Vorwort des Herausgebers
Peter Gautschi trägt mit seiner Dissertation, wie er es zuvor bereits mit anderen Werken getan hat, Entscheidendes zur geschichtsdidaktischen Grundlagendiskussion bei und leistet damit einen substantiellen Beitrag zur Weiterentwicklung der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik als wissenschaftlicher Disziplin der fachdidaktischen Tatsachenforschung.
Seit den 1970er Jahren hat sich die Geschichtsdidaktik von ihrem früheren Verständnis als Methodenlehre für den Geschichtsunterricht entfernt. Sie ist im Gefüge der Geschichtswissenschaft neben Geschichtsforschung und Historik diejenige Disziplin geworden, die sich mit Geschichtsbewusstsein als dem Zustand, der Funktion und der Veränderung historischer Vorstellungen im Denken und Lernen der Menschen beschäftigt. Aus dieser veränderten Ausrichtung resultieren auch neue Ansprüche unterrichtlicher Anstrengungen. Es geht nicht mehr darum, vorgegebene normative Anweisungen und vermeintlich unbezweifelbares fachliches Wissen abbildhaft möglichst effizient in die Köpfe der Lernenden zu transportieren. Vielmehr soll Geschichtslernen zugleich die mitgebrachten Vorstellungen der Lernenden berücksichtigen und die Ausdifferenzierung eines rationalen und humanen Geschichtsbewusstseins ermöglichen und befördern. All dies sollte nicht auf Spekulationen, sondern auf soliden empirischen Erkenntnissen beruhen.
Im Rückblick ist nicht zu übersehen, dass sich das Fach im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zwar theoretisch erheblich erneuerte, jedoch kaum in unterrichtsmethodischer Hinsicht. Während sich eine ernstzunehmende Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin etablierte, welcher freilich gelegentlich Theorieverliebtheit und Praxisferne vorgehalten wurden, mussten sich Vorhaben der Unterrichtspraxis weiterhin auf überwiegend biedere geschichtsmethodische Ratgeber beziehen. Diese orientierten sich oft an überkommenen und überholten didaktischen Voraussetzungen. Frische Ideen brachten neue praxisorientierte Fachzeitschriften und Anregungen aus der allgemeinen Didaktik. Die Übernahme solcher „Unterrichtsrezepte“ geschah aber oft unreflektiert und rein praxeologisch. Es ergab sich lange keine plausible Synthese, so dass noch 1999 das Fehlen einer adäquaten, systematisch und empirisch abgesicherten Geschichtsmethodik beklagt wurde.
Genau in diese Lücke der Verständigungsdefizite zwischen den oft komplexen und komplizierten Theorien der Geschichtsdidaktik und den Anforderungen der Praxis historischen Lehrens und Lernens traf im gleichen Jahr Peter Gautschis didaktisch-methodische Handreichung „Geschichte lehren“ mit einem fachdidaktisch begründeten Angebot fachspezifischer Lernwege und Lernsituationen. Diese zugleich theoretisch fundierte und auf praktische Umsetzbarkeit zielende Konzeption erhielt die Auszeichnung „Worlddidac Award 2000“ und wurde inzwischen in mehreren Auflagen zum Standardwerk in allen Phasen der Geschichtslehrerausbildung. Auf der dort entworfenen Grundlage beruhen auch Konzeption und Realisierung von Geschichtslehrwerken, an denen Peter Gautschi federführend beteiligt war und deren Innovationspotenzial über die Schweiz hinaus hohes Ansehen gewonnen hat.
In dem Maße, wie sich die Geschichtsdidaktik im Rahmen ihrer disziplinären Profilbildung weitere Betätigungsfelder erschließt, etwa die Beteiligung an den Diskussionen um Geschichtskultur oder an den Debatten um bildungspolitisch verordnete Standardisierung, droht der zentrale Gegenstand und elementare Bereich, der eigentliche Kern geschichtsdidaktischer Forschungsarbeit sozusagen auf ein Nebengleis zu geraten: die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen. Angesichts dieser prekären Situation dürfte es kaum zu weit gegriffen sein, die vorliegende Arbeit wieder als Signal für eine entscheidende Weichenstellung zu bezeichnen. Denn Peter Gautschis Studie zeigt der Geschichtsdidaktik einen Weg zu einer Disziplin auf, die sich nicht um Deduktionen, sondern prinzipiell um die Beziehungen zwischen Theoriebildung und Praxis historischen Lernens in allen Formen und Stufen bemüht.
Der Blick auf den Geschichtsunterricht erfolgt hier nicht auf der Ebene der Postulate, Spekulationen und Wünschbarkeiten, sondern als empirische Erhebung und Analyse, als forschungsgestütztes Wissen über alltäglichen konkreten Geschichtsunterricht. Die Studie ist in den Strang empirischer Forschung einzuordnen, der innerhalb der letzten fünf Jahre in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik in größeren Kooperationsprojekten, Graduiertenkollegs, Fachtagungen, Monografien und Diskussionen in Fachzeitschriften einen deutlichen Aufschwung genommen hat. Peter Gautschis Arbeit wird als maßgeblicher und zugleich richtungweisender Beitrag im Rahmen einer empirisch-realistischen Wendung beachtet werden, die Heinrich Roth bereits 1955 für die geschichtsdidaktische Forschung eingefordert hatte. Die Diskussion ist auf allen Feldern zu erwarten, denen sich die einzelnen Kapitel der Studie widmen.
