II. Gottesbeweise
1. Die „fünf Wege“ Thomas von Aquins
Ich möchte Ihnen nun im Folgenden die sogenannten „fünf Wege“, die Quinque viae, wie sie auch oft genannt werden, vorstellen. Diese Gottesbeweise finden Sie in nahezu allen Büchern zur Religionsphilosophie oder zum Thema „Gottesbeweise“. Bedauerlicherweise gibt es aber nahezu kaum ein Buch, in dem die „fünf Wege“ wirklich richtig dargestellt werden, d.h. so, dass sie das, was Thomas von Aquin wirklich gemeint hat, zutreffend wiedergeben. Diese Kritik betrifft nicht nur atheistische oder agnostizistische Texte zu diesem Thema, sondern ebenso durchaus gute theistische Schriften, wie z.B. die im Übrigen recht gute Einführungsschrift von Winfried Löffler (22013) und selbst neuscholastische Texte. Dies mag sich nun so anhören, als hätte ich die einzig wahre Interpretation der Gottesbeweise entdeckt, doch dieses Eigenlob muss ich sogleich zurückweisen. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Darstellung der Gottesbeweise bei Edward Feser in seiner Schrift Aquinas (2009), die wirklich vorbildlich ist. Ebenfalls zu empfehlen ist die Schrift von Brian David (2014, 29–94), die allerdings die Gottesbeweise kürzer darstellt als Feser, die aber auch auf die üblichen Missverständnisse und Einwände eingeht. Dass viele andere Autoren eine unzureichende oder gar falsche Darstellung der Gottesbeweise bei Thomas geben, hat nachvollziehbare Gründe. Der Hauptgrund dürfte sein, dass sich die meisten Autoren ausschließlich auf die Darstellung der Quinque viae in der Summa theologiae beziehen, die sehr kurz ist und durchaus Anlass zu Missverständnissen gibt. Thomas sagt zu dem gleichen Thema erheblich mehr in seiner Summa contra gentiles, wo mehrere hundert Seiten den Gottesbeweisen gewidmet werden (dazu auch Norman Kretzmann 1997, 60ff. Eine Zusammenstellung der Gottesbeweise aus den beiden Hauptwerken Thomas von Aquins wurde von Horst Seidl 1982 [31996] veröffentlicht). Hier argumentiert Thomas deutlich sorgfältiger und ausführlicher. Ein weiterer Grund für die meist oberflächliche und unzureichende Darstellung der Gottesbeweise besteht wohl auch darin, dass diese heute als „überholt“ und „uninteressant“ für die heutige Zeit betrachtet werden, bzw. als zu „metaphysisch aufgeladen“, als zu „voraussetzungsreich“ usw., und man sich daher kaum die Mühe macht, tiefer in das Thema einzudringen, und sich nur auf die Sekundärliteratur verlässt. Wir werden gleich sehen, dass diese Vorwürfe unzutreffend sind und dass sich die Quinque viae, richtig verstanden, als die bis heute besten Gottesbeweise erweisen. Allerdings sind tatsächlich eine Reihe philosophischer Voraussetzungen zu akzeptieren, die sich aber ebenfalls rechtfertigen lassen und die ich in den vier vorherigen Bänden der Reihe zum großen Teil auch bereits mit Argumenten gegen die wichtigsten Einwände verteidigt habe.
Die Quinque viae, die „fünf Wege“ Thomas von Aquins, die von ihm in aller Kürze in der Summa theologiae vorgestellt werden, haben Bezeichnungen bekommen, die ich kurz nennen möchte: Der „erste Weg“ wird auch als Beweis aus der Veränderung bezeichnet. Der zweite Gottesbeweis heißt Kausalbeweis und der dritte wird Kontingenzbeweis genannt. Der vierte Beweis geht von verschiedenen Seinsgraden aus und heißt henologischer Gottesbeweis und der fünfte wird als teleologischer Beweis bezeichnet. Diese fünf Beweise stehen nicht in einer willkürlichen Ordnung hintereinander, sondern die Ordnung ist systematisch, so dass ein Beweis zumindest teilweise die anderen Beweise voraussetzt oder sich aus ihnen ergibt. Deshalb werde ich diese „fünf Wege“ in dieser Reihenfolge vorstellen. Thomas ist der Überzeugung, dass mit den Quinque viae die besten Argumente für die Existenz Gottes gegeben werden, und verschiedene Neuscholastiker (G. M. Manser 1949, 345ff.) haben die Auffassung verteidigt, dass es auch nicht mehr als eben genau diese fünf Wege, Gott zu beweisen, gibt. Ob dies zutrifft, kann ich nicht sicher sagen. Ich werde später auf die Argumente, die dafür sprechen, dass mit den fünf Wegen die Beweise für die Existenz Gottes vollständig sind, zurückkommen.
Im Weiteren werde ich stets zuerst den Text Thomas von Aquins aus der Summa theologiae zitieren, damit Sie (a) diese Texte selbst kennenlernen und (b) sehen können, dass diese Texte sehr verkürzt sind und sich leicht missverstehen lassen, wenn man sich nicht tiefer darauf einlässt.
