1Medizintheoretische Grundlagen
Was ist der Forschungsgegenstand der Medizintheorie?
Welche medizinischen Konzepte und Ätiologien gibt es?
Auf welchen erkenntnistheoretischen Vorannahmen beruhen diese Konzepte?
Wie kommt die naturwissenschaftlich basierte Medizin (im Unterschied zu traditionellen Heilweisen) zu ihren Erkenntnissen?
Was bedeutet science of medicine, was art of medicine?
1.1
Medizin als Anwendung von Arbeitshypothesen
Unter den verschiedenen Wissenschaften hat die Medizin einen besonderen Status: Sie ist keine (angewandte) Naturwissenschaft und gehört erst recht nicht zu den Geisteswissenschaften, auch wenn sie Elemente beider Wissenschaftsarten enthält. Wegen ihrer zweckhaften Ausrichtung auf die Behandlung jeweils eines bestimmten leidenden Menschen (homo patiens) wurde sie als Handlungswissenschaft bezeichnet. Als solche ist sie gekennzeichnet durch ständige Wechselwirkungen zwischen Theorie und Praxis sowie durch den Zwang zur Überprüfung der Erfolge und zur Rechtfertigung der Misserfolge. In der Handlungswissenschaft Medizin gilt «Wer heilt, hat recht», und tatsächlich ist es in gewissen Grenzen möglich, vordergründig empirisch und ohne theoretische Fundierung Medizin zu betreiben, wenn man das Prinzip von Versuch und Irrtum anwendet und ggf. mit statistischen Methoden kombiniert. Deshalb neigen viele Mediziner dazu, unkritisch das heutige Wissen und die gegenwärtige Praxis für das einzige Mögliche und «objektiv» Richtige zu halten. Die Medizintheorie dagegen betrachtet die aktuelle westliche Heilkunde als eine von vielen und als ein Konglomerat aus verschiedenen Arbeitshypothesen und Modellen; sie interessiert sich dafür, wie und warum wir uns im «praktischen Vollzug» von «Wissenschaft» für bestimmte Optionen entscheiden und andere verwerfen. Medizintheorie beschreibt dabei auch das «Wissensdilemma», das darin besteht, dass nicht das gesamte zu einer Zeit grundsätzlich verfügbare Wissen im konkreten Fall auch tatsächlich zur Verfügung steht, sowie die «erkenntnistheoretische Kluft» zwischen biomedizinischem Grundlagenwissen und klinischem Handeln.
Die Theorie der Medizin besteht aus vier Gebieten: der Wissenschaftstheorie, der Praxistheorie, der Werttheorie sowie der Wissenschaftsforschung der Medizin. Die Wissenschaftstheorie der Medizin untersucht das ärztliche Erkennen, Forschen und Wissen unter logisch-analytischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Aspekten: Was ist eine medizinische Theorie, wie entsteht sie, wie wird sie begründet und widerlegt, was macht «Wissenschaftlichkeit» aus, was bedeutet «Erfahrung» usw.? Die Praxistheorie der Medizin befasst sich mit den logisch-analytischen, handlungstheoretischen und methodologischen Grundlagen des ärztlichen Handelns in seinem jeweiligen Kontext: Was ist Krankheit, was ist eine Diagnose, wie wird sie bestätigt, warum ist sie manchmal falsch, was ist ein diagnostischer Widerspruch, wie gelangt man vom Wissen zum Handeln usw.? Beide Richtungen lehnen sich teilweise in Fragestellung, Begrifflichkeit und Vorgehensweise an die Allgemeine Wissenschaftstheorie als ein etabliertes Teilgebiet der Philosophie an, wollen jedoch ihre Erkenntnisse für die Medizin konkret nutzbar machen (wenn auch bisher mit geringer Resonanz). Die Werttheorie der Medizin umfasst die Medizinische Ethik und Metaethik, wovon im dritten Teil dieses Lehrbuchs die Rede sein wird; die Deutungsoffenheit der grundlegenden, aber in der Medizin normativen Begriffe Gesundheit und Krankheit bildet hier eine wichtige Schnittstelle. Die Wissenschaftsforschung der Medizin untersucht empirisch die Entstehung des medizinischen Wissens sowie des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens. Sofern die methodische Annäherung über historische Quellen erfolgt, schließt dies die Medizingeschichte ein.
Unter dieser Perspektive erscheint der Begriff «Krankheit» als ein soziales Phänomen mit Konstruktcharakter, das in einen bestimmten historischen Kontext eingebunden (Historizität), kulturabhängig und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Das Gleiche gilt für die Akteure und das von ihnen erwartete Verhalten. Das medizinische Handeln lässt sich zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen kulturellen Kontexten auf die Umsetzung einer überschaubaren Zahl von Konzepten zurückführen, wobei der Wortbestandteil «Iatro-» die spezifisch medizinische Ausrichtung anzeigen soll (siehe Tab. 1-1).
Krankheiten können also sowohl auf Vorgänge im Inneren des Körpers zurückgeführt werden als auch auf äußere Einflüsse: Intrinsische Ursachen können vom Körper und seinen Strukturen bzw. organischen Funktionen ausgehen (Physikogenese), aber auch von der «Seele» mit Persönlichkeitsentwicklung, intellektueller, mentaler und affektiver Ausstattung (Psychogenese). Dazu kommen Faktoren des «Lebens» selbst, wie die bei unterschiedlichen Individuen unterschiedlich ausgeprägte «Lebenskraft», die Konstitution, die evolutionäre Entwicklung oder heute die genetische Prädisposition. Die extrinsische Ätiologie umfasst Mitwelt (Soziogenese), Umwelt (Ökogenese) und ggf. auch die Welt des Übernatürlichen (Spiritugenese).
Tabelle 1-1: Medizinische Konzepte
naturalistische Konzepte | Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogien, Iatroastrologie Viersäftelehre (Humoralpathologie), Iatrochemie Iatromechanik, Iatrophysik, Iatrotechnik Iatromathematik, Biomodelling Iatromorphologie dynamistische Konzepte |
supranaturalistische Konzepte | Dämonologie Iatromagie Iatrotheologie |
psychologisch-soziologische Konzepte | |
Alle vorgestellten Modelle basieren im Wesentlichen auf vier Axiomen des Erkenntnisgewinns, also auf Vorannahmen, die sich weder widerlegen noch beweisen lassen und die untereinander inkompatibel sind (epistemisches Dilemma):
Existenz von «übernatürlichen» (nicht messbaren, nicht «objektiv» nachweisbaren) Personen oder Kräften
Korrespondenz bzw. Analogie von Dingen oder Phänomenen
kausalgesetzlicher, mechanisch-deterministischer Ablauf natürlicher Prozesse
Möglichkeit des intersubjektiven Verstehens durch die Interpretation von Zeichen.
Das erste Axiom ist wegen der Unkalkulierbarkeit dieser Kräfte schlecht für Prognose und Therapieplanung, es eignet sich jedoch sehr gut für die (nachträgliche) Erklärung von Ereignissen und kann daher sinnstiftend wirken. Wegen seiner unmittelbaren Plausibilität hat das zweite Axiom eine lange Tradition: Nicht nur viele magische Praktiken, sondern auch die Viersäftelehre (Humoralpathologie), die Astromedizin mit ihren Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogien, die Homöopathie, die traditionelle chinesische Medizin mit dem Gegensatzpaar Yin und Yang sowie der altindische Ayurveda beruhen auf diesem Grundsatz. Das dritte Axiom scheint das moderne, westliche Verständnis von Naturwissenschaft zu beschreiben, allerdings nur auf den ersten Blick. Spätestens seit Kant kommt ihm nur noch der Stellenwert einer statistisch begründbaren Arbeitshypothese zu, da man immer nur ein Nacheinander (post hoc), kein «Wegeneinander» (propter hoc) beobachten kann. Selbst im Bereich der exakten Naturwissenschaften gilt das Axiom heute nur noch in der Newton’schen Physik; für die Anwendung auf organische Vorgänge ist es wenig geeignet. Analytische Exaktheit und strikte Kausalität sind denn auch Forderungen, die seit der «antipositivistischen Wende» Mitte der 60er-Jahre für die Medizin nicht mehr erhoben werden. Das letzte Axiom findet sich nicht nur im divinatorisch-intuitiven Bereich von Wahrsagungen und Traumdeutung oder als Basis von Psychosomatik, Psychoanalyse und Psychotherapie, sondern beschreibt auch die meist implizit bleibende Vorgehensweise in der sonstigen Medizin, die sich somit als systematisiertes Zeichendeuten erweist, mit allen Gefahren der Zirkularität und der Fehlinterpretation, die damit verbunden sind. Eine Absicherung dieser schwankenden Grundlage geschieht durch Akkumulierung von Daten, die erst in «normal» und «pathologisch» getrennt und dann mittels komplexerer mathematischer Verfahren zu Krankheiten gruppiert werden.
Auf der Basis unterschiedlicher Axiome ergeben sich unterschiedliche methodische Herangehensweisen und damit auch unterschiedliche Bilder vom kranken Menschen (siehe Tab. 1-2). Die Subjektivität des Kranken spielt in der modernen, naturwissenschaftlich begründeten Medizin allenfalls eine untergeordnete Rolle, was im medizinethischen Kontext noch einmal zu diskutieren sein wird. Die Faszination, die für viele unzufriedene Patienten von der Komplementärmedizin ausgeht, liegt darin, dass dort keine derartige Divergenz von professioneller und laienhafter Deutung von «Zeichen» besteht. Außerdem kommt die Berücksichtigung der kulturgebundenen Symbolik und Metaphorik von Körperphänomenen und deren Bezeichnungen dem subjektiven Kausalbedürfnis vieler Menschen entgegen.
Ohne Zweifel beruhen die Erfolge der heutigen Medizin auf...