|5|2 Theorie der Gruppentherapie
2.1 Interaktionsorientierte Gruppenkonzepte
Historisch gesehen spielen bei der Entwicklung gruppentherapeutischer Ansätze gerade die interaktionsorientierten (in der Regel psychodynamischen) Gruppenkonzepte eine wesentliche Rolle. Ausgehend vom Störungsmodell, dass unbewusste Konflikte aus der Kindheit wesentliche Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Erkrankungen sind, stehen bei interaktionsorientierten Gruppenkonzepten das Aufdecken, Durcharbeiten und die Überwindung dieser unbewussten Konflikte im Zentrum. Die Interaktion zwischen Gruppenmitgliedern ist dabei das primäre Vehikel des Veränderungsprozesses (Burlingame, MacKenzie & Strauss, 2004). Die Teilnehmer der Gruppe schaffen innerhalb der Gruppentherapie durch ihr Interaktionsverhalten einen Mikrokosmos, der ihr im realen Leben bestehendes Interaktionsverhalten widerspiegeln soll. Die Gruppe fördert die Entwicklung von emotionalen Beziehungen untereinander, eine offene Kommunikation mit Selbstöffnung und Rückmeldungen und die Entwicklung von Einsicht in psychische Prozesse. Die Aufgaben der Gruppenleiter beinhalten Deutungen von Widerstand, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen. Im interaktionsorientierten Gruppenkonzept ist die Gruppendynamik der wesentliche Wirkfaktor für die Veränderung des Interaktionsverhaltens. Aus diesem Grund befindet sich der Leiter der Gruppe außerhalb der Gruppendynamik, er ist mehr Beobachter und deutet das Verhalten des Einzelnen innerhalb des Prozesses, greift aber nicht aktiv strukturierend oder regulierend ein. Ziel ist es, dass durch die entstehende Gruppendynamik, Rückmeldungen der anderen Teilnehmer und möglichst hilfreichen Deutungen des Therapeuten der einzelne Teilnehmer sein problematisches Beziehungsverhalten erkennen kann. Eine Übertragung der Erfahrungen aus der Gruppe auf die reale Lebenssituation des Gruppenteilnehmers ist kein explizites Element des Konzepts. Im Vordergrund stehen die korrigierenden Erfahrungen in der Gruppe. Fertigkeiten, die der einzelne Patient für den Aufbau von neuem Interaktionsverhalten benötigt, werden als zumindest latent vorhanden angesehen. Es findet keine durch den Therapeuten gelenkte Form der Kommunikation statt. Alle Teilnehmer können zu jeder Zeit miteinander in Interaktion treten. Vorrangige Themen sind die Beziehungen der Gruppenteilnehmer untereinander.
|6|Falls ein spezifisches Thema in der Sitzung behandelt wird, geschieht dies auf Initiative eines Teilnehmers, der hierfür die Zustimmung der anderen benötigt. Themen werden also implizit nach einem Mehrheitsprinzip ausgewählt. So fühlen sich viele Gruppenteilnehmer angesprochen und zur Mitwirkung aufgefordert. Wenn ein Teilnehmer ein Thema vorschlägt, kann in der Bearbeitung ein anderer Teilnehmer das Thema aus seiner Sicht und nach seinen Wünschen fortführen. Entstehen während der Zusammenarbeit in einer interaktionsorientierten Gruppe bedeutsame Unstimmigkeiten, wird diesen Inhalten Vorrang eingeräumt. „Störungen“ beeinflussen die Gruppendynamik und müssen deshalb vorrangig geklärt werden. Weitere interaktionsorientierte Gruppenkonzepte sind in der Psychodynamischen Psychotherapie, der Gesprächspsychotherapie und anderen Methoden der Humanistischen Psychotherapie (vgl. „Encounter-Gruppen“ in den 1960er Jahren) verbreitet (zur weiteren Differenzierung siehe Kleinberg, 2012; Sipos & Schweiger, 2018; Tschuschke, 2001).
Merke: Interaktionsorientierte Gruppenkonzepte
Die Gruppendynamik ist der wesentliche Wirkfaktor für die Veränderung des Interaktionsverhaltens.
Durch die entstehende Gruppendynamik, durch Rückmeldungen der anderen Teilnehmer und durch hilfreiche Deutungen des Therapeuten soll der einzelne Teilnehmer sein problematisches Beziehungsverhalten erkennen.
Der Leiter der Gruppe greift nicht aktiv strukturierend oder regulierend ein.
Vorrangige Themen sind die Beziehungen der Gruppenteilnehmer untereinander.
