Einleitung
Natürliche Ethik
Eine gewisse, wenn auch vielleicht unklare Vorstellung von dem, was Ethik ist, hatten Sie sicher schon, bevor Sie dieses Buch zu lesen begonnen haben. Sonst hätten Sie das Buch vermutlich gar nicht zu lesen begonnen. Wenn Sie jedoch eine Definition der Ethik geben sollen, wird es schon etwas schwieriger. Das Wort „Ethik“ kommt, wie viele philosophische Begriffe, aus dem Griechischen und bedeutet dort so viel wie Charakter, Gesinnung oder Sittlichkeit. Es geht also irgendwie um das richtige Handeln oder Verhalten, um „Charakterbildung“. Als philosophische Wissenschaft ist die Ethik die Wissenschaft vom sittlich guten menschlichen Leben. Der Gegenstand, das, worum es in dieser Wissenschaft geht, ist das menschliche Handeln, allerdings nicht das Handeln als solches, denn das ist Thema der Handlungstheorie, die heute eine eigene philosophische Wissenschaft ist. Es geht um das menschliche Handeln hinsichtlich eines guten, gelungenen oder glücklichen Lebens. Man könnte also die Fragestellung der Ethik so formulieren: Was muss ich tun, um wahrhaft glücklich zu werden?
Manchmal wird in der Gegenwartsphilosophie zwischen Moralphilosophie und Ethik unterschieden. In diesem Buch werde ich diese Unterscheidung nicht machen, sondern beides als identisch behandeln. Nach dem vorher Gesagten kann man Ethik jetzt folgendermaßen definieren: „Ethik oder Moralphilosophie ist jene Wissenschaft, die die freien menschlichen Handlungen, sofern sie mit dem letzten Ziel des menschlichen Lebens in Beziehung gebracht werden, aus den tiefsten Gründen zu erforschen sucht, soweit dies durch das Licht der Vernunft möglich ist, oder anders und kürzer gesagt: Die Ethik ist die Wissenschaft, die auf Grund der Vernunft aus den tiefsten Gründen zu erkennen sucht, wie der Mensch leben muss, damit er sein Ziel möglichst gut erreicht“ (Kälin, 1945, 1).
Diese Definition enthält mehrere Begriffe, die ich kurz erläutern möchte. Zunächst ist die Rede von freien Handlungen. Es geht in der Ethik nicht um alle möglichen Handlungen, wie sie z. B. von der Handlungstheorie oder der Psychologie untersucht werden, sondern nur um freie Handlungen. Reflexe, wie sie etwa vom Neurologen bei der Untersuchung des Nervensystems geprüft werden, sind keine freien Handlungen. Was genau der Begriff „frei“ bedeutet, muss noch geklärt werden, und dies ist auch ein Thema der Ethik. Wenn jemand mit einer Pistole am Kopf gezwungen wird, den Tresor zu öffnen, ist das Öffnen des Tresors jedenfalls keine freie Handlung.
Des Weiteren wird in der Definition gesagt, dass die Handlungen nur insofern betrachtet werden, als sie für das letzte Ziel des Menschen von Bedeutung sind. Dies setzt voraus, (a) dass es ein solches letztes Ziel des Menschen überhaupt gibt, was natürlich begründet werden muss, und (b) dass es Handlungen gibt, die auf ein solches letztes Ziel gerichtet sind. Thema der Ethik ist somit die Untersuchung der Ziele bzw. Zwecke menschlicher Handlungen und die Frage, ob es ein letztes Ziel aller Handlungen gibt, und, wenn ja, was dieses letzte Ziel ist.
Einen dritten Punkt in der Definition möchte ich noch erwähnen, nämlich den, dass die Ethik oder Moralphilosophie eine Wissenschaft ist, die sich bei ihrer Forschung nur auf die menschliche Vernunft verlässt. Dies bedeutet, dass es in der Ethik nicht um Gebote oder Verbote geht, die z. B. durch eine Offenbarung bekannt gemacht wurden. Philosophische Ethik unterscheidet sich dadurch etwa von Moraltheologie, die eine göttliche Offenbarung zur Voraussetzung hat, zu der gehört, dass Gott bestimmte Gebote und Verbote gegeben hat, nach denen sich der Mensch richten sollte. Am bekanntesten, zumindest in der christlich-jüdischen Tradition, sind hier die Zehn Gebote. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Ethik oder Moral, die auf Offenbarung beruht, einer rationalen Ethik widersprechen muss. Ich würde umgekehrt aber sagen, dass eine Ethik, die sich auf eine Offenbarung beruft, jedoch in bestimmten, grundlegenden Punkten der rationalen Ethik widerspricht, falsch sein muss.
So viel zunächst zur Definition der Ethik. Nun habe ich dieses Buch und die darin vorgestellte Ethik aber als natürliche Ethik bezeichnet. Deshalb werden Sie sich die Frage gestellt haben, was denn hier das Wort „natürlich“ bedeuten soll. Und man könnte auch fragen, ob es „unnatürliche Ethiken“ gibt, wenn die hier vorgestellte Ethik als „natürlich“ bezeichnet wird. Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass es zahlreiche nichtnatürliche Ethiken gibt, dass die meisten modernen ethischen Theorien mehr oder weniger unnatürlich sind, wenn man den Begriff „natürlich“ richtig versteht.
Das Prädikat „natürlich“ besagt zunächst so viel wie „naturgemäß“, der Natur entsprechend. Doch von welcher Natur ist hier die Rede? Geht es um die Natur um uns herum, um die Landschaften, die Pflanzen und Tiere? In gewisser Weise spielt diese Natur in der natürlichen Ethik eine Rolle, doch dies ist nicht primär mit dem Begriff der Natur im Zusammenhang mit der natürlichen Ethik gemeint. Da es um Ethik geht und es bei der Ethik, wie wir schon aus der Definition gelernt haben, um die freien Handlungen geht, die es nur beim Menschen gibt, geht es in der natürlichen Ethik um die Natur des Menschen, um die menschliche Natur. Die natürliche Ethik ist eine der menschlichen Natur entsprechende Ethik. Doch ist diese Antwort auch noch unvollständig, denn Sie wissen noch nicht, was denn die menschliche Natur ist. In der klassischen Philosophie, und das ist die aristotelisch-thomistische Philosophie, wird der Begriff „menschliche Natur“ mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem Begriff des „menschlichen Wesens“ gebraucht. Ich sage „mehr oder weniger“, weil es einen Unterschied gibt zwischen dem Wesen eines Menschen und der Natur des Menschen. Der Begriff der menschlichen Natur bezieht sich mehr auf die Tätigkeit des Menschen, während das Wesen des Menschen dasjenige ist, aus dem die Tätigkeit des Menschen erfließt, was also gewissermaßen die Voraussetzung der menschlichen Tätigkeiten ist. Doch für unseren Zusammenhang können wir diesen Unterschied unberücksichtigt lassen und im Weiteren werde ich beide Begriffe auch synonym verwenden. Dies bedeutet dann, dass ich hier eine Ethik vorstellen möchte, die der Natur des Menschen, dem Wesen des Menschen entspricht; eine Ethik, könnte man sagen, die das Wesen des Menschen zu entfalten hilft.
Und was ist nun dieses Wesen, diese Natur des Menschen? Von alters her wird die Natur des Menschen als animal rationale, oder auf Griechisch als zoon logon echon bezeichnet. Auf Deutsch bedeutet dies so viel wie das vernunftbegabte Sinneswesen oder, wenn man wörtlich übersetzen würde, das vernunftbegabte Tier. Die natürliche Ethik geht davon aus, dass sich aus dieser Natur des Menschen bestimmte Rechte und Pflichten ergeben und dass dies die grundlegenden Rechte und Pflichten des Menschen sind, oder anders gesagt, dass die Beachtung dieser Rechte und Pflichten dazu führt, dass der Mensch in vollem Sinne menschlich wird, dass der Mensch sich voll entfalten kann bzw. dass die Beachtung dieser Rechte und Pflichten der recht verstandenen Selbstverwirklichung des Menschen dient. Die menschliche Natur ist von sich aus auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, in dem sie sich verwirklicht, dessen Erreichung sie bei allen Tätigkeiten im Letzten anstrebt. Dieses Ziel ist, so viel sei schon hier gesagt, die Glückseligkeit, das vollkommene Glück. Die natürliche Ethik ist die Wissenschaft, die untersucht, wie der Mensch dieses Glück erreichen kann, wie der Mensch wirklich glücklich werden kann.
Das sind freilich alles nur Andeutungen, und dazu auch noch mit großen Worten. Doch darum wird es in diesem Buch gehen. Wir alle streben nach dem, was gut für uns ist. Doch oft ist es so, dass wir etwas für gut halten und deshalb anstreben, obwohl sich später herausstellt, dass es alles andere als gut ist. Daher ist es offensichtlich keine bloße Gefühlsangelegenheit, herauszufinden, was gut für uns ist. In allen unseren freien Handlungen streben wir nach etwas Gutem, doch es bedarf oft langer Überlegung und rationaler Bemühung, um zu erkennen, was wirklich gut ist, und erst recht, was das Gute selbst ist. Dies ist das Thema der Ethik. Was gut für uns ist, ist das, was uns unserem natürlichen Ziel näherbringt, wodurch wir uns selbst als Menschen verwirklichen und worin unser Menschsein sich erfüllt. Dies ist eine objektive Wirklichkeit, nicht etwas, was sich bestimmte Menschen ausgedacht haben, denn es ergibt sich aus der Natur des Menschen. Dies ist die Grundüberzeugung der natürlichen Ethik.
Das Gebiet der Ethik ist heute so umfangreich geworden, dass es unmöglich ist, auch nur die wichtigsten Positionen einigermaßen vollständig darzustellen. Deshalb muss ich mich in diesem Buch beschränken. Da es auf dem aktuellen Buchmarkt kein anderes Buch zur natürlichen Ethik bzw. zur klassischen Naturrechtsethik, wie diese Moralphilosophie früher genannt wurde, gibt, werde ich mich vor allem auf die Darstellung dieser Ethik konzentrieren. Die anderen wichtigen Theorien der Ethik in der Gegenwartsphilosophie werden aber nicht ganz außer Acht gelassen, sondern auch kurz vorgestellt und insofern diskutiert, als sie Einwände gegen die natürliche Ethik vorgebracht haben.
Wenn wir uns mit Ethik beschäftigen, dann sind wir besonders daran interessiert zu erfahren, was objektiv gut ist. Wir wollen wissen, ob es objektive moralische Gebote gibt, die ein Fundament in der Wirklichkeit haben. Dazu muss die Ethik aber in der Ontologie gegründet werden. Die Tendenzen der gegenwärtigen...