Im Zentrum des Bebens – warum gut ist, was geschieht
Irgendwann im Laufe des Jahres 2015 wurde hierzulande die Formulierung populär, die politische Welt sei »aus den Fugen«. Das hatte zu tun mit der russischen Annexion der Krim, mit der andauernden, ungeklärten Eurokrise, mit dem schrecklichen Krieg in Syrien, mit zahlreichen grausamen Terroranschlägen, die in Europa und im Nahen Osten vom IS verübt oder reklamiert wurden.
Und dann kamen noch die Flüchtlinge in großer Zahl.
Lange spielten sich die tiefen Konflikte, die Kriege und die Krisen nur außerhalb von Deutschland ab, doch das Jahr 2015 brachte eine Wende, der Aggregatzustand des Landes änderte sich, fortan bekam das Lebensgefühl etwas Banges, auch etwas Aufgekratztes.
Ich selbst spürte den Unterschied besonders deutlich bei einem Besuch in Tel Aviv. Israelische Freunde hatten zum Abendessen eingeladen, alles war laut und fröhlich, bis dann die Sprache unweigerlich auf die Lage in Israel kam. Es hatte Anschläge gegeben und Messerattacken, eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern rückte in immer weitere Ferne. Hinzu kam – für meine säkularen Freunde ein besonderes Ärgernis – die weitere Radikalisierung der ultraorthodoxen Juden und damit der innenpolitische Fundamentalismus. Irgendwann stellte ich die Frage, die ich schon oft gestellt hatte in diesem Land:
»Wie haltet ihr das bloß aus?«
Die Antwort kam prompt und mit einem spöttischen Lächeln: »Und ihr so?«
Ja, und wir so?
Damals, Mitte 2015, hatte diese Replik noch eine ironische Note, schließlich ließ es sich in Deutschland nach wie vor sehr gut leben, man war, jedenfalls im Vergleich zu Israel und Palästina, ziemlich sicher.
Aus heutiger Sicht bleibt einem die Ironie dann eher im Halse stecken. Denn das Jahr 2016 hatte noch einmal einen Schub an Verunsicherung gebracht, wie ihn wohl niemand für möglich gehalten hätte. Der Brexit, Donald Trumps Wahlsieg und sein erratisch-autoritäres Regieren, überhaupt der internationale Aufmarsch der Autoritären, das geht schon an die politisch-seelische Substanz der Menschen im Westen – jenem Westen, den es überdies in ein, zwei Jahren womöglich gar nicht mehr gibt, man weiß es nicht genau. Und was ist, nebenbei gefragt, mit der nuklearen Sicherheitsgarantie der NATO? Wird Europa von einem Trump-Amerika noch geschützt?
Das sind mittlerweile die Fragen, unerhörte, verstörende Fragen.
Ein weiteres Mal noch musste ich mich danach bei meiner Irritation irritieren lassen. Ein aus dem Libanon stammender Freund zuckte nur mit den Schultern, als ich ihm etwas atemlos beschrieb, wie sehr unsere Welt neuerdings aus den Fugen sei. »Unsere Welt war schon immer aus den Fugen«, gab er zurück.
Ja, so kann man es sehen. Der Gedanke lässt sich – zumindest aus der Sicht eines Arabers – sogar noch böser fassen: Das Chaos, das vom Westen überall auf der Welt geschaffen wurde, kehrt nun zu euch heim.
Gegen diese Sichtweise lässt sich manches einwenden, etwa dass vieles vom Chaos im Mittleren Osten auch hausgemacht ist, ja dass die Ausrede, der Westen sei schuld, zu den wichtigsten Ursachen arabischer oder islamischer Fehlentwicklung gehört.
Eigentlich jedoch verfehlt der libanesische Freund aus einem anderen Grunde den springenden Punkt. Nicht nur der Westen und der Mittlere Osten sind aus den Fugen, vielerorts auf der Welt scheinen, wie auf Kommando, gleichzeitig die Ordnungen zu wanken. Auch die westöstliche Türkei beispielsweise hat sich destabilisiert. Und im Afrika der Subsahara mag es widersprüchliche Tendenzen geben, unterm Strich wächst jedoch auch dort die Unsicherheit, nicht zuletzt deswegen erlebt die Welt jetzt die größten Fluchtbewegungen ihrer Geschichte.
In Ostasien hat derweil ein Kampf der Nationalismen begonnen, von dem man nicht weiß, wo er endet. Die Philippiner haben einen Mann zum Präsidenten gemacht, der mit dem Wort »durchgeknallt« noch freundlich umschrieben ist. Und natürlich dreht in einem solchen Umfeld auch der junge nordkoreanische Diktator Kim Yong Un, dessen ganzes politisches Kapital sich in der eigenen nuklear bewaffneten Unberechenbarkeit erschöpft, kräftig mit an der Irrsinnsschraube. Man will schließlich weiterhin auffallen als kleiner Teilstaat in einer großen, rasenden Welt.
Und Lateinamerika? Brasilien, Mexiko, Venezuela? Eben.
Nein, es handelt sich durchaus um ein globales Phänomen, nennen wir es vorerst: das Wüten der Welt.