2.2 Einzelfallorientierte Gruppenkonzepte
In einer einzelfallorientierten Gruppe steht die gezielte Bearbeitung der psychischen Probleme oder das vorher festgelegte Thema eines Protagonisten im Vordergrund. Die Auswahl der Themen erfolgt nicht nach Mehrheitsinteresse, sondern ist auf die persönliche, die Lebenssituation und -geschichte des Einzelnen betreffende individuelle Thematik ausgerichtet und damit nicht schwerpunktmäßig in der Gruppendynamik verwurzelt. Es wird davon ausgegangen, dass die meisten Gruppenteilnehmer ähnliche Probleme oder Lebenssituationen kennen. In der Bearbeitung geht es dennoch immer um die individuelle Situation des Protagonisten. Teilnehmer der Gruppe, die nicht in der Protagonistenrolle sind, sollen am Modell der Problembewältigung durch den Protagonisten lernen. Sie stehen als Quelle von Information, Erfahrungen und Feedback und als Übungspartner für Rollenspiele zur Verfügung. Zu den einzelfallorientierten Gruppenkonzepten zählen die Gestalttherapie nach Perls (Perls, 2007), das Psychodrama nach Moreno (Moreno, 2007) |7|und die einzelfallorientierten, verhaltenstherapeutischen Gruppen. In den Siebzigerjahren begann Grawe, ein erstes einzelfallorientiertes verhaltenstherapeutisches Gruppenkonzept zu beschreiben (Grawe, 1980). Dabei wurden lerntheoretische Erkenntnisse und das Problemlösemodell nach Goldfried und D’Zurilla auf die Gruppentherapie übertragen (D’Zurilla & Goldfried, 1971; Nezu, Nezu & D’Zurilla, 2013; Sipos & Schweiger, 2018).
Merke: Einzelfallorientierte Gruppenkonzepte
Die gezielte Bearbeitung der psychischen Probleme oder das vorher festgelegte Thema eines Protagonisten stehen im Vordergrund.
Teilnehmer der Gruppe, die nicht in der Protagonistenrolle sind, sollen am Modell der Problembewältigung durch den Protagonisten lernen.
2.3 Störungsspezifische Gruppentherapien
Die Entwicklung von störungsspezifischen Verhaltenstherapie-Methoden in Gruppen ist eine der wichtigsten Neuerungen innerhalb der Verhaltenstherapie. Manualisierte, spezifische gruppentherapeutische Behandlungskonzepte existieren zu fast allen psychischen Störungen: depressive Störungen, Angststörungen, Schmerzbewältigungsgruppen, Zwangsstörungen, traumabezogene Störungen, dissoziative Störungen, somatoforme Störungen, Tinnitus, Schizophrenie, substanzbezogene Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, und Schlafstörungen. Störungsspezifische Verhaltenstherapie in Gruppen ist für viele Psychotherapeuten die Methode der Wahl, wenn eine ausreichende Zahl von Patienten diagnostisch der gleichen Gruppe von Störungen angehören. Typische störungsspezifische Gruppen sind diagnostisch homogen, das heißt, die Teilnehmer haben eine Hauptdiagnose in der gleichen Erkrankungsgruppe. Sie richten sich an Männer und Frauen. Sie können geschlossen sein (gemeinsamer Beginn und Ende der Therapie aller Teilnehmer). Störungsspezifische Gruppen können jedoch auch offen oder modular sein. Dann ist ein Einstieg zu multiplen Zeitpunkten möglich. Die störungsspezifischen Behandlungskonzepte sind in der Regel manualisiert. Viele Manuale sind als Bücher oder Zeitschriftenartikel erhältlich, manche befinden sich im persönlichen Besitz von Therapieentwicklern oder Institutionen. Die Manualisierung beinhaltet Algorithmen für die Auswahl geeigneter Patienten, Prinzipen der spezifischen Beziehungsgestaltung, Regeln zur Gestaltung der zeitlichen Abläufe, Inhalte der Psychoedukation, eine genaue Beschreibung der Therapietechniken, eine Festlegung der Behandlungsziele und der Methoden zur Überprüfung des Therapieverlaufs. Einige Manuale machen sehr präzise Vorgaben („Kochbücher“): Sie definieren exakt den Inhalt jeder einzelnen Therapiesitzung. Andere sind prinzipienbasiert und lassen dem Therapeuten Spielraum in der Auswahl der Techniken und der zeitlichen |8|Gestaltung. Alle Behandlungskonzepte bauen auf dem jeweiligen Störungswissen auf und verfolgen spezifische, davon abgeleitete Behandlungsziele. Die eingesetzten Behandlungsprinzipien und Psychotherapietechniken gehören zum Repertoire des Verfahrens...