EINFÜHRUNG
Nach unserem Ebenbild
In meiner Kindheit stellte ich mir Gott als einen großen, mächtigen alten Mann vor, der im Himmel wohnt – eine stärkere, mächtigere Version meines Vaters, ausgestattet mit Zauberkräften. Ich malte mir aus, dass Gott gut und imposant aussah, mit langen grauen Haaren, die ihm wallend auf die breiten Schultern fielen. Er saß auf einem von Wolken umgebenen Thron. Wenn er sprach, durchdrang seine gewaltige Stimme den Himmel, vor allem wenn er wütend war. Und er war oft wütend. Aber Gott war auch warmherzig und liebevoll, voller Gnade und gütig. Er lachte, wenn er glücklich war, und weinte, wenn er traurig war.
Ich weiß nicht, woher ich dieses Bild von Gott hatte. Vielleicht hatte ich es irgendwo als buntes Kirchenfenster oder abgedruckt in einem Buch gesehen. Es ist aber auch möglich, dass ich damit geboren wurde. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass es kleinen Kindern schwerfällt, zwischen dem Verhalten und den Taten von Menschen und dem Verhalten und den Taten, die Gott zugeschrieben werden, zu unterscheiden, und zwar unabhängig davon, woher die Kinder stammen oder wie religiös sie sind. Wenn man Kinder bittet, ihre Vorstellung von Gott darzulegen, beschreiben sie stets ein menschliches Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten.1
Als ich älter wurde, ließ ich die meisten meiner kindlichen Ansichten hinter mir. Doch das Gottesbild blieb. Ich wuchs nicht in einer besonders religiösen Familie auf, aber immer schon faszinierten mich Religion und Spiritualität. Mir schwirrten allerlei unausgegorene Theorien darüber im Kopf herum, was Gott war und wie er aussah (und er ähnelte eigenartigerweise noch immer meinem Vater). Ich wollte aber nicht einfach nur etwas über Gott wissen; ich wollte Gott erfahren, seine Gegenwart in meinem Leben spüren. Doch immer, wenn ich das versuchte, erfasste mich unwillkürlich ein Bewusstsein von der tiefen Kluft, die sich zwischen uns auftat: Gott befand sich auf der einen und ich befand mich auf der anderen Seite, und keiner von uns war in der Lage, diesen Abgrund zu überwinden.
Als Jugendlicher konvertierte ich vom Islam, den meine aus dem Iran stammenden Eltern eher lauwarm praktizierten, zum enthusiastischen Christentum meiner amerikanischen Freunde. Sogleich fand die Neigung aus meiner Kindheit, mir Gott als mächtiges menschliches Wesen vorzustellen, in der Verehrung Jesu Christi als »Fleisch gewordener Gott« ein konkretes Objekt. Anfangs fühlte sich das an, als würde ich mich endlich an einer Stelle kratzen, an der es mich schon mein ganzes Leben lang gejuckt hatte. Jahrelang hatte ich nach einem Weg gesucht, die Kluft zwischen mir und Gott zu überwinden. Nun entdeckte ich eine Religion für mich, die behauptete, es gäbe diese Kluft überhaupt nicht. Wenn ich wissen wollte, wie Gott ist, konnte ich ihn mir nun einfach als den vollkommensten aller Menschen vorstellen.
Das ergab durchaus Sinn. Konnte es, um die Barriere zwischen den Menschen und Gott zu überwinden, einen besseren Weg geben, als Gott zu einem Menschen zu machen? Zu der Frage, warum die christliche Vorstellung von Gott so erfolgreich ist, schrieb der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach: »Das Gemüt findet nur in sich selbst, in seinem Wesen, nur in einem Gotte, der ist, wie und was das Gemüt [ist], seine Befriedigung.«2
Dieses Feuerbach-Zitat las ich zum ersten Mal auf dem College, ungefähr zu der Zeit, als ich beschloss, mein Leben dem Studium der Religionen der Welt zu widmen. Feuerbach, so sagte ich mir, meint damit offenbar, dass die nahezu universelle Attraktivität eines Gottes, der aussieht, denkt, fühlt und handelt wie wir, in unserem tiefsitzenden Bedürfnis wurzelt, das Göttliche als Spiegelbild unseres eigenen Selbst zu erleben. Diese Wahrheit traf mich wie ein Donnerschlag. War das der Grund, warum ich mich als Kind so zum Christentum hingezogen gefühlt hatte? Hatte ich mir während dieser ganzen Zeit ein Gottesbild konstruiert, das ein Spiegelbild meiner eigenen Wesenszüge und Emotionen darstellte?
Dass es so gewesen sein könnte, ließ ein Gefühl der Bitterkeit und Desillusionierung in mir aufkommen. Auf der Suche nach einem weiter gefassten Gotteskonzept ließ ich das Christentum hinter mir und kehrte zum Islam zurück. Ich fühlte mich nun von dem radikalen Ikonoklasmus dieser Religion angezogen: der Auffassung, dass Gott nicht bildlich erfasst und dargestellt werden kann, sei es in menschlicher oder anderer Gestalt. Doch erkannte ich schnell, dass die Ablehnung des Islam, Gott in menschlicher Gestalt abzubilden, keineswegs bedeutete, von Gott nicht in menschlichen Begriffen zu denken. Muslime neigen genau wie andere Gläubige dazu, Gott ihre eigenen Tugenden und Schwächen zuzuschreiben, ihre eigenen Gefühle und Fehler. Und sie haben diesbezüglich, so wie die meisten von uns, auch kaum eine Wahl.
Es ist nämlich so, dass die Neigung, das Göttliche zu vermenschlichen, unserem Gehirn, unserer Weise, die Welt zu erfassen und zu deuten, sozusagen innewohnt. Die Vermenschlichung der Gottesvorstellung wurde deswegen zu einem zentralen Charakteristikum fast aller religiösen Traditionen. Tatsächlich lässt sich die gesamte Geschichte menschlicher Spiritualität als ein vernetztes, sich stetig weiterentwickelndes und bemerkenswert übereinstimmendes Bemühen betrachten, das Göttliche zu begreifen, indem wir es mit unseren Emotionen und Wesenszügen, unseren Wünschen, Stärken und Schwächen, ja sogar mit unserer körperlichen Gestalt ausstatten – kurz gesagt, indem wir Gott zu einem von uns machen. Damit will ich sagen, dass die meisten von uns – sei es bewusst oder unbewusst und unabhängig davon, ob wir gläubig sind oder nicht – sich Gott als eine göttliche Version unserer selbst vorstellen: ein menschliches Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten.3
Das festzustellen heißt nicht: zu behaupten, es gäbe Gott nicht, oder das, was wir Gott nennen, wäre ganz und gar eine menschliche Erfindung. Zwar können diese beiden Aussagen durchaus der Wahrheit entsprechen, aber darum geht es in diesem Buch nicht. Ich bin nicht daran interessiert, die Existenz oder Nichtexistenz Gottes zu beweisen, aus dem einfachen Grund, dass weder für das eine noch für das andere Beweise existieren. Ob Sie glauben oder nicht, ist eine persönliche Wahl. Entweder entscheiden Sie sich dafür zu glauben, dass es jenseits der materiellen Welt noch etwas Anderes gibt – etwas Reales, Erkennbares –, oder Sie entscheiden sich dagegen. Wenn Sie sich, wie ich, dafür entscheiden, dann müssen Sie sich eine weitere Frage stellen: Möchten Sie dieses Andere erleben? Möchten Sie mit ihm kommunizieren? Es kennen lernen? Wenn ja, dann kann es hilfreich sein, eine Sprache zu finden, mit deren Hilfe sich etwas beschreiben lässt, was vom Grundsatz her unbeschreiblich ist.
Hier kommt die Religion ins Spiel. Bei allen Unterschieden in den Mythen und Ritualen, der Tempel und Kathedralen, der Gebote und Verbote, die seit Jahrtausenden die Menschheit in unterschiedliche und oft miteinander konkurrierende Glaubensfraktionen trennen, ist Religion immer auch eine »Sprache«. Sie wird aus Symbolen und Metaphern gebildet und ermöglicht es den Gläubigen, im Dialog mit anderen und auch mit sich selbst die unbeschreibliche Erfahrung des Glaubens mitteilbar zu machen. Und es gibt ein Symbol, das durch die ganze Geschichte der Religionen hindurch als universell und absolut besonders herausragt – eine große Metapher für Gott, von der praktisch alle anderen Symbole und Metaphern hergeleitet wurden: uns, die Menschen.
Dieses Konzept, das ich den »vermenschlichten Gott« nenne, verankerte sich in unserem Bewusstsein in dem Augenblick, als wir zum ersten Mal auf die Idee kamen, es könnte »Gott« geben. Es brachte uns auf unsere frühesten Theorien über die Natur des Universums und unsere Rolle darin. Es inspirierte uns zu unseren ersten Bildnissen und Darstellungen der transzendenten Welt, der Welt also, in der Gott wohnte und die unsere Wirklichkeit überstieg. Der Glaube an Götter, die den Menschen ähnlich sind, leitete uns einst, als wir Jäger und Sammler waren, und dann, Jahrzehntausende später, veranlasste er uns dazu, unsere Speere gegen Pflugscharen einzutauschen und Landwirtschaft zu betreiben. Unsere ersten Tempel wurden von Menschen geschaffen, die sich die Götter als menschenähnliche, aber übermenschliche Wesen vorstellten – und sie schufen auch unsere ersten Religionen. Mesopotamier, Ägypter, Griechen, Römer, Inder, Perser, Hebräer, Araber, sie alle entwickelten die Götterwelten ihrer theistischen Systeme in menschlichen Begriffen und mit menschenähnlichen Götterdarstellungen. Das Gleiche gilt für die nicht-theistischen Traditionen, etwa den Jainismus und den Buddhismus. Beide verstehen die Geister und Devas, die ihre Theologien bevölkern, als übermenschliche Wesen, die wie ihre menschlichen Gegenüber an die Gesetze des Karma gebunden sind.4
Und sogar die Juden, Christen und Muslime der Gegenwart, die sich so intensiv bemühen, theologisch »korrekt« an einen einzigen Gott zu glauben, der körperlos und unfehlbar, allgegenwärtig und allwissend ist, neigen offenbar doch sehr dazu, sich Gott in menschlicher Gestalt vorzustellen und in menschlichen Begriffen über Gott zu sprechen. Zahlreiche von Psychologen und Kognitionswissenschaftlern durchgeführte Studien zeigen, dass auch die hingebungsvollsten Gläubigen, wenn sie ihre Gedanken über Gott mitteilen sollen, über diesen so sprechen wie über einen Menschen, der ihnen auf der Straße...