»Hinter eine Sache sehen«
Kindheit, Schule, Hitlerjugend
Es war eine typische Hamburger Aufsteigerfamilie, in die Helmut Heinrich Waldemar Schmidt am 23. Dezember 1918 als erstes Kind hineingeboren wurde. Der kleine Helmut erblickte in der Frauenklinik an der Finkenau 35 das Licht der Welt. Der Vater, Gustav Schmidt, hatte sich aus ganz einfachen Verhältnissen hochgearbeitet. Gustav Schmidt war am 18. April 1888 als unehelicher Sohn des deutsch-jüdischen Bankiers Ludwig Gumpel auf die Welt gekommen. Seine Mutter, Friederike Wenzel, arbeitete als Kellnerin im Altonaer Bahnhofsrestaurant. Wegen Diebstahls und Betrugs, wahrscheinlich Jugenddelikte aus Not, hatte sie eine dreimonatige Gefängnisstrafe verbüßt und galt als vorbestraft.
Die ledige Mutter hatte ihr Kind wenige Wochen nach der Geburt von dem ihr gut bekannten Ehepaar Johann Gustav und Katharina Schmidt, einer Arbeitskollegin, adoptieren lassen. Dessen Lebensverhältnisse waren ebenfalls ärmlich. Johann Gustav Schmidt schlug sich als Hausmeister, als ungelernter Arbeiter, schließlich als Straßenreiniger und Lagerarbeiter durch, seine Frau Katharina verdiente als »Buffetmamsell« dazu.
Der Adoptivsohn Gustav Schmidt zeigte schon als Volksschüler die für einen sozialen Aufsteiger typischen Eigenschaften: Fleiß, Intelligenz und Zielstrebigkeit. Seine Leistungen waren so gut, dass er nach der achten noch eine neunte Klasse für begabte Schüler, die sogenannte Selekta, besuchen konnte. Nach der Lehre in einer Anwaltskanzlei mit dem Berufsziel Bürovorsteher ermöglichte ihm ein vermögender Förderer, der vermutlich in diskretem Auftrag seines leiblichen Vaters Ludwig Gumpel handelte, den Besuch eines dreijährigen Lehrerseminars. Er legte erfolgreich die erste und die zweite Lehrerprüfung ab. Mit sechsundzwanzig Jahren heiratete er am 30. August 1914, unmittelbar vor seiner Abreise an die Front des Ersten Weltkriegs, die vierundzwanzigjährige Ludovica Koch. Nach dem Krieg, den er als Folge einer Verwundung überwiegend in einer Garnison in Schleswig überstand, brachte er es nach einem strapaziösen Abendstudium bis zum Diplomhandelslehrer und schließlich bis zum Studienrat und Leiter einer kleinen Handelsschule.
Ein stolzer Vater präsentiert seine Familie und seine gute Stube. Familie Schmidt im Jahr 1924, der ältere Sohn Helmut in der Mitte.
Für einen Mann aus einfachsten Lebensverhältnissen war das eine enorme Leistung.1 Das proletarische Milieu, aus dem er kam, hatte er nicht nur im Hinblick auf seine materiellen Lebensumstände, sondern auch nach seinem Selbstverständnis und Selbstwertgefühl weit hinter sich gelassen. Er durfte sich durchaus als Teil des Bürgertums empfinden. Das galt auch für seine Ehefrau Ludovica, die einer soliden Handwerkerfamilie entstammte. Ihr Vater war Setzer und Drucker und gehörte damit zur tonangebenden Schicht der Arbeiterbewegung, in der er sich jedoch nicht aktiv betätigte.
Das Problem in der Familie Schmidt – ein Foto aus dem Jahre 1924 zeigt deren Zugehörigkeit zum Bürgertum in schon fast demonstrativer Deutlichkeit – waren die Erziehungsmethoden des Vaters: Gustav Schmidt wollte die Härte, die Strenge und Selbstdisziplin, mit der er sich nach oben gekämpft hatte, auch bei seinen beiden Söhnen Helmut und dem zweieinhalb Jahre jