, eine Makuladegeneration, ich habe Schwierigkeiten mit dem Rücken, mit dem Lendenwirbel und so weiter. Das ist alles nicht schlimm, wenn man so will, aber es sind einfach Zeichen, dass die letzte Periode begonnen hat und dass mein Leben auch nicht ewig dauert. Ich habe mich von vornherein immer mit dem Leben so abgefunden, wie es war. Ich wollte das auch nicht verschweigen, was ich ja leicht hätte machen können. Ich hätte ja leicht diesen dritten Band furios abschließen können mit irgendeinem großen Ereignis. Ich habe genügend solcher Ereignisse erlebt. Aber ich wollte bis zum Ende die Wahrheit in Wahrhaftigkeit sagen.
ANNE WILL: Ich habe Sie eben kurz unterbrochen an der Stelle, als Sie, glaube ich, dabei waren, uns zu entwickeln, woran Sie festmachen könnten, dass der Zeitpunkt gekommen wäre, wo Sie sagen, okay, jetzt ist mein Leben vollendet, und jetzt mag ich den nächsten Schritt gehen.
HANS KÜNG: Also der sichere Terminus, wo es für mich klar wäre, wäre das, wenn ich irgendwelche Zeichen von Demenz spüre. Hier um die Ecke wohnte Walter Jens. Ich habe über Jahre seine Demenzerkrankung miterlebt. Wir haben ja in den 1990er-Jahren zusammen Vorlesungen gehalten, die »Menschenwürdig sterben« hießen, unten in der Universität. Und Jens hat immer gesagt, es wäre für ihn ein Glück, wenn er wie Sigmund Freud damals einen Arzt fände, der ihm dann helfen würde zu sterben. Er hat das eigentlich vorgehabt, er hat aber den Moment verpasst. Ich will auf keinen Fall den Moment verpassen. Beginnende Demenz wäre jedenfalls eine klare Indikation, was sonst noch dazu kommen kann, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich bin bereit zu allem. Ich bin bereit, auch noch eine neue Aufgabe zu übernehmen, wenn eine sich stellt, die ich jetzt noch leisten kann. Aber ich will nicht in demselben Stil weitermachen. Ich habe alle Bücher geschrieben, die ich schreiben wollte, habe alle Reisen gemacht, die ich machen wollte, also ich bin in diesem Sinne ein glücklicher Mensch, relativ glücklich, und kann sagen, mein Werk hat sich in etwa gerundet und vollendet.
ANNE WILL: Aber warum wollen Sie dann Ihr Leben beenden, sollten Sie Anzeichen spüren einer beginnenden Demenz?
HANS KÜNG: Weil ich nicht der Meinung bin, dass das irdische Leben alles ist. Das hängt natürlich mit meiner Glaubensüberzeugung zusammen, dass ich nicht glaube, dass ich in ein Nichts hinein sterbe. Ich kann Leute verstehen, die nicht an ein ewiges Leben glauben, dass die natürlich Angst haben vor dem Nicht-Sein. Ich bin aber der Überzeugung, dass ich nicht in ein Nichts hineinsterbe, sondern in eine letzte Wirklichkeit hineinsterbe. Dass ich sozusagen nach Innen gehe, in die tiefere, tiefste Wirklichkeit und von dorther also ein neues Leben finde. Das ist meine Glaubensüberzeugung. Und die lässt mich natürlich etwas souveräner sein bezüglich der Länge und dem Aushalten in diesem Leben. Ich habe vor kurzem wieder von Ärzten gehört, die sagen, es sei manchmal erstaunlich, wie Leute unbedingt noch länger leben wollen, sogar Theologen, hat man mir gesagt, wie Leute unbedingt noch länger leben wollen, sogar Theologen, hat man mir gesagt …
ANNE WILL: … die vielleicht nicht so ganz überzeugt sind …
HANS KÜNG: … die nicht ganz so überzeugt sind, ja. Wenn man nicht ganz überzeugt ist und schwankt, dann kann man unter Umständen sagen, ja, ja, ich möchte doch noch weiterleben und dann verpasst man den Moment.
ANNE WILL: Warum wäre das irdische Dasein in dem Zustand etwa einer beginnenden Demenz nicht mehr das, was Sie möchten? Warum wollen Sie dann aus dem Leben scheiden?
HANS KÜNG: Wenn man es sieht, wie das oft ist … Neuerdings gibt es sogar Demenz-Dörfer. Eine schreckliche Vorstellung! Das kann ich mir nicht vorstellen, dass ich das haben möchte. Ich möchte so sterben, dass ich noch voll Mensch bin und nicht nur reduziert auf ein vegetatives Dasein. Oder wie mein Freund Walter Jens eigentlich auf die Kindheit zurückgeführt. Wo ich also dann, sagen wir mal, wie er, mich dann freue an Kindern und Tieren. Das ist alles schön, er hatte gute Pflege und ich will das nicht bewerten. Ich will überhaupt niemandem etwas vorschreiben. Ich rede nur für mich. Aber ich weiß natürlich, dass viele Menschen, auch die uns jetzt zuhören und zuschauen, ähnliche Probleme haben, sehr viele Menschen.
ANNE WILL: Sie sind – das weiß jeder – einer der oder vielleicht auch der bekannteste Kirchenkritiker. Und zwar einer, der aus der Kirche heraus kritisiert hat, ein katholischer Theologe, aber auch ein katholischer Priester. Ihre Kirche hat ja eine dezidiert andere Haltung dazu, dass man den Zeitpunkt für sich bestimmen könnte, an dem man aus dem Leben scheidet. Ihre Kirche versteht das Leben als ein Geschenk Gottes. Und die Selbsttötung – in Konsequenz dann – als Absage an das Ja Gottes zum Menschen. So steht es im Katechismus. Gehen Sie, wenn Sie sich hier anders verhalten, auf eine Art in einen letzten Widerspruch zur Amtskirche?
HANS KÜNG: Ich glaube, dass man sich erstens bei der Kirchen-Leitung um eine andere Haltung zur Sterbehilfe bemühen sollte. Es geht ja nicht einfach um die Kirchengemeinschaft. Das heißt, in der Kirchen-Gemeinschaft sind es 77 Prozent, glaube ich, die, nach den neuesten Umfragen in Deutschland, es für richtig halten, dass man in der letzten Phase unter Umständen Sterbehilfe in Anspruch nimmt. Ich glaube, dass da die Kirchenleitung einfach noch zurückgeblieben ist in der Reflexion und in der Entscheidung. Dabei bin auch ich der Überzeugung, der festen Überzeugung, dass das Leben Gnade Gottes ist. Es ist mir geschenkt. Ich habe es nicht selber erworben. Das ist mir, als gläubigem Menschen, durch die Eltern von Gott geschenkt. Aber das heißt, dieses Gnadengeschenk bedeutet für mich auch Verantwortung. Das sagt übrigens auch der Katechismus.
Wir haben alle eine Verantwortung für unser Leben. Und warum soll die in der letzten Phase aufhören, diese Verantwortung? Die ist für mich auch in der letzten Phase da. Die kann ich dann auch wahrnehmen. Dazu gehört auch: Wenn ich ein Mann wäre in seinen 40er-Jahren, mit Familie, Frau und Kindern, und hätte ein Missgeschick, etwa einen Kollaps im Berufsleben, erlebt, dann kann ich mich ja nicht einfach aus dem Leben verabschieden, unbekümmert darum, wer da noch übrig bleibt. Wir haben ja – ich glaube, in der katholischen Kirche muss das auch deutlich werden – eine neue Lebensperiode geschenkt bekommen. Ich wäre doch nicht in diesem Gesundheitszustand, wenn ich nicht Hygiene, Medizin und alles hätte, was man eben heute glücklicherweise haben kann.
ANNE WILL: Viel Sport: Sie sind immer geschwommen.
HANS KÜNG: Ja, natürlich, das mache ich auch jeden Tag. Das ist natürlich wunderbar. Insofern ist das natürlich ein zusätzliches Leben, eine zusätzliche Periode, die aber nicht einfach von Gott geschaffen worden ist. Die ist vom Menschen geschaffen worden. Und jetzt ist die Frage: Wie lange muss ich das durchhalten? Muss ich alle Pillen schlucken? Ich habe schon zwölf pro Tag. Muss ich noch mehr? Muss ich noch alle Operationen machen lassen? Da hat sich auch schon im sogenannten kirchlichen Lehramt sehr vieles positiv entwickelt. Heute sagt niemand mehr, dass die sogenannte passive Sterbehilfe – doch in Rom sagen sie das zum Teil noch, auch das sei nicht gestattet –, also heute sagt man ja, die Maschinen abstellen, die Beatmungsmaschine, die Ernährungsmaschine, das darf man. Das ist passiv. Ich sehe nicht ein, warum das weniger aktiv ist, als wenn ein Arzt mir eine erhöhte Dosis Morphium gibt. Das alles ist vonseiten der Kirchenleitung nicht genügend überlegt worden. Ich wollte durchaus auch einen Anstoß geben zum neuen Überlegen. Wir haben ja eine ähnliche Situation mit der Geburtenregelung. Da hat man auch völlig falsch entschieden, wie man weiß. Aufgrund der Enzyklika Humanae vitae (1968), die sagt, dass Empfängnisverhütung eine Todsünde ist. Das wird von römischer Seite noch immer behauptet. Jetzt hat man gemerkt, dass heute eine neue Situation ist. Da müsste sich doch auch die Kirchenleitung überlegen, was das bedeutet. Ich möchte doch, dass die Kirche dem Menschen hilft zu sterben und nicht nur...