Das Auge Gottes, Cao-Dai-Tempel, Tay Ninh, Vietnam
Das Auge Gottes –
Kindheit: traditionelles Umfeld
Im Jahr 1996 komme ich zum ersten Mal in die südvietnamesische Stadt Tay Ninh, nicht weit von der vietnamesisch-kambodschanischen Grenze entfernt. Es ist eine Tagesfahrt von Ho-Chi-Minh-Stadt aus, der früher Saigon genannten Metropole. Mein Ziel ist der Tempel der Cao-Dai-Religion, genauer der »Heilige Stuhl« dieser noch nicht einmal hundert Jahre alten Mischreligion. Dort möchte ich an der gottesdienstlichen Zeremonie um 12 Uhr teilnehmen und im Zentrum dieser Religion mein Wissen über die Cao Dai vertiefen, deren Tempel ich bereits vorab an einigen anderen Orten besucht habe.
Die Cao-Dai-Religion wurde 1927 vom Vietnamesen Le Van Trung in Tay Ninh gegründet. Le Van Trung benennt den obersten Gott und Erlöser der Menschen mit dem Namen Cao Dai (vietnamesisch »Hoher Altar«). Trung will aus Elementen des jüdischchristlichen Glaubens (ihm über die damalige Kolonial macht Frankreich vermittelt) und den älteren örtlichen Traditionen des Mahayana-Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus eine neue – alle bisherigen religiösen Erfahrungen integrierende – Religion schaffen: »die Lehre des Mose ist die Knospe, die Lehre Christi die Blüte, die Lehre des Cao Dai die Frucht«. Und so wird Jesus ebenso von den Cai Dai verehrt wie Buddha, Laozi und Kongzi (Konfuzius), zudem historische Gestalten aus allen Kulturen: der französische Dichter Victor Hugo und der vietnamesische Philosoph Nguyen Binh Khiem, die französische Jeanne d’Arc und Winston Churchill, Louis Pasteur und Wladimir Lenin – eine eigenartige und zuerst einmal befremdliche, wenn nicht sogar skurrile Mischung.
Interessant auch die religiöse Hierarchie der Cao Dai, die der katholischen Kirche nachgebildet ist: Über den meist weiß gekleideten Gläubigen stehen die Priester, die Bischöfe, die Kardinäle, selbst einen Papst hat es gegeben (diese Position wurde allerdings seit 1935 nicht mehr besetzt). Die Würdenträger ziehen zum Gebet am Mittag in einer langen Prozession in den Tempel ein, ihre Gewänder in leuchtenden Farben symbolisieren die drei für die Cao Dai wichtigsten Religionen: Rot = Christentum, Gelb = Buddhismus, Blau = Daoismus.
Ich sitze auf der seitlichen Empore des lang gezogenen Kirchenschiffes und verfolge das einstündige Mittagsritual mit Rezitationen, gesungenen Gebeten, Verehrung mit Weihrauch – eine intensive Gebetsatmosphäre ohne jede Störung von außen. Das Kirchenschiff, auf dessen Boden sich Gläubige und Würdenträger an genau festgelegten Stellen zum gemeinsamen Gebet niedergelassen haben, steigt in neun Stufen leicht zum Altarraum hin an – die neun Stufen des Erlösungsweges hin zur himmlischen Herrlichkeit sind hier symbolisch wiedergegeben. Vorn im Altarraum sind ein achteckiger Altar, dazu prachtvoll geschnitzte Stühle für die höchsten Repräsentanten dieser Religion. Die leuchtend bunten und mit kosmischen Drachen geschmückten Säulen, die Fahnen und Standarten, die Kerzenständer und Blumengebinde – alles in einer barocken Pracht und Farbenvielfalt – verdecken fast das Eigentliche, das Zentrum dieses Raumes, die – symbolisch – innerste Mitte von Kirchenraum, Gottesdienst und Glauben der Cao Dai: eine gewaltige grüne »Weltkugel«, auf der eine zentrale Ellipse ein schwarzes Auge auf rosafarbener Haut zeigt.
Dieses Auge war mir bereits außen am Eingang der Cao-Dai-Kirche über dem Portal aufgefallen; auch war es auf den vielen Fahnen zu sehen, die rund um das riesige Gotteshaus aufgestellt sind. Von diesem Auge gehen leuchtende Strahlen in alle Richtungen. Was ist mit diesem Auge?
Das »Alles-sehende-Auge« der Cao Dai steht für Gott selbst (den »Hohen Altar«), der von den Menschen zu verehren ist. Es steht für einen Gott, der unmittelbar mit der Welt zu tun hat, der nicht fern von ihr ist, sondern der über allem steht und alles sieht. Er ist der Allgegenwärtige, der Allsehende, der Allmächtige, der den Menschen überwacht, prüft und beurteilt.
Das »Auge Gottes« im Cao Dai weckt in mir Kindheitserinnerungen. Da gab es immer wieder Sprüche wie: »Der liebe Gott sieht alles.« Und ein wenig rätselhafter, aber für ein Kind deshalb umso bedrohlicher war der bekannte Reim:
»Ein Auge ist᾽s, das alles sieht,
auch wenn᾽s in dunkler Nacht geschieht.«
In meiner eigenen Familie wurde zum Glück zwar selten so geredet, aber im Gesamtumfeld von Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kindergarten und Grundschule (damals Volksschule), zudem auch im kirchlichen Bereich tauchten solche Gedanken häufig auf. Dies entsprach der damals üblichen Kindererziehung, die nicht nur auf Zuwendung, sondern auch auf Disziplinierung setzte und zwischen diesen beiden Polen auch die Drohung mit dem allmächtigen Auge manipulativ einsetzte.
