I. Überlegungen zum Grundmotiv der Grenze
Ich aber ging über die Grenze lautet der Titel eines frühen Gedichts von Stefan Heym. „Über die Berge, da noch der Schnee lag, / auf den die Sonne brannte durch die dünne Luft. / Und der Schnee drang ein in meine Schuhe“.1 Das Gedicht, in dem Heym (geboren Helmut Flieg) seine Flucht aus Nazideutschland in die Tschechoslowakei verdichtet, hält paradigmatisch fest, wie tief Exil und Grenze miteinander verbunden sind. Der eigentliche Beginn des Exils geht mit dem Moment der Grenzüberschreitung einher, welche die Gleichzeitigkeit von Ende und Anfang, Ausstieg und Einstieg konkretisiert. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Grenze eines der wichtigsten und bedeutungsträchtigsten Grundmotive der Exilliteratur ist. In Mythos und Sachlichkeit – Beobachtungen zur Grenze in der Exilliteratur stellt Markus Bauer fest:
Vor dem Exil liegt die Grenze. Sie trennt und verbindet auf vielfältige Weisen. Für die Literatur wirkt dieses oft grausame Leben jenseits der Grenze beflügelnd, zieht es doch von den ‚Tumulten der Welt‘ ab (oder gerade in sie hinein), gibt der Klage Form, macht das Gesicht der Gewalt kenntlich.2
An dieser trennend-verbindenden Grenze führt kein Weg vorbei: sie ist nicht neutral, man muss sich ihr stellen, mit ihrer konkreten Sperrkraft ringen und ihrer Einladung zur Kontemplation Gehör leisten. Sie zwingt den Grenzüberschreitenden zu einer Gegenüberstellung von hier und dort, gestern und heute. Mag dies für Reisende eine philosophische Übung sein, für Flüchtlinge ist es eine existentielle Herausforderung, eine Krise, die radikaler nicht sein könnte.
In seinem Lob der Grenze stellt der Philosoph Konrad Paul Liessmann eine Verbindung zwischen „Grenze“ und „Krise“ her, indem er Letztere auf das griechische Verb krínein zurückführt, das er mit „trennen“ oder „unterscheiden“ übersetzt und auf dessen etymologische Verwandtschaft mit „Kritik“ er hinweist. Grenzen wie Krisen haben somit gemein, dass sie Unterschiede bloßlegen und Distanz ermöglichen.
Kritik und Krise stammen aus derselben sprachlichen Wurzel, und sie markieren Grenzen. Nur während wir in der Kritik Unterscheidungen vornehmen, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen. Krise ist vorab ein Synonym für Differenzerfahrungen. Es ändert sich etwas, und es steht zu erwarten, dass nachher nichts mehr so sein wird wie vorher.3
Exil, Grenze und Krise erweisen sich als Teil eines Bedeutungs- und Erfahrungsspektrums, in dem die Trennung vom Vorherigen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer Neuverortung und -gewichtung im Mittelpunkt stehen.
Diese Erfahrung der exilbedingten Grenzüberschreitung als existentieller Krise findet in einem der ersten Exilgedichte Bertolt Brechts ihren besonders prägnanten Ausdruck. Kurz nach seiner Flucht ins dänische Exil 1933 schreibt Brecht: „Der du zu fliehen glaubtest das Unertragbare / Ein Geretteter trittst du / In das Nichts“.4 Diese erste Gedichtstrophe hält den Augenblick einer multiplen Grenzüberschreitung fest: aus der Gefahrenzone in die vermeintliche Freiheit; aus einer vertrauten Sphäre in eine für den Fliehenden noch nicht existente Welt; und aus der Fiktion der lebensverheißenden Rettung in eine wohl möglich existenzbedrohende neue Wirklichkeit, die es nun aus dem Nichts aufzubauen gilt. Die Grenzüberschreitung ist zudem performativ, indem sie sich als „Tritt“ in einen neuen Raum gestaltet, gleichzeitig aber ist auch die Grenze selber handlungstragend: die Trennlinie zwischen Flucht und Rettung ist messerscharf und hat eine bleibende, trennende Kraft inne. Beim Überschreiten der Grenze wird die Flucht – als Bewegung – zum Exil in der Fremde. Hinzu kommt, dass es sich auch um eine territoriale Grenze handelt, eine staatlich festgelegte Linie, die sich kartografisch markieren lässt.
In ihrem Sammelband Cartographies of Exile versteht Karen Elizabeth Bishop das Exil deshalb grundsätzlich als eine Krise, deren geografische Koordinaten sich festlegen lassen, die sich in ihrer Entortung an erster Stelle räumlich gestaltet, von der neuen Umgebung betroffen ist und diese gleichzeitig auch ganz konkret prägt: „Exile is fundamentally a cartographical condition, concerned with space and place, how they are ordered and what they order or, perhaps, disorder in the process“.5 Durch das Exil, als staatlich erzwungene Ausgrenzung sowie auch als existentielle Schicksalserfahrung, entstehen Trennlinien, Markierungen, Schwellen und Schranken, Schmugglerrouten und Passagen, asylverheißende und -verneinende Orte: eine Topografie des Exils, die sowohl behördliche Maßnahmen als auch individuelle Entscheidungen widerspiegelt. Das Exil tritt als geografisches Liniennetzwerk in Erscheinung: „Exile drafts these lines – the scrapes and scratches we use to describe our earth – as tools of exclusion and punishment, markers of dislocations and longing, and means of moving nations and reshaping territories that limit who belongs and who does not“.6 Das Exil schreibt sich in die Landschaft ein, was Bishop als Wesenszug des Lebens in der Verbannung betrachtet: „The cartographic imperative inherent in the exilic condition“.7
Die zweifellos bedeutungsträchtigste Linie in der Exiltopografie ist die Staatsgrenze: mit ihrer Überschreitung wird das bis dahin nur gedankliche Konstrukt des – vielleicht noch abwendbaren – Exils zur Wirklichkeit, in der man sich nun einzurichten hat. In ihrer aus Sperrvorrichtungen, Mauern, Stacheldraht und Grenzschranken bestehenden Formsprache macht die Grenze das Exil sichtbar. Sie ist das letzte Hindernis, das es zu überwinden gilt. Erst der gelungene Grenzübertritt erlaubt den Rückblick auf das Überstandene und eine erste Bestandsaufnahme des Bevorstehenden, des Brecht’schen „Nichts“. Die Biografie vieler deutschsprachiger Exilanten zeigt jedoch, dass für die meisten nach der ersten Grenzüberschreitung – vom Dritten Reich ins benachbarte Dänemark, Holland, Frankreich, Österreich, Polen, in die Schweiz oder Tschechoslowakei – noch weitere, mitunter noch gefahrvollere, folgen sollten. Somit setzt das Exil das Überwinden neuer Grenzen voraus und macht den Exilanten zum permanenten Grenzgänger, ständig auf der Suche nach benötigten Papieren, Reisepässen, Aufenthaltsgenehmigungen, Visen, sauf conduits, Immigrantenbürgschaften. Markus Bauers Feststellung, vor dem Exil liege die Grenze, ist gewiss zutreffend, doch müsste man erweiternd sagen, dass die Grenze auch im Exil schicksalsträchtig bleibt. Insbesondere bei den deutschsprachigen Exilschriftstellern, deren Biografie vom mehrfachen Grenzübergang gekennzeichnet ist, zeigt sich das Grenzmotiv in erstaunlich differenzierter Ausprägung. Dies soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel von Bertolt Brechts Gedichten, Korrespondenz und Tagebucheinträgen dargelegt werden.
II. Der den Backstein mit sich trug
Das wohl bekannteste exilbezogene Gedicht von Brecht Über die Bezeichnung Emigranten spiegelt die zentrale Bedeutung der Grenze nicht nur in ihrer Überschreitung, sondern vorrangig als kollektive Positionsbestimmung des „wir“ im Exil wider: „möglichst nahe den Grenzen / Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste / Veränderung / Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling / Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend“.1 Es gilt, die Grenze scharf im Auge zu behalten, da sie dem Exilanten als Seismograf dient, dessen akribische Aufzeichnungen aufschlussreich sowohl für die Lage in der Heimat als auch für die Dauer des eigenen Verbleibs im Exil sind. Die Grenze wird somit zum erkenntniserweiternden Instrument, in dem jeder Grenzgänger zum Datenträger wird, dessen Informationen sofort eingeholt und sorgfältig ausgelotet werden. Doch bereits der Grenzgang selbst, als exilinitiierende Handlung, ist bedeutungsschwer und lässt sich in die Semiotik des Exils einfügen: „Sind wir doch selber / Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen / Über die Grenzen. Jeder von uns / Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht / Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt“.2
Im „Nichts“, das den Exilanten nach der Flucht über die Grenze erwartet, lässt es sich nicht leben, doch ist die Grenze nicht an erster Stelle eine Trennlinie zwischen „sein“ oder „nicht sein“, sondern vielmehr zwischen „haben“ und „nicht haben“, wobei das „nicht länger haben“, der materielle Verlust, für die Missstände im eigenen Lande steht. Das materielle Besitztum ist bei Brecht jedoch nicht neutral, sondern weist über das...