Aber warum bloß? Natürlich sind sogleich Dutzende von Erklärungen zur Hand. Die Globalisierung, der Kampf der Kulturen, die wachsende Ungleichheit, der Hunger, die Arbeitslosigkeit. Manche lehnen sich in erkennbarer Abwehr der eigenen Verunsicherung tief zurück im Ledersessel der Geschichte, es habe doch seit alters her immer wieder Phasen von Stabilität und Instabilität gegeben, verkünden sie Pfeife paffend. Ja, das kann schon sein. Die letzte »Phase der Instabilität« indes ergab zwei Weltkriege, sie brachte Verwüstung, unendliches Leid, zig Millionen Tote und den Holocaust mit sich. Wenn es sich also tatsächlich um die »normalen« Rhythmen der Geschichte handeln sollte, dann wäre jetzt allerdings der Moment für den Aufstand gegen diese Rhythmen gekommen.
Doch ganz abgesehen davon, dass aus dem Ledersessel der Geschichte schnell ein Schleudersitz werden kann – solcherlei geschichtsphilosophische Betrachtungen erklären in Wahrheit nichts, sie kleben nur einen Namen auf die Ereignisse. Was allerdings auch für die anderen genannten Ursachen gilt. Vor allem für jene, die einen materiellen Niedergang für die subjektive Wut verantwortlich machen. Denn den Afrikanern beispielsweise geht es neuerdings besser, sie hungern seltener, sie sind besser ausgebildet und weniger krank als vor Jahren. Noch spektakulärer sind die Fortschritte in Asien, wo gleichwohl der Nationalismus immer aggressiver wird, wo die religiöse Intoleranz – siehe Indien – genauso schnell zunimmt wie das Bruttoinlandsprodukt. In den USA hat eine relative Mehrheit zu einem Zeitpunkt die Wut ins Weiße Haus gewählt, als die Arbeitslosigkeit sank und die Löhne endlich wieder anzogen. Und beim Brexit haben viele durchaus mit vollem Bewusstsein gegen ihre mutmaßlichen ökonomischen Interessen abgestimmt.
Nein, die ökonomischen Entwicklungen sind in den verschiedenen Ländern einerseits zu unterschiedlich und andererseits unterm Strich zu positiv, um das weltweite Phänomen der Wut damit erklären zu können. Selbst die umfassende Verunsicherung durch die Globalisierung vermag nicht plausibel zu machen, warum nun allenthalben Menschen – Männer – an die Macht kommen, die mit ihrer wilden Politik nur noch mehr Verunsicherung schaffen.
Die Antwort auf die Frage nach dem Warum sprang mich im Sommer 2016 an. Um Urlaub zu machen und aus Neugier auf den amerikanischen Wandel reiste ich mit meiner Freundin für fünf Wochen durch die USA. Florida, Washington, New York, Massachusetts, New Hampshire, Maine. Ich habe dabei viel gelernt über Trump- und Sanders-Wähler, über die amerikanische Zerknirschung, über ultra-aggressives Autodesign und über die zunehmend verzweifelte Selbstheroisierung der Amerikaner.
Die Wut der Welt begegnete mir an einem Sommerabend in Manhattan, Upper Eastside. In einer Stadt, in der man alles machen kann, ist das, was man dann macht, zuweilen etwas willkürlich. An diesem Abend war es nach einiger Sucherei im Netz schließlich Slam-Poetry. Trotz Reservierung mussten wir lange in der Schlange stehen; Zeit, das Publikum zu beobachten. Vor uns ein offenbar chinesischstämmiger Junge, den ich in Zeiten, da mit Adjektiven noch etwas laxer umgegangen wurde, als »dick« bezeichnet hätte. Hinter uns ein dünner junger Mann, ebenfalls asiatisch aussehend. An der immer länger werdenden Schlange lief derweil unentwegt mit großen Schritten ein Latino entlang, der, so flüsterte mir mein Vorurteils-Ich ein, in schwierigen sozialen Verhältnissen zu leben schien, auch er allenfalls Mitte zwanzig. Ebenso die Frau, die später die Tickets überprüfte.
Nach dem Einlass in den hohen ziegelroten Saal dann die erste Blamage – für mich. Alle, über die ich innerlich ein bisschen gelästert hatte, waren: Poeten. Und was für welche!
Zuerst trat der beleibte Chinese auf und slamte sich die Seele aus dem Leib. Er erzählte dabei so intensiv von seiner Rolle als Migrantenkind, von seinen Drogenproblemen und dem überforderten Elternhaus, dass es mich rührte. Und verstörte.
Dann der lange dünne Chinese. Er sprach schnell, der erste Satz, der bei mir hängen blieb, hieß: »Michelle Obama is not my mother.« »Ich wache nicht jeden Morgen in einem Haus auf, das von Sklaven gebaut wurde.« Damit griff er eine Formulierung der damaligen First Lady auf – und an –, die diese zu der Zeit häufig verwendete, um die Seltsamkeit ihres Daseins im Weißen Haus zu beschreiben, aber auch den Triumph, den das für eine Afroamerikanerin wie sie bedeutet. Genau in diese Opfer- und Erfolgsgeschichte wollte und konnte der junge Mann hier nicht einsteigen. Er sei Chinese, man erwarte von ihm, dass er gefälligst fleißig sei. Und gut in Mathe. »But I am not good at math«, schrie er mehr, als er es sagte.
Das alles trug er mit einer ungeheuren Kraft vor und mit einer poetischen Versiertheit, bei der man sich fragen konnte, wo er das mit seinen vielleicht 17 Jahren herhatte. Der Saal tobte, als er völlig verausgabt zum Ende kam.
Es folgte der Latino mit den großen...