1 Der verborgene Saal
Eines Nachmittags verstand ich Frankreich. Ich war etwa dreizehn Jahre alt, langweilte mich und streifte durch den Jardin Public, einen kleinen Park in Bordeaux, der Stadt meiner Großeltern. Damals arbeiteten beide noch, beide im Schuldienst, und wenn ich zu Besuch war, hatte ich die Stunden zwischen Mittag- und Abendessen zur freien Verfügung.
Ich entdeckte im hinteren Teil des Parks eine Villa, in der ein naturhistorisches Museum untergebracht war. Ich hatte es noch nie bemerkt und entschloss mich, hineinzugehen. Das Museum, eines der ältesten seiner Art in Frankreich, war nicht sehr groß, aber wohlgeordnet. Es besteht noch heute und beherbergt die Sammlungen von bürgerlichen Aufklärern, die gleich nach der französischen Revolution die Herrschaft der Wissenschaft über die Dinge des Lebens dokumentieren wollten. Bordeaux war vor der Versandung der Gironde ein bedeutender Hafen, dort kamen fremde und staunenswerte Tiere, Mineralien und Fossilien an, viele davon wurden zu wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken aufbereitet. Wissenschaftliche Aufbruchsstimmung und merkantile Weltgeltung lagen der Konzeption des Museums zugrunde. Die Zeit war über beides hinweggegangen, aber man konnte den leicht autoritären Ordnungssinn und den Forschungsoptimismus noch spüren.
Das Museum erzählte die Evolutionsgeschichte als Triumph der rationalen Klassifizierung. Jedes Lebewesen hatte seine Bezeichnung, seinen exakten Platz in der Ordnung der Arten. Fossile, Knochen, Eierschalen, dann jede Menge präparierte Tierhüllen. Erst mit Gefieder, dann mit Pelz und Leder. Es ging in der Geschichte der Natur wie in jener der Menschen: vorwärts und aufwärts.
Viel war an jenem Nachmittag nicht los. Durch die langen Reihen der Glaskästen und Regale konnte man ein paar Besucher sehen, die ein uniformierter Wachmann im müden Blick behielt. Er trug eine Schirmmütze, wie der Museumswächter im Tim-und-Struppi-Klassiker »Der Arumbaya-Fetisch«. Plötzlich erhob er seine Stimme und rief uns alle zusammen. Es seien ja heute so wenige hier – da könne er uns mal etwas zeigen. Eine kleine Gruppe versammelte sich und folgte dem Wachmann bis zu einer verborgenen, durch kein Schild ausgewiesenen Tür. Er öffnete sie und lud uns ein, ihm in einen kleinen Raum zu folgen. Der war hell und – worauf er uns sogleich hinwies – oval, genau wie das Arbeitszimmer der amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus in Washington. Doch das war gar nicht das Besondere an diesem Zimmer. Das Besondere waren die Objekte auf den Regalen: Allesamt Missbildungen, Fehlkonstruktionen und seltene Varianten der Natur. Da war ein Kalb mit zwei Köpfen und eine Ziege mit sechs Beinen. In dickem Glas schwammen zwei menschliche Föten, die zusammengewachsen waren. Man sah ungestalte Körper jedweder Gattung, weiß und friedlich in Aufbewahrungsflüssigkeiten schwimmend. Zu ihnen gab es keine erklärenden Zettel und keine Klassifikationsübersicht mehr, der ganze Saal war ja normalerweise nicht für Besucher geöffnet. Es waren paradoxe Monster, die man sammelt und studiert, aber nicht vorzeigt. Auf deren Existenz in den so wohlgeordneten, so durch und durch logischen Räumen nichts hinweist. Außer, ein Wachmann kommt auf die Idee, eine Tapetentür zu öffnen. Und zum ersten Mal überhaupt hatte ich an jenem Abend keinen Appetit.
So ist Frankreich: Eine lichtdurchflutete, geordnete Welt, von der eine logische, ja zwingende Geschichte erzählt. Aber es gibt immer noch eine andere Version, eine Kammer, zu der man Zutritt hat oder eben nicht. Und weil das schon seit vielen Jahrhunderten so ist, plagt und durchspukt die Vorstellung von der verborgenen Ordnung, von schwarzen Kabinetten, geheimen Machtstrukturen und ungenannten Namen die öffentliche wie die private Vorstellungskraft.
Wenn hier vom geheimen Frankreich die Rede ist, dann nicht im Sinne eines Reiseführers für Eingeweihte, in dem unbekannte Ziele und Rituale offenbart werden. Es geht vielmehr um jene Aspekte der französischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft, die schwerer zu fassen sind auf Urlaubsreisen oder in der aktuellen politischen Berichterstattung. Um die Gewohnheiten und Besonderheiten, die auch von den Franzosen nicht thematisiert werden, so selbstverständlich sind sie ihnen. Oft genug kommen sie gar nicht auf die Idee, dass es woanders anders sein könnte.
Heute sehe ich in der kultivierten Diskretion vor allem eine Manifestation der Freiheit. Es geht gar nicht so um den Schutz konkreter Geheimnisse oder die Durchsetzung exorbitanter Ansprüche als vielmehr darum, einen Beweis zu erbringen, dass dem Einzelnen immer möglich ist, sich durch Einfallsreichtum und den entscheidenden Trick 17 einen Vorteil zu erwirken, der die eigene Unverwechselbarkeit, die eigene Identität ausmacht, wie ein Fingerabdruck. Dass die Gleichheit und die Brüderlichkeit zwar das soziale Leben bestimmen sollen, aber dass es doch der erste Grundsatz der französischen Revolution, dass es die Freiheit ist, die das Leben des Menschen auf Erden eigentlich erst lebenswert macht. Das macht Frankreich so kompliziert. Man sieht nie das ganze Bild.
Lange Zeit war das kein Problem – schließlich lernen kleine Franzosen diese kulturellen und kommunikativen Besonderheiten zuhause und in der Schule. Aber in dem Maße, in dem auch Frankreich mit anderen Ländern kooperieren muss und Menschen aus ganz anderen Familien darauf angewiesen sind, in Frankreich und mit Franzosen zurechtzukommen, wird es diffizil.
Unsere Nationalstaaten sind geschrumpft, auch wenn es unsere Nationalpolitiker nicht gerne zugeben, auch wenn die nationalen Medien nach wie vor so tun, als sei der Regierungschef genau ihres Landes ein politisch-diplomatischer Superstar. Wahr ist, dass die diversen europäischen Premiers und Präsidenten sich auf der Bühne der Welt verlaufen und von einem immer größer werdenden Publikum nicht mehr zu erkennen sind. Unvergessen ist mir, wie bei einem von der ganzen Welt besuchten Klimagipfel plötzlich Nicolas Sarkozy aus einem Besprechungszimmer trat und ein Fotograf hinter mir seine Kollegen fragte, wer das sei? Etwa der Bürgermeister von Kopenhagen?
In Frankreich wäre das nicht passiert – da war Sarkozy weltbekannt, über Jahre nahezu täglich im Fernsehen. Aber kaum überschreitet man die Ländergrenzen, verschwimmen die Verhältnisse und man sieht wie durch Milchglasscheiben. Obwohl man die Lichtverhältnisse wahrnimmt und die Silhouetten ahnt, wird es doch schwer zu erkennen, was nebenan vor sich geht.
Das wird aber immer wichtiger. Erst zusammen mit Frankreich wird Deutschland eine wahrnehmbare Größe, in Europa und in der Welt. Nur diese beiden Länder zusammen ergeben eine interessante Einheit, erzählen in ihrer singulären historischen Partnerschaft eine weltweit inspirierende Geschichte. Aber noch ist sie nicht vollendet. Es ist keine Prophezeiungskraft vonnöten: Wenn sich Deutschland und Frankreich entwickeln oder auch nur behaupten wollen, sind sie aufeinander angewiesen. Und dann ist es heute ratsam, Schülerinnen und Schüler so auszubilden, dass sie zumindest eine Ahnung von Vertrautheit mit dem Nachbarland haben.
Wie oft habe ich diese soziale Standardsituation erlebt: Ein Mann meines Alters hat Karriere gemacht, sei es in der Politik, den Medien oder der Industrie, und hegt nun weitere Ambitionen. Ist er Franzose, muss er sich mit Deutschland auskennen, mit seinen deutschen Kollegen arbeiten, ist er Deutscher, dann wird sein französischer Konterpart der wichtigste Mensch in seinem Berufsleben. Dann fällt, in diesen oder ähnlichen Worten, der Satz, dass sie den anderen nun öfter sehen als den Ehepartner und wünschten, etwas besser auf diese Situation vorbereitet worden zu sein.
Der große französische Romancier Patrick Modiano, der 2014 den Literaturnobelpreis erhielt, hat sein ganzes Werk der Darstellung dieser Zwischenreiche, der Beschreibung des Zweifels und der taktischen Vagheit gewidmet. In seinen Büchern, die oft aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen geschrieben sind, haben die Erwachsenen wechselnde Identitäten, ziehen oft um und gehen Beschäftigungen nach, die sie nicht erklären können. Modiano beschreibt die Jahre zwischen deutscher Besatzung, Kriegsende und Algerienkrieg – eine für Frankreich prägende Epoche, in der sich die Leute angewöhnt haben, nicht nach Papieren, nicht nach den wahren Namen zu fragen, sondern sich geschickt oder verzweifelt mit Spitznamen und Legenden zufrieden gaben. Und dann ergeben sich, in seinen Romanen, Momente der Wahrheit, wie jener in dem ovalen Zimmer: Erwachsene werden festgenommen oder verschwinden eilig, mitten in der Nacht: Der Junge hört das Geräusch eines abfahrenden Autos und schließt daraus, dass er von nun an alleine im Haus ist.
Ist es verwunderlich, dass sich die kulturhistorisch bedeutenden Arbeiten französischer Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Dekonstruktion von Diskursen beschäftigten? Mit der Gewalt der Klassifizierung, Benennung und Aufteilung? Mit den Strategien der Reproduktion, die sicherstellen, dass das Geheime auch so bleibt und alle wissen, dass eine solche Sphäre existiert? Seit den fünfziger Jahren hat Paris eine Epidemie des Genialen erlebt: Derrida, Barthes, Foucault, Deleuze und Bourdieu – ihnen war gemein, nach dem zu suchen, was der Diskurs verbirgt. Das französische Schulsystem huldigt ja auch dem Kult der perfekten Präsentation, der Fehlerfreiheit und Exzellenz. Deshalb bemühte sich beispielsweise Pierre Bourdieu, Situationen zu schaffen, in denen gerade die strukturellen Fehler und Probleme einer akademischen Arbeit...