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E-Book

Gruß aus der Küche

Soziologie der kleinen Dinge

AutorTilman Allert
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783104902142
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Nach dem großen Erfolg von »Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge« legt Tilman Allert nun den Nachfolgeband »Gruß aus der Küche« vor: Luftige Feuilletons über Lipgloss, den Knieschlitz in der Jeans, dunkle Brillen und den Dutt beim Manne, über Bemerkungen wie »genau« oder »lecker«, über den neuen Thermomix, die Tanzstunde, den Abschied vom Abschied oder jüdischen Humor - Tilman Allert gelingt es spielend und mit leichter Hand, aus den kleinen Dingen des Alltags deren gesellschaftliche Bedeutung prägnant zu destillieren. So muss Soziologie sein.

Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Er schreibt regelmäßig u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung«, »Brand Eins« und »Die Welt«.

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Leseprobe

1


Gruß aus der Küche – Die Entwicklung der deutschen Esskultur hat dank der Wertschätzung, die die gehobene Gastronomie genießt, einen stetigen Aufschwung genommen. Die Tendenz zur kulinarisch anspruchsvollen Küche ist unverkennbar. Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass die Prominenz der Kochkunst im Fernsehstudio ihre Geheimnisse unter die Zuschauer bringt, und angesichts der unübersehbaren Menge an Kochbüchern – von der Edelversion bis zu den Versionen für Leute mit knappem Geldbeutel – bedarf es keines weiteren Belegs dafür, dass die gute Küche zu einem Medium der Selbstdarstellung geworden ist. Wer sich in kulinarischer Hinsicht souverän und urteilssicher zu bewegen versteht, wer etwa bei Käse anderes als »Edamer« oder »Camembert« assoziiert, verzeichnet Distinktionsgewinne. Nach dem Motto »Sag mir, was Du isst, und ich sage Dir, wer du bist«, von Jean Anthelme Brillat-Savarin (17551826), einem der ersten Philosophen der Kochkunst, seiner »Physiologie des Geschmacks« vorangestellt, ist das Essen statusbedeutsam geworden. Dass im Lande eine erfreuliche gastronomische Sensibilität entstanden ist, hat mit der Ausbreitung der internationalen Küche in den Restaurants der Städte zu tun, Connaisseurs scheuen selbst lange Wege nicht zu guten Adressen auf dem Land, von denen es reichlich gibt. Der herausfordernde Kontrast zur gewohnten Speisekarte – zu Hühner-Frikassee und Rindsroulade – durch den kulinarischen Transfer der Einwanderermilieus, hat die deutsche Küche unter Zugzwang gesetzt und Fahrt aufnehmen lassen. Sie bemüht sich darum, das Angebot zu raffinieren und geschmacklich zu verfeinern, mit der Betonung der Regionalküche als dem derzeitig vorherrschenden Nonplusultra, allenfalls gebremst durch die Ernährungsvorschriften und Diätethiken, die der Gesundheitskult anmahnt.

Aber die kulinarischen Feinheiten sind nur die eine Seite des Geschehens. Parallel zur entstehenden Vielfalt der Menüs ist eine Entwicklung im Kommunikationsraum des Essens zu verzeichnen. Die Werte, nach denen Menschen in der Tischgeselligkeit zusammenkommen, sind um eine weitere Dimension bereichert worden, und das zeigt sich an der Rhetorik bei Tisch, an episodischen sprachlichen Wendungen, mit denen der Service das Eindecken und das Ausheben der Teller begleitet. Den Verzierungen einer Melodie vergleichbar, schmücken sie die kulinarische Abfolge, die der Gast nach seiner Bestellung erwarten darf. Im Unterschied zum geradezu klassischen Wunsch »Wohl bekommt’s« oder »Ich wünsche guten Appetit« wird der Gast unserer Zeit sich nicht mehr groß darüber wundern, wenn der Kellner mit einem »Viel Vergnügen« den Teller serviert bzw. seine Erläuterungen zum Gericht beschließt. Diesen rhetorischen Details liegt ein bemerkenswerter Wechsel in den Einstellungen und Werten zum Essen zugrunde. In dem Maße, in dem die Gäste in kulinarischer Hinsicht kundiger und entsprechend anspruchsvoll geworden sind, entwickeln sie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die kommunikative Rahmung des Servierens. Als zeremonieller Höhepunkt des Restaurantbesuchs wird der Auftritt des Küchenchefs begrüßt, ein Schulterschluss mit dem kulinarischen Star, der gern fotografiert wird, ja dessen Präsenz am eigenen Tisch von Gästen, unter dem Vorwand irgendeiner Mäkelei, gelegentlich sogar erzwungen wird.

Aber nicht nur der Küchenchef als Held, sondern auch dessen Stellvertreter am Tisch geben die lange Zeit übliche Zurückhaltung auf. Die flüchtig-scheue Geste beim Eindecken und Ausheben der Gänge, hastig-beflissen kommentiert oder beim Hantieren in mimischem Minimalprogramm zum Ausdruck gebracht, offenbart eine erstaunliche Entwicklung unserer Esskultur. Einem Gast das Menu wortlos aufzutischen, gilt wohl in allen Häusern als Norm- und Stilbruch, es käme einem Affront gleich, unbeholfen, ein Buster Keaton lieferte das Vorbild. Nimmt man diese gedankenexperimentell entworfene, gespenstische Karikatur eines stummen Auftritts als einen absurden Grenzfall zu Hilfe, lassen sich so üblich gewordene rhetorische Figuren beim Erscheinen des Service bei Tisch in ihrer Sinnstruktur verfolgen? Gehen wir einfach empirisch vor und beginnen mit dem »Gruß aus der Küche«. Eine Standardformel, die landauf, landab bemüht wird und in den meisten Häusern als eine Geste des Entgegenkommens eingeführt ist, nachdem die Bestellung aufgenommen wurde. Sie erfüllt dabei eine Reihe von Funktionen: Sie hilft zunächst dem Gast, die Zeit des Wartens zu überbrücken, soll ihn damit versöhnen, dass sein Anspruch auf ein zügiges Einlösen seines Wunsches mit den Wünschen anderer Gäste zu teilen ist. Schließlich, und darin liegt vermutlich die wichtigste Botschaft des »Grußes aus der Küche«, soll der Gast dem kulinarischen Genuss, auf den er seit der Aufnahme der Bestellung mental und affektiv eingestellt ist, mit gesteigertem Appetit begegnen. Zwei kontrastierende Seelenlagen, die der Anwesenheit des Gastes zugrunde liegen können, werden mit dem »Gruß aus der Küche« unzweideutig zugunsten des Appetits markiert. Auf das kleinste Format portioniert, in Gedecken serviert, die ans Puppenstubenspiel erinnern, sättigt der »Gruß« nicht etwa – vielmehr steigert er die Erwartung, eine Art ferngesteuerte Appetenz, in die der Gast versetzt wird. Eine nicht unwichtige Lesart dieser kulinarischen Visitenkarte erschließt sich über den Blick auf die Rechnung. Als Posten taucht der Gruß dort nicht auf, ein deutliches Zeichen dafür, dass er symbolisch als ein Geschenk zu verstehen ist. Ein Geschenk überdies, das unabhängig vom Geldbeutel des Gastes überreicht wird – egal, ob jemand knauserig ist oder nicht. Dieses letzte Detail ist für das Verständnis der Kommunikationsbedeutung von Belang und wird uns sogleich genauer beschäftigen.

Geschenke lassen sich nicht erwarten, insofern haftet dem Gruß als Geschenk etwas Überraschendes an. Es spielt keine Rolle, dass in einem Restaurant an alle Gäste der Gruß aus der Küche verteilt wird. An jedem einzelnen Tisch, auf jedem Teller, erscheint er als kleine Überraschung.

Die Alltag gewordene Routine bringt zum Verschwinden, dass wir es mit einer komplexen Situation des Übergangs zu tun haben, eingebrockt durch die immanenten Formgesetze des Grüßens. Es verpflichtet von seiner Kommunikationslogik her eigentlich zum Gegengruß. Es sei hier dahingestellt, welche Möglichkeiten dem Gast offenstehen, auf den Gruß zu reagieren, minimal ist natürlich der Dank abverlangt. Aber entsteht für den Service eine Verpflichtung, sich nach der Resonanz auf den Gruß aus der Küche zu erkundigen? Oder belässt man es angesichts des kulinarischen Minimalismus bei einem wortlosen Aufheben der Teller, zumal ja erst anschließend das vom Gast bestellte Menu beginnt? Mittlerweile ist in vielen Häusern die Floskel verbreitet: »Sind Sie gut gestartet?« – eine Frage, die besonders während des Abräumens des ersten Gangs beliebt ist. Das »Starten« verweist auf ein Ziel; die Abfolge des Essens und damit die Präsenz des Gastes im Restaurant werden in eine Symbolik eingefügt, die den kulinarischen Genuss als eine Leistungsstrecke erscheinen lässt, die es abzuarbeiten gilt. Zu einem solchen Bild zu greifen, liegt zwar dadurch nahe, dass ja in der Tat die Gänge aufeinander folgen, in den meisten Küchen der Welt sogar in einer Geschmackssequenz von salzig bis süß ausdrücklich markiert. Auch die Bezeichnung »Gang« verweist auf die Logik einer Reihenfolge. Auf die Frage, ob der »Start« gelungen sei, wird niemand schreiend davonstürzen. Dennoch irritiert die Stilnuance, nach der das Essen, der Genuss als ein Programm mit Start und Ziel erscheint, in assoziativer Nähe zu Tempodruck und Anstrengung; Empfindungen, die nicht gerade auf der Linie des Wohlbefindens liegen, ja ihm im Kern widersprechen und somit als eine Usurpation erscheinen mögen, als ein Fremdzugriff auf die eigenbestimmte Wahrnehmung der Situation.

Die Formel »Viel Vergnügen«, bevorzugt eingesetzt, wenn der Gast komplexe kulinarische Arrangements auf dem Teller hat, enthüllt einen dramatischen Wandel der Einstellung zum Essen. Hält man – in Erinnerung an alte Zeiten – die Alternative »Wohl bekommt’s« dagegen, der rhetorische Klassiker, dessen Ruhm nur noch übertroffen wird vom vertrauten »Lassen Sie sich es schmecken« oder »Ich wünsche einen guten Appetit«, so fällt auf, dass mit dem Vergnügen eine neue Dimension angesprochen wird. Verständlich, dass der Aspekt der Sättigung vollkommen getilgt ist, würde er angesprochen, käme dies einer Disqualifikation des Gastes, aber auch der professionalisierten Kochkunst gleich, die sich schließlich nicht auf Fütterung, sondern auf das Arrangement von Texturen, auf aromatische Abenteuer spezialisiert hat. Aber sogar der Appetit rückt in den Hintergrund und macht der Ermunterung Platz, das Essen als ein Amüsement zu begreifen, als sei es ein Theaterstück, ein Film, dem man beiwohnt. Event-Kultur, zeitgenössischer Kitsch, Firlefanz? Nein, mit einem derartigen Wunsch weitet sich der Raum des Gelingens und des Genusses auf einen Bereich aus, in dem nicht nur die Bekömmlichkeit, sondern das Aussehen, die Farbgebung, das Arrangement auf dem Teller, die geschmackliche Kombinatorik der Speisen, ja, deren Konsistenz und damit die Herausforderung an das Kauen, Zerkleinern, Vermischen zu Kriterien aufgewertet werden. Hüten wir uns also vor dem kulturkritischen Aufschrei, sondern halten hier nur fest, dass dem Essen in der modernen Gesellschaft eine Vielfalt von Genussdimensionen zugesprochen wird. Sie tauchen in den kleinen Gesten bei Tisch – als unbemerkter Wandel der...

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