Ursachen depressiven Grübelns
Betrachtet man die vielfältigen und gut dokumentierten negativen Auswirkungen des Grübelns, so stellt sich die Frage, wieso Personen überhaupt grübeln. Was veranlasst einen zum Grübeln und was lässt einen weiter- bzw. wieder und wieder grübeln? Verschiedene Forscher haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt – und kommen zu teils vergleichbaren und teils unterschiedlichen Ergebnissen und Auffassungen. Die eine Erklärung für anhaltendes Grübeln gibt es bislang also nicht. Das ist nicht weiter schlimm, da die verschiedenen Ansatzpunkte Hinweise für Bewältigungsstrategien liefern, die sich wiederum gut kombinieren lassen. Im Folgenden werden drei viel diskutierte Ideen zum Verständnis häufigen Grübelns dargestellt.
Versprechungen des Grübelns
In einer frühen Untersuchung konnten LYUBOMIRSKY und NOLEN-HOEKSEMA (1993) zeigen, dass Personen, die zum Grübeln angehalten wurden, den Eindruck hatten, Grübeln verhelfe ihnen zu mehr Einsicht über sich selbst. Die Idee, dass Menschen sich möglicherweise etwas vom Grübeln versprechen und daher wieder und wieder in Grübeleien geraten, wurde von anderen Forschern aufgegriffen und weiter untersucht. Edward WATKINS und Simona BARACEIA (2001) befragten beispielsweise Vielgrübler, ob sie dem häufigen Grübeln einen Nutzen abgewinnen können und wenn ja, welchen. Unter anderem legten sie den Betroffenen die folgenden Aussagen vor. Welche treffen auf Sie zu?
ÜBUNG Ich grüble …
- … weil ich nach Bedeutungen in meinem Leben suche.
- … um Antworten auf meine Probleme zu finden.
- … weil ich denke, dass es eine Lösung für mein Problem geben muss.
- … weil ich die Ursachen von Ereignissen kennen muss.
- … um zu versuchen, einen Weg aus meinen aktuellen Schwierigkeiten zu finden.
- … weil das Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart wichtig ist, um Dinge zu verbessern.
- … um meine Traurigkeit zu verstehen; damit es mir besser geht.
- … in der Hoffnung zu erkennen, was ich tun sollte.
- … weil das Verstehen von Dingen es mir erleichtert, sie zu akzeptieren.
- … um mich besser zu verstehen und mich dadurch zu ändern.
- … weil ich eine Schwierigkeit durchdenken sollte, wenn sie mir in den Sinn kommt.
- … um Lösungen für Probleme zu finden.
- … über die Vergangenheit, um aus meinen Fehlern zu lernen.
- … um schwierige Ereignisse zu bewältigen.
- … über die Ursachen von schlechten Ereignissen, um zu verhindern, dass sie wieder passieren.
- … um besser an meinen Zielen festhalten zu können.
Es zeigte sich, dass 80 Prozent der Befragten mindestens einer dieser (und weiteren) Aussagen zustimmten. Insbesondere der Idee, dass Grübeln zu mehr Einsicht und besseren Problemlösungen verhilft, stimmten viele Menschen zu.
Adrian Wells von der University of Manchester in England arbeitete die Idee, dass Personen deshalb zum Grübeln neigen, weil sie sich etwas vom Grübeln versprechen, noch weiter aus. In einer Reihe von Untersuchungen konnte er zeigen, dass sich insbesondere depressive Personen viel vom Grübeln versprechen und dass die Personen, die dem Grübeln gegenüber positive Erwartungen haben, tatsächlich häufiger grübeln. Wells bezeichnet diese positiven Erwartungen an das Grübeln als positive Metakognitionen. Vereinfacht lässt sich der Begriff Metakognition als »dahinterliegende Gedanken« übersetzen; gemeint sind Gedanken, die wir uns über Gedanken machen. So denken wir ja nicht nur über Dinge nach, die außerhalb unseres Geistes passieren, sondern können genauso über unsere eigenen Gedanken nachdenken. Wir können uns beispielsweise fragen, warum uns immer wieder eine Befürchtung wie »Nicht, dass ich vergessen habe, das Haus abzuschließen!« durch den Kopf geht, oder wir können uns fragen, warum uns in einem bestimmten Moment eine bestimmte Erinnerung in den Sinn gekommen ist. Wir machen uns also Gedanken über die Gedanken, Impulse, Befürchtungen, Bewertungen und Erinnerungen, die uns durch den Kopf geistern. Analog können wir uns Gedanken über eigene Denkprozesse wie beispielsweise häufiges Grübeln machen. Wir können also die Art, wie wir über Dinge nachdenken, gut oder schlecht oder beides finden.