(a) Der Beweis aus der Veränderung in der Welt
Hier also zunächst der Text des Aquinaten:
Es ist eine sichere, durch das Zeugnis der Sinne zuverlässig verbürgte Tatsache, dass es in der Welt Bewegung gibt. Alles aber, was in Bewegung ist, wird von einem anderen bewegt. Denn in Bewegung sein kann etwas nur, sofern es unterwegs ist zum Ziel der Bewegung. Bewegen aber kann etwas nur, sofern es irgendwie schon im Ziel steht. Bewegen heißt nämlich nichts anderes als: ein Ding aus seinen Möglichkeiten (potentiae) überführen in die entsprechenden Wirklichkeiten (actu). Dies kann aber nur geschehen durch ein Sein, das bereits in der entsprechenden Wirklichkeit (actu) steht. So bewirkt z.B. etwas tatsächlich („in actu“) Glühendes wie das Feuer, dass ein anderes, z.B. das Holz, zu dessen Möglichkeiten es gehört, glühend zu werden, nun tatsächlich („in actu“) glühend wird. Das Feuer also „bewegt“ das Holz und verändert es dadurch. Es ist aber nicht möglich, dass ein und dasselbe Ding in Bezug auf dasselbe Sein schon ist und zugleich noch nicht ist, was es sein könnte. Möglich ist das nur in Bezug auf verschiedene Seinsformen oder Seinsbestimmungen. Was z.B. in Wirklichkeit heiß ist, kann nicht zugleich dem bloßen Vermögen nach heiß sein, sondern ist dem Vermögen nach kalt. Ebenso ist es unmöglich, dass ein und dasselbe Ding in Bezug auf dasselbe Sein in einer und derselben Bewegung zugleich bewegend und bewegt sei oder – was dasselbe ist –: es ist unmöglich, dass etwas sich selbst bewegt. Also muss alles, was in Bewegung ist, von einem anderen bewegt sein.
Wenn demnach das, wovon etwas seine Bewegung erhält, selbst auch in Bewegung ist, so muss auch dieses wieder von einem anderen bewegt sein, und dieses andere wieder von einem anderen. Das kann aber unmöglich so ins Unendliche fortgehen, da wir dann kein erstes Bewegendes und infolgedessen überhaupt kein Bewegendes hätten. Denn die späteren Beweger bewegen ja nur in Kraft des ersten Bewegers, wie der Stock nur insoweit bewegen kann, als er von der Hand bewegt wird. Wir müssen also unbedingt zu einem ersten Bewegenden kommen, das von keinem bewegt ist. Dieses erste Bewegende aber meinen alle, wenn sie von Gott sprechen.“1
Sie sehen, dass der Text nicht einfach zu verstehen ist, zumal einige Begriffe – insbesondere der Begriff „Bewegung“ – bei Thomas offenbar eine andere, weitere Bedeutung haben als heutzutage. Da ich im Folgenden aber nicht die vollständige Theorie der Veränderung sowie die Kausaltheorie wiederholen kann, möchte ich Sie auf den ersten Band des Grundkurses verweisen, obwohl ich mich bemühe, jeden Band so zu schreiben, dass die Kenntnis der anderen Bände nicht eine notwendige Voraussetzung ist.
Zunächst möchte ich betonen, dass Thomas bei diesem wie auch bei allen folgenden Argumenten nicht von irgendwelchen umstrittenen Thesen ausgeht, wie „alles ist in Bewegung“ oder „alles, was sich bewegt, hat eine Ursache“. Thomas geht hier und auch in den anderen Beweisen von einer einzelnen empirischen Tatsache aus, die unumstritten ist. Er sagt: „Es ist eine sichere, durch das Zeugnis der Sinne zuverlässig verbürgte Tatsache, dass es in der Welt Bewegung gibt“. Unsere Sinne bezeugen uns, dass es in dieser Welt bestimmte Bewegungen gibt. Ich stehe auf und bewege mich zur Küche, um mir einen Kaffee zu holen. Eine einzige Bewegung genügt, um als Ausgangspunkt für das Argument zu dienen.
Versuchen wir uns nun klarzumachen, wie Thomas hier argumentiert. Die erste und zugleich die zentrale Prämisse dieses Arguments behauptet, dass alles, was in Bewegung ist, durch etwas anderes bewegt wird. Bevor ich sogleich die Gegenargumente gegen diese Prämisse diskutiere, sollte ich zunächst verständlich machen, was damit eigentlich gesagt wird. Zunächst meint Thomas mit „Bewegung“ jede Art der Veränderung, also nicht nur das, was wir darunter zumeist verstehen, nämlich die Ortsveränderung. Thomas unterscheidet verschiedene Arten der Veränderung bzw. Bewegung, wie die Ortsbewegung, die akzidentelle Veränderung, z.B. wenn ein Gegenstand, der bisher weiß war, jetzt rot angestrichen wird, oder die substanzielle Veränderung, wie sie z.B. bei der Verdauung zu finden ist, wenn pflanzliche Nahrung in das Fleisch des Tieres verwandelt wird, das diese Nahrung zu sich nimmt. Und nun behauptet Thomas, dass jede Veränderung durch etwas anderes verändert wird. Sie werden sofort einwenden, dass dies nicht sein könne, denn Tiere oder auch Pflanzen verändern sich doch durch sich selbst. Insbesondere Tiere sind dadurch ausgezeichnet, dass sie sich selbst bewegen können (so auch Ansgar Beckermann 2013, 68f.). Thomas bestreitet diese Tatsache natürlich nicht. Man muss verstehen, was er damit meint, wenn er sagt, dass alles, was sich bewegt, durch etwas anderes bewegt wird. Hinsichtlich der tierischen Eigenbewegung will Thomas sagen, dass diese Bewegung dadurch zustande kommt, dass ein Teil des Tieres einen anderen Teil desselben Tieres bewegt, dass, wenn sich z.B. die Beine...