Denn aus der Sicht von Kindern – so habe ich es damals auch empfunden – war dies schon eine Drohung. Wenn das »göttliche Auge« alles sieht, selbst das, was im Verborgenen geschieht, wenn es demnach keinerlei Geheimnis mehr geben kann, wenn somit auch kindliches Fehlverhalten sofort und überall (auch dort, wo Eltern und andere Erzieher nicht anwesend sind) wahrgenommen wird, dann ist dies eine Bedrohung durch den »big brother« im Himmel, durch einen Voyeur-Gott, der kleinlich alles Geschehene bemerkt, sogar das nur Gedachte.
Zu dieser Vorstellung kam eine weitere: Dieser alles sehende Gott im Himmel vergaß nichts. Denn alles wurde von ihm oder von einem seiner Mitstreiter, etwa dem Erzengel Michael, in einem Buch notiert und für ewig festgehalten. Nach dem Tod, so die oft angedeutete, selten explizit ausgesprochene Drohung würde dieses Buch dann die Grundlage für Gottes allmächtige und nicht zu hinterfragende Entscheidung sein, den Täter in den Himmel zu lassen oder ins ewige Feuer der Hölle zu verdammen – eine Entscheidung also über Heil oder Unheil, über Leben oder Tod. Das Buch, das der Nikolaus aus seinem Sack zog und aus dem er damals meist das Fehlverhalten eines Kindes öffentlich bekannt machte, war gleichsam ein Vorgeschmack auf kommende »Herrlichkeit« und kommendes Urteil und Unheil.
Wenn alles so vom alles sehenden Auge wahrgenommen und dann auch präzise in das alles umfassende Buch aufgeschrieben wird, dann gibt es letztlich kein Entrinnen. Zwar wurde ab dem Kommunionkurs im dritten Schuljahr die regelmäßige Beichte als Heilmittel gegen das drohende Urteil im Jenseits propagiert, aber sicher konnte man sich dabei nicht fühlen. Denn – was war, wenn man auch nur eine Sünde beim Beichten vergessen hatte oder nicht aufrichtig bereut oder die auferlegte Buße nicht sorgfältig verrichtet hatte? Dann war doch alles vergebens und die Verdammung und das Feuer der Hölle drohten.
Das »Allsehende Auge« Gottes war unheimlich, es schuf eine große Unsicherheit; es wurde aber von den Erziehern, gleich ob von Eltern, Lehrern und Kindergärtnerinnen oder auch den Geistlichen, häufig als Erziehungsmittel eingesetzt, besser gesagt als Druckmittel. Gott als Disziplinierungsinstanz – welches Gottesbild musste dadurch wachsen. Ein Gott, der kleinlich auf die Menschen sieht, dessen Hauptaufgabe zu sein scheint, die Gedanken und das Handeln der Menschen zu überwachen und anschließend zu beurteilen. Ein Gott, der als Bedrohung wahrgenommen werden musste, dessen Liebe und Erbarmen nicht im Vordergrund stehen, sondern dessen Strenge und Gericht. Ein Gott, der ihm Nichtgefallendes auch im Dunkeln wahrnimmt, der ins Herz und unter die Bettdecke schauen kann, der einen wie ein Schatten begleitet.
In diesen Zusammenhang passte auch die von vielen Predigern häufig ausgesprochene Mahnung und Drohung mit den Qualen im Jenseits, wenn man nicht den Geboten Gottes und zudem den Geboten der Kirche entspricht. Es gab natürlich auch andere Verkündiger, die wie Jesus von Gott als gutem und liebevollen Vater sprachen; aber meist war die Frohbotschaft des Evangeliums Jesu Christi gewandelt in eine Drohbotschaft, die Angst und Schrecken verbreitete und auch verbreiten sollte. Denn natürlich – dies muss man ganz realistisch sehen – ging es bei all dem auch (oder sogar vorrangig?) um die Macht der Kirche und ihrer Amtsträger, die gleichsam als Stellvertreter Gottes auf Erden erschienen und durch ihr Wissen aus der Beichte ja fast ebenso allwissend wie Gott selber waren, klerikal-schwarz gekleidete, manchmal unnahbare Autoritäten, die man ehrfurchtsvoll (oder furchtvoll) grüßte, zu denen man aber nur in Ausnahmefällen ein vertrauensvolles Verhältnis aufbaute.
Das Wissen über das Tun und Lassen eines Menschen und eine Beurteilung darüber in der Beichte war eine wichtige Grundlage kirchlicher Bedeutung in einer damals geschlossen christentümlichen Gesellschaft. Zwar waren in meiner Heimatstadt Solingen zwei Drittel der Einwohner evangelisch, nur ein Drittel katholisch, Konfessionslose oder Zeugen Jehovas gab es fast gar nicht (sie wurden, wo sie vereinzelt auftraten, eher als exotische Gestalten bestaunt als abgelehnt). Muslime waren damals erst recht nicht sichtbar. Die katholischen...