Im Rahmen seines metakognitiven Modells depressiven Grübelns geht WELLS (2011) nun davon aus, dass Personen dann anfangen zu grübeln, wenn sie sich etwas vom Grübeln versprechen. Nun wird aber natürlich niemand zu Hause sitzen und sagen: »Oh, Grübeln wäre jetzt eine super Idee!« Die meisten Leute rutschen also eher unbewusst in Grübeleien ab – die Entscheidung zum Grübeln wird meist nicht explizit getroffen. Vielmehr wird eine grüblerische Auseinandersetzung mit der Zeit zur Gewohnheit, und positive Erwartungen an das Grübeln tragen eher unbewusst dazu bei, dass man mit dem Grübeln beginnt. Viele Betroffene beschreiben auch, dass sie ihre positiven Erwartungen an das Grübeln erst dann wahrnehmen, wenn sie sich bereits in Grübeleien verstrickt haben. Sie bemerken Gedanken wie »Ich muss das besser verstehen, sonst wird mir das immer wieder passieren« oder »Um das Problem zu lösen, muss ich es erst genau analysieren« oder »Versuch jetzt rauszufinden, warum du so bist, wie du bist« also erst, wenn sie bereits mit dem Grübeln begonnen haben. Letztlich tragen solche Ideen dazu bei, dass man nicht unmittelbar versucht, das Grübeln zu beenden – vielmehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man immer weiter grübelt.
Besorgnis über das Grübeln
Interessanterweise haben Vielgrübler dem Grübeln gegenüber nicht nur positive Erwartungen, sondern sie sorgen sich gleichzeitig über die Konsequenzen häufigen Grübelns. Nun ist es nicht ganz verkehrt, dem Grübeln skeptisch gegenüberzustehen. Aus dem gesamten ersten Kapitel dieses Buches lässt sich kaum ein anderer Schluss ziehen, als dass Grübeln – auch wenn es zuweilen anderes verspricht – mehr schadet als nützt. Sich der negativen Konsequenzen häufigen Grübelns bewusst zu sein, ist daher notwendig und hilfreich.
Gleichzeitig ist es ungünstig, wenn man sich auf katastrophisierende Art über Grübelgedanken aufregt, sich Gedanken macht wie beispielsweise:
- »Grübeln ist unkontrollierbar.«
- »Grübeln wird mich krank machen.«
- »Wenn ich weiter so viel grüble, werde ich als psychisches Wrack enden.«
- »Wenn andere wüssten, wie viel ich grüble, würden sie sich von mir zurückziehen.«
In diesem Sinne konnte Wells zeigen, dass solche negativen Gedanken über das Grübeln (negative Metakognitionen) nicht dazu beitragen, dass man Abstand vom Grübeln nimmt, sondern eher dazu, dass man sich zunehmend schlechter fühlt und noch mehr grübelt – über das Grübeln selbst nämlich! Schädlich ist dabei vor allem die Annahme, dass man Grübeln nicht kontrollieren könne. Wer das denkt, wird kaum versuchen, den Grübelprozess zu unterbrechen, oder wird solche Versuche vorzeitig wieder aufgeben. Zudem fördert diese Annahme Hilflosigkeitsgefühle. Die gefühlte Hilflosigkeit kann selbst wiederum zu einem weiteren Grübelthema werden und somit einer Intensivierung depressiver Stimmung Vorschub leisten.
WELLS (2011) geht deshalb davon aus, dass sowohl positive als auch negative Metakognitionen den Grübelprozess aufrechterhalten. Es stellt sich allerdings die Frage, wie jemand Grübeln gleichzeitig positiv und negativ bewerten kann. Wells mutmaßt, dass diese entgegengesetzten Bewertungen nicht gleichzeitig, sondern im Grübelprozess nacheinander in den Vordergrund rutschen. Beginnt eine Person zu grübeln, dann stehen zunächst die positiven Erwartungen an den vermeintlichen Nutzen intensiven Nachdenkens im Vordergrund. Stellen sich nach einiger Zeit erste negative Konsequenzen des Grübelns ein, rücken die negativen Bewertungen des Grübelns in den Vordergrund: Das Grübeln wird als unkontrollierbar, unangenehm und gefährlich erlebt.
BEISPIEL Gisela Mokanski, eine 58-jährige Kioskbesitzerin, verfällt häufig ins Grübeln, wenn sie von ihrem »Raucherhusten geschüttelt« wird. In solchen Situationen fragt sie sich: »Warum bin ich so blöd und habe nicht schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört?« »Wie automatisch« rutscht sie dann ins Grübeln. Sie denkt an all die verpassten Gelegenheiten, bei denen sie hätte aufhören können zu rauchen, fühlt sich schwach, inkompetent und widert sich selbst an. Je länger sie grübelt, desto schwächer und deprimierter fühlt sie sich. Ihre Inkompetenz steht dann »in voller Pracht« vor ihr. Sie fühlt sich den Grübeleien vollkommen ausgeliefert. Eine Pause von ihren Gedanken bekommt sie in diesen Phasen nur dann, wenn ein Kunde hereinkommt. Auf der anderen Seite hält sie die Grübelei für eine gerechte Strafe für ihr Unvermögen, das Rauchen aufzugeben. Insgeheim verspricht sie sich von den Grübelattacken, dass sie ihr endlich die Motivation geben, nicht mehr oder zumindest weniger zu rauchen. ?
Die Annahmen von Wells zur Aufrechterhaltung depressiven Grübelns werden mittlerweile durch diverse Untersuchungsergebnisse gestützt. Eine schematische Darstellung der Annahmen findet sich in der folgenden Abbildung.
Dem Modell zufolge muss man daher erkennen, was einem das Grübeln verspricht (positive Metakognitionen) und was einen am Grübeln beunruhigt (negative Metakognitionen). Gelingt es, diese Ideen zu überprüfen und zu verändern, ist man dem Ziel, weniger zu grübeln, einen großen Schritt näher gekommen.
Gedanken sind Gedanken und...