Welten übereinanderlegen
April 2016
Wo fängt man ein Verstehen an?
Als ich Franziskus frage, ob er »Deine-Mutter-Witze« kennt, fragt er zurück, ob er schon einmal Witze über seine Mutter gemacht haben soll. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Also frage ich weiter.
»Schaust du Game of Thrones?«
»Kenne ich nicht.«
»Und Serien auf Netflix?«
»Wie?«
»Dem Streamingdienst. Du bezahlst ein paar Euro im Monat und kannst Tausende Serien und Filme sehen.«
»Keine Zeit.«
Man könnte jetzt sagen, es gibt Wichtigeres, was man einen Priester fragen müsste: Wer bin ich, wer sind wir, wo ist Gott, und wo war er eigentlich in Auschwitz. Mach ich auch noch. Aber nachdem mir bewusst wurde, dass ich tatsächlich ein Jahr mit einem katholischen Priester verbringen werde, es also wirklich noch katholische Priester gibt und sie in dieser Welt leben, wollte ich erst mal herausfinden, welche meiner Normalitäten denn auch für ihn normal sind. Ich stelle mir unsere beiden Lebensrealitäten als zwei Schablonen vor, die ich jetzt übereinanderlege, um zu sehen, wo es Überschneidungen gibt. Denn ich habe wirklich keine Ahnung, wie ein Priester lebt. Klar, wir haben in den vergangenen Jahren sonntagvormittags vermutlich nie das Gleiche gemacht. Doch sonst? Es hätte ja sein können, dass auch Priester jeden Abend Filme und Serien streamen, wie jeder. Dass nur keiner darüber spricht, weil es so selbstverständlich ist. Oder nicht? War völlig klar, dass sie es nicht tun – ob wegen fehlender Zeit oder der Gefahr plötzlich aufblitzender nackter Haut –, und nur ich weiß das nicht?
Ich habe mir vorgenommen, Franziskus wirklich alles zu fragen, vom ersten Gedanken morgens bis zum letzten abends, weil meine Selbstverständlichkeiten in Franziskus’ Leben ja nicht greifen. Dann dachte ich, vielleicht tun sie das ja doch. Und ich bin nur voller Vorurteile, weil der Mann einen weißen Plastikstreifen unter seinen Hemdkragen gesteckt hat.
Aber jetzt scheint er nicht einmal zu wissen, was ich meine, wenn ich »Deine-Mutter-Witze« sage.
Franziskus, groß, blond, schlank, glasklare blaue Augen, schaut über das Lenkrad seines Peugeot 1007 in die Landschaft Nordrhein-Westfalens. Er ist 38 Jahre alt, wirkt aber jünger. Auf seiner Nase sitzt eine beinahe rahmenlose Brille, vor seinem Kehlkopf steckt das kleine Stück weißes Plastik, wie man es aus Filmen kennt, das sogenannte Kollar. Es zu tragen ist keine Pflicht für Priester, Franziskus trägt es immer.
Wir sind unterwegs zu seinem Steuerberater, zwei Stunden Fahrt liegen vor uns, Zeit genug für ein bisschen Schablonieren der Welten. Am Rückspiegel zwischen Franziskus und mir baumelt ein Kreuz aus Holz, auf dem Zigarettenanzünder darunter klebt ein Bild von Maria und Jesus mit Heiligenschein. Im Handschuhfach liegen CDs, auf einer davon steht »Dein Reich komme«.
Eben, bevor wir losgefahren sind, hat Franziskus diese CD eingelegt und angefangen, laut mitzusingen. Für ihn war das ein Lobpreis. Für mich klang es nach Kelly Family und »Moonlight Shadow«. Ich habe aus dem Fenster geschaut und versucht zu wirken, als ob ständig Menschen, die ich kaum kenne, anfangen, neben mir zu singen.
Es waren auch Franziskus’ Gebete, die dazu führten, dass wir jetzt hier nebeneinandersitzen. Es ist ein paar Wochen her, dass das Zentrum für Berufungspastoral der katholischen Kirche ihn anrief und fragte, ob er Lust habe, bei dem Projekt »Valerie und der Priester« der zweite Part zu sein. So heißt der Blog, den ich während dieses Jahres schreibe. Die Idee dahinter: zwei Lebensrealitäten einander begegnen lassen. Die Lebensrealität derer, die die katholische Kirche für ein Antiquariat veralteter Ideen halten, und derer, die alles für Gott geben, weil ihnen der Glaube so viel gibt. Bevor Franziskus zusagte, bat er um Bedenkzeit. Bedenkzeit heißt Bet-Zeit. Er hat, so nennt er das, Gott befragt, um herauszufinden, ob er das wirklich tun soll: ein Jahr mit mir, einer Journalistin, einer Frau, verbringen. Gott hat zugestimmt. Mein Bauchgefühl war auch einverstanden. Jetzt ziehe ich jeden Monat für zwei Wochen von Berlin in ein kleines Hotel, eine Minute von Franziskus’ Pfarrhaus entfernt, eine Minute von der Kirche. Ich habe zugesagt, mich auf seine Welt einzulassen, die Welt der katholischen Kirche und des Glaubens. Und Franziskus hat zugesagt, sich nicht nur in seinen Job, sondern auch in sein Leben blicken zu lassen und all meine Fragen zu beantworten. Die jetzt am Anfang noch harmlos sind.
»Wie oft betest du am Tag?«
»Mindestens fünf Mal.«
»Wie oft schaust du aufs Smartphone?«
»Vielleicht alle 20 Minuten.«
»Ist das Verhältnis nicht etwas kritisch für einen Priester?«
»Ich kann ja auch geistliche Dinge mit dem Smartphone tun. Es ist ein Werkzeug im Alltag.«
»Was sind denn Alltagsgegenstände, die jeder Priester braucht?«
»Auto, Telefon, Computer. Gebetbuch …«
»Alltagsgegenstände!«
»Das Gebetbuch ist ein Alltagsgegenstand.«
»Hast du schon mal was kaputt gemacht, als du wütend warst?«
»Nein – manchmal muss ich die Wut schon auch rauslassen, das passiert aber höchstens ein, zwei Mal im Jahr. Dann knalle ich auch mal die Tür zu, stampfe auf oder haue auf den Tisch. Oder schreie, aber nur wenn niemand in der Nähe ist.«
Immerhin. Vor ein paar Tagen stand ich in der Kaffeeschlange beim Bäcker, und einer, der aussah, als mache er das öfter, drängelte sich vor. Ich bin kurz etwas ausgerastet, aber zum Glück nur innerlich. Danach habe ich mich gefragt, ob ein Priester wohl auch dazu fähig ist – zum geräuschlosen Drei-Minuten-Tobsuchtsanfall. Wie ich mich seit ein paar Wochen oft frage, was eigentlich ein Priester jetzt gerade tun oder denken würde.
»Was denkst du denn, wenn du liest, dass wieder Hunderte Menschen im Mittelmeer ertrunken sind?«
»Hoffentlich hört das bald auf.«
»Denkst du dann nicht an Gott?«
»Na, doch: Hoffentlich hört das bald auf, Gott. Immer wenn ich etwas mit Hoffnung sage, hat das einen Gottesbezug.«
»Wirst du da nicht wütend auf Gott?«
»Ich werde wütend auf die Menschheit. Gott ist daran nicht schuld.«
Gott ist nicht schuld? Wenn Gott der allmächtige Lenker der Welt ist, wieso soll er dann ausgerechnet mit diesen Toten nichts zu tun haben? Und das findet Franziskus nicht einmal erklärungsbedürftig? Ich verkneife mir eine Bemerkung. Diese Aussage ist nicht das Erste, was nicht in meine Lebenswelt-Schablone passt, seit ich vor vier Tagen in Roxel angekommen bin.
Roxel ist die Dorfidylle mit knapp 10 000 Einwohnern, in der Franziskus lebt und arbeitet und die sich Stadt nennt, weil sie zu Münster gehört. Franziskus wohnt in »Pastors Garten«. Das steht tatsächlich auf einem Schild vor seinem Haus; es meint aber das Seniorinnenheim nebenan, das auf demselben Gelände liegt. Pastors Garten ist genau, wie es klingt: gepflasterte Wege, grüne, geradlinige Hecken, zweistöckige rote Backsteinhäuser mit großen Glasfenstern. Keine Graffitis an der Wand, keine Zigarettenstummel auf dem Boden. Franziskus lebt im Pfarrhaus. Direkt daneben steht eine lebensgroße steinerne Marienfigur, die Jesus im Arm hält. Ich hätte es mir nicht besser ausdenken können.
Franziskus arbeitet für die Pfarrei St. Liudger. Zu der gehören neben Roxel die Münsteraner Ortsteile Albachten, Mecklenbeck und Aaseestadt. Die liegen ein paar Kilometer voneinander entfernt, Franziskus fährt mit dem Auto viel hin und her. Er ist der Kaplan der Gemeinde, das heißt eine Art Hilfspfarrer.
Als ich vor ein paar Tagen das erste Mal mit Franziskus die Kirche in Roxel betrat, stand ich plötzlich allein im Mittelgang und führte Selbstgespräche. Weil er einfach am Eingang stehen geblieben war, sich bekreuzigte und auf die Knie fiel. Zuerst wollte ich zurückgehen und es ihm nachmachen, als hätte ich nur kurz meine Manieren vergessen. In der Türkei habe ich in der Moschee ja auch ein Kopftuch umgelegt. Nicht auffallen auf fremdem Terrain. Dann fiel mir ein, dass das bescheuert wäre, schließlich hat das für mich keine Bedeutung, und man lernt schon in der Schule, dass man nicht alles nachmachen soll. Also ließ ich es bleiben. Franziskus stand eh schon wieder neben mir und beantwortete die Frage, als sei nichts gewesen.
Etwas Ähnliches ist mir auch am Mittagstisch mit Franziskus passiert. Ich erzählte gerade, dass ich Ketchup liebe und es für mich als Vegetarierin daher kein Problem sei, wenn es Fleischsoße gebe. Aber mein Redeschwall knallte unangenehm gegen Stille. Franziskus stand hinter seinem Stuhl und wartete geduldig. Ich stellte mich hinter meinen. Er sagte »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, dankte Gott für das Essen, den Tag, den Gast. Ich starrte auf die Salatschüssel, meine Zehen drückten sich gegen meine Schuhe, um das unangenehme Gefühl irgendwohin zu lenken. Er endete mit »Amen«, ich wünschte guten Appetit.
»Hast du ein Tattoo?«, frage ich im Auto.
»Nee.«
»Wenn du eins hättest, welches?«
»Ein Herz mit einem Kreuz vielleicht. Auf jeden Fall was Christliches.«
»Was ist das Highlight deiner Woche?«
»Jeden Morgen mit Freude aufzustehen und zu erwarten, was passiert.«
»Du willst mir sagen, du stehst jeden Morgen mit Freude auf?«
»Zumindest mit einer Erwartung. Aber die hat einen freudigen Charakter.«
»Wann hast du zuletzt gelogen?«
»Ich...