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E-Book

Grenzerfahrung

Vom Balkankrieg bis zur Flüchtlingskrise

AutorSusanne Glass
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783776682380
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Im Brennpunkt der Ereignisse: Im Kosovo tobte der Bürgerkrieg, als die 29-jährige Reporterin Susanne Glass sich 1999 freiwillig als Berichterstatterin für die ARD meldete. Seitdem hat sie Südosteuropa nicht mehr losgelassen und mehr als einmal geriet sie bei ihren Reportagen buchstäblich zwischen die Fronten oder kam bei ihren Begegnungen mit den Opfern von 'Konflikten' fast an ihre Belastungsgrenze. In ihrer Rückschau spiegeln sich die Umbrüche, die das Europa von heute charakterisieren, bis hin zur aktuellen dramatischen Situation der Flüchtlinge auf ihrem Weg über die Balkanroute. Zugleich hinterfragt sie kritisch das eigene Metier: Wie hat sich die Berichterstattung verändert? Wann sieht sich die zur Objektivität verpflichtete Chronistin aus Gründen der Menschlichkeit zum Eingreifen veranlasst und wird damit Teil einer Geschichte? Wann und wie werden Journalisten manipuliert oder gar instrumentalisiert?

Susanne Glass, promovierte Politologin, ging mit 29 Jahren als Kriegsberichterstatterin für die ARD ins Kosovo. Sie berichtete insgesamt 15 Jahre als Korrespondentin für Radio und TV über Südosteuropa, leitete 2014 und 2015 das ARD-TV-Studio Wien/Südosteuropaund war 10 Jahre lang die Präsidentin des Verbands der Auslandspresse in Wien. Ihre Reportagen wurden mit diversen Preisen ausgezeichnet. Ab Januar 2016 ist Susanne Glass ARD-Studioleiterin in Tel Aviv.

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Leseprobe

Eine Journalistin, eine Schauspielerin und traurige Heiratsanträge

Von wo berichten wir, wenn wir über den Kosovo-Krieg berichten wollen?

Das war tatsächlich eine wichtige und berechtigte Frage. Es gab einen ARD-Beschluss, wonach es in der derzeitigen Situation zu gefährlich sei, Mitarbeiter ins Kosovo zu schicken. Dieser Beschluss hatte eine Vorgeschichte. Ein sehr guter und ambitionierter Kollege war zu Beginn des Krieges, also im Jahr 1999, in Pristina, hatte von dort berichtet. Aber im Hotel konnte er nicht mehr bleiben. Gerade zu Beginn der NATO-Bombardierung rächten sich die Serben exzessiv an Albanern und westlichen Journalisten. Die meisten Massaker fanden unmittelbar nach den ersten Bombardements statt. Der Kollege hatte sich bei der Familie seiner Dolmetscherin versteckt. Die das auch ausdrücklich unterstützte. Wäre er dort gefunden worden, hätte man mit der albanischen Familie vermutlich kurzen Prozess gemacht. Der deutsche Journalist hätte noch eher Chancen gehabt, nach einem traumatisierenden Gefängnisaufenthalt irgendwann wieder nach Hause zu kommen. Aber dies ist keine Berichterstattung wert. Für eine Sendeanstalt gilt es vor allem auch, die Mitarbeiter zu schützen. Also war das Kosovo selbst für einige Zeit tabu.

Die Entscheidung war dann für mich, ins benachbarte Mazedonien zu gehen. Wo täglich tausende Flüchtlinge ankamen und von wo aus man die NATO-Bomben auf das Kosovo in der Nacht gespenstisch leuchten sah.

Ich hatte in Mazedonien keinen Zugang zu Internet oder Agenturen. Das heißt, ich konnte tatsächlich nur über das berichten, was ich mit eigenen Augen und Ohren recherchiert hatte. Ich hatte keine Ahnung, welche Nachrichten bei den Kolleginnen und Kollegen in Deutschland überhaupt noch ankamen. Mit meinen Beiträgen war ich lediglich Teil eines Puzzles, das erst in seiner Gesamtheit, also mit den Nachrichten aus Belgrad, Brüssel, Washington oder Tirana, einen Überblick ergab. Natürlich erzählten mir die Kollegen in der Münchner Nachrichtenredaktion am sogenannten Newsdesk – das heißt da, wo die Agenturmeldungen eingehen –, wenn es wichtige Meldungen gab. Außerdem verfolgte ich die mazedonischen Medien, die ja auch wiederum einen internationalen Berichterstattungsteil hatten. Aber der war mit Vorsicht zu genießen.

In Skopje arbeitete ich mit Maja und Wesna Petruschewska zusammen. Sie hatten bereits vorher für ARD-Kollegen produziert und waren ein Glücksgriff. Die beiden Schwestern waren in meinem Alter. Ich konnte im Haus ihrer Eltern wohnen. Dort stand die Wohnung im ersten Stock leer, seitdem Maja geheiratet hatte und mit Mann und kleinem Sohn in eine eigene Wohnung gezogen war. Ich wurde von ihren Eltern wie eine dritte Tochter behandelt.

Meine beiden Producerinnen – die Journalistin und die Schauspielerin

Maja und Wesna, nur eineinhalb Jahre Altersunterschied, lange blonde Haare, waren beide sehr attraktive Erscheinungen. Aber im Charakter vollkommen unterschiedlich. Maja, die Ruhige, Stille, Ernsthafte, arbeitete bereits als erfolgreiche Journalistin und Moderatorin beim öffentlich-rechtlichen mazedonischen Fernsehen. Dennoch hatte sie sich dort beurlauben lassen, um als Producerin fürs deutsche Fernsehen zu arbeiten. Natürlich in erster Linie des Geldes wegen. Aber auch, weil sie – wie eigentlich alle ihre Kolleginnen und Kollegen – über die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsethos beim mazedonischen TV sehr unglücklich war. Wesna war die Verrückte, Exzentrische. Schon damals eine im ganzen Land bekannte Schauspielerin. Später verfolgte ich, wie sie mit einer eigenen Sendung weiter Karriere machte. Während Wesna bis Mittag schlief, ackerte ich mit Maja schon die Zeitungen durch. Danach entschieden wir, welche Geschichte wir an diesem Tag verfolgen, wen wir um ein Interview bitten wollten.

Mit Maja Petruschewska beim Auswerten mazedonischer Zeitungen

Ganz oft sind wir in diesen Wochen auch zum Flüchtlingslager nahe dem Grenzübergang Blace gefahren, um dort mit den Menschen aus dem Kosovo über ihre Erlebnisse zu sprechen. Bei diesen Ausflügen hatte ich auch gerne Wesna dabei. Mit ihr an der Seite öffneten sich alle Türen sofort. Das fing schon damit an, dass sie an den Zahlstellen auf der Autobahn nie einen mazedonischen Denar zahlen musste. Sobald sie die Scheibe runterdrehte und mit strahlendem Lächeln die Haare in den Nacken warf, hauchten die Jungs »Wesna …« und winkten sie sofort ehrfurchtsvoll weiter. Noch eindrucksvoller war das Verhalten der hinter ihren verspiegelten Sonnenbrillen verborgenen, sonst so coolen und abweisenden mazedonischen Polizisten am Eingang zum Flüchtlingslager. Es hätte mich nicht gewundert, hätte einer noch angeboten, sich über eine Pfütze zu legen, damit die angebetete Wesna trockenen Fußes weiterlaufen könnte.

Im Flüchtlingslager Blace in Mazedonien

Die Recherchearbeit wurde mir also maximal erleichtert. Schwierig war dann allerdings häufig, was wir daraus machen sollten. Ich hielt mich dabei immer an die eiserne Regel meines Chefs, der mich ins Kosovo geschickt hatte: Immer die Quellenangabe liefern, niemals fremde Aussagen zu eigenen machen. Und nur das wiedergeben, was man wirklich selbst gesehen, gehört, erlebt hat.

Dennoch ist mir bereits damals klar geworden, wie schwer der Umgang mit Flüchtlingen und ihren Geschichten ist. Fast alle vermischen beim Erzählen ihre eigenen traumatischen Erlebnisse mit dem, was sie von oder über Dritte gehört haben. Gerüchte, Ängste und Realität gehen bunt durcheinander. Bei den meisten unterstelle ich keine Absicht. Nach alldem, was diese Menschen erlebt haben, ist es nur verständlich, dass sie in der Erinnerung vieles durcheinanderbringen. Oder auch einfach alles, wirklich alles erzählen möchten, was sie jemals gehört haben. Andere haben allerdings schon damals versucht, uns bewusst zu manipulieren. Häufig wurden dazu Kinder vorgeschickt, die einen offensichtlich auswendig gelernten Text abspulten. Unzählige Male haben mir Flüchtlinge außerdem versichert, die Kosovo-Provinzhauptstadt Kosovo sei so gut wie menschenleer, eine Geisterstadt. Sie gehörten zu den Letzten, die geflohen seien. Das kann so nicht gestimmt haben, doch das wurde mir erst später klar – als ich nach dem Krieg in Pristina mit vielen sprach, die die ganze Zeit vor Ort waren.

Ich habe mich stets redlich bemüht, ganz genau zu überlegen und so gut wie möglich zu verifizieren, welche Aussagen der Flüchtlinge ich zitiere – immer mit dem Hinweis, dass es nicht zu überprüfen ist. Aber machen wir uns nichts vor: Die Zitate sind dann in der Welt.

Wir hatten leider auch so gut wie keine Möglichkeit, mit Serben zu sprechen. Auch weil diese Interviews mit Medien aus den Ländern der Kriegsgegner verweigerten. Es war eine ganz klare Täter-Opfer-Rollenverteilung, die damals vorgenommen wurde. Von den Medien, von der Politik. Im Wesentlichen war dies auch gerechtfertigt. Die Serben waren die Unterdrücker und Aggressoren im Kosovo, sie haben ein Apartheidsystem eingerichtet, Albaner waren Menschen zweiter Klasse. Und im Krieg haben die Serben schlimme Massaker an Zivilisten verübt. Dennoch tut es mir im Nachhinein leid, dass wir nicht noch stärker auf die Graubereiche eingegangen sind. Und mit »wir« meine ich sämtliche westliche Medien. Auch die selbst ernannte albanische Befreiungsarmee UCK hat Verbrechen verübt. Unter den »Kollateralschäden« der NATO-Bombardierung waren serbische Zivilisten.

Ich sage das nicht, weil ich die Geschichte umschreiben möchte. Ich bin überzeugt, wir haben sie in den Grundzügen richtig wiedergegeben. Das stärkere Eingehen auf Grautöne hätte es aber anschließend leichter gemacht – um wieder in den wichtigen Dialog mit Serbien zu kommen, vor allem auch mit den Kriegs- und Milosevic-Gegnern dort. Und vielleicht wäre dann ein Grundfehler nicht passiert: Der zu nachlässige und zu sanfte Umgang mit den Politikern im Kosovo. Wodurch die internationale Gemeinschaft meiner Meinung nach dazu beigetragen hat, dass im Kosovo bis heute Clan-Strukturen überlebt haben, die eine demokratische und wirtschaftliche Entwicklung unterminieren. Und die einen Staat geschaffen haben, aus dem die Menschen mangels Perspektiven fliehen.

Was mir damals in Skopje unangenehm aufgefallen ist: Die Mazedonier schauten auf die Albaner herab. Die Kriegsflüchtlinge aus dem Kosovo taten ihnen zwar leid. Aber große Achtung vor diesen Menschen hatten sie nicht. Erst recht nicht vor der albanischen Minderheit im eigenen Land. Es herrschte schon damals die unterschwellige Angst davor, dass sich das serbisch-albanische Drama so ähnlich auch bei ihnen abspielen könnte.

Wenn ich mit Maja oder Wesna unterwegs war, machten wir uns oft einen Spaß daraus, die Heiratsanträge zu zählen, die ich bis zum Abend bekommen hatte. Aber eigentlich war es nicht lustig, sondern traurig. Vor allem hatte es absolut nichts mit mir als Person zu tun. Wenn Interviewpartner oder auch einfach nur Menschen auf der Straße, an denen wir zufällig vorübergingen, bemerkten, dass ich aus Deutschland bin, begann folgendes Frage-und-Antwort-Spiel:

»Deutschland?«

Ich: »Ja.«

»Verheiratet?«

Ich (wahrheitsgemäß): »Nein!«

Dann kam die oder der Fragende verschwörerisch näher – es waren wirklich auch viele Frauen darunter – und sagte:

»Wir zahlen dir zehntausend D-Mark, wenn du mich/meinen Sohn/meinen Neffen/den Bruder meines Nachbarn …...

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