Zuerst und vor allem: Peter Gautschis Dissertation macht Lehrerinnen und Lehrern Mut. Es gibt guten Geschichtsunterricht, und guter Geschichtsunterricht ist unter realisierbaren Umständen möglich. Es gibt Schlüsselfaktoren, deren Beachtung es aufmerksamen Lehrpersonen ermöglicht, selbst guten Geschichtsunterricht zu erteilen. Gautschis Ergebnisse sind so ermutigend, weil sie Lehrkräfte bestärken, erreichbare Standards „guter“ Praxis anzustreben und sich nicht durch unerreichbare „Best-Practice“-Ansprüche demotivieren zu lassen.
Empirische Arbeiten haben es gewöhnlich an sich, vor allem auf Defizite hinzuweisen. Im Gegensatz dazu richtet Gautschi sein Augenmerk auf Gelungenes. Er fragt danach, ob es im Unterrichtsalltag Geschichtsstunden gibt, die aus den Perspektiven von Lernenden wie von Lehrenden und externen Expertinnen und Experten als „gut“ beurteilt werden, und ob die so identifizierten Stunden sich durch gemeinsame Merkmale oder Schlüsselfaktoren kennzeichnen lassen, die für andere Nutzer verallgemeinert werden können. Diese Fragestellung erscheint einfach, ist aber gerade deshalb besonders anspruchsvoll. In bester Tradition pädagogischer Tatsachenforschung nach der Art Hans Aeblis betreibt der Autor eine theoretisch fundierte und methodisch ausgefeilte Forschung. Sie greift Probleme der Praxis auf, um durch wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu ihrer praktischen Lösung beizutragen.
Allgemeindidaktik und Fachdidaktik können sinnvoll und fruchtbar aufeinander bezogen werden. Die Arbeit gibt einen Anstoß für die allgemeindidaktisch verbreitete, aber im Fach Geschichte noch rudimentäre Qualitätsdiskussion. Indem der Rahmen für „guten“ Geschichtsunterricht abgesteckt wird, entwickelt der Autor ein allgemein- und fachdidaktisch fundiertes Rahmenmodell für den Geschichtsunterricht, ein geschichtstheoretisch abgeleitetes neues Struktur- und Prozessmodell für historisches Lernen, ein darauf bezogenes Kompetenzmodell sowie ein Set von Gütekriterien für Unterrichtsbeobachtung und Beurteilung. Alle Instrumente dürften neue Anstöße für die Fachdiskussion bieten.
Wissenschaftliche Zusammenarbeit befördert individuell exzellente Forschung. Nur dank eines aufwändigen Kooperationsprojekts konnte der erstaunliche Datenbestand an videografierten Unterrichtslektionen samt zugehörigen Fragebögen von Lernenden und Lehrenden zu diesen Lektionen erhoben werden. Im Zentrum des methodisch vorbildlichen Vorgehens wird ein geradezu modellhaftes Forschungsdesign entfaltet. Im Rahmen dieses Arbeitsprogramms erarbeitet der Autor einen Ratingbogen, der wiederum hervorragend an die Items der Gütekriterien rückgebunden ist.
Lehr- und Lernprozesse, Lernergebnisse, Ursache- und Wirkungsmechanismen, experimentelle Intervention, Standorte und Denkweisen der Beteiligten sind unterschiedliche, sich wechselseitig bedingende Dimensionen eines komplexen Forschungsgegenstandes. Peter Gautschis Vorschlag zur Aufschlüsselung der Mehrdimensionalität durch pragmatisch differenzierende Forschungsrichtungen (Phänomen-, Ergebnis-, Wirkungs-, Interventionsforschung und Forschung zu historischem Denken und Lernen) dürfte sich als praktikables Instrument zur Gliederung der bislang noch vorfindlichen Unübersichtlichkeit empirischer Arbeiten in der Geschichtsdidaktik erweisen.
Mit der Triangulation wird in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik erstmals ein bisher lediglich geforderter Forschungszugang verwirklicht: die Kombination der Urteile verschiedener Beteiligter oder Beobachter aus unterschiedlichen Perspektiven. Das Verfahren ist beispielsweise in der Medizin und der Jurisprudenz längst gebräuchlich. Die Fachdiskussion wird sich angesichts deutlicher Ergebnisse zur empirischen Identifikation und Analyse gelungener Praxisfälle mit der Plausibilität dieses Vorgehens zu beschäftigen haben.
In der geschichtsdidaktischen Empirie kann es keine Ausschließlichkeit von quantitativen oder qualitativen Untersuchungen, von statistischen oder hermeneutischen Verfahren geben. Gerade die Zusammenschau ermöglicht es, gute Geschichtsstunden zu beschreiben und anhand der aus den Gütekriterien hergeleiteten Güteprofile valide zu beurteilen.
Die Bedeutung der Arbeit geht weit über ihren Beitrag zur nutzerorientierten Forschung über den Geschichtsunterricht als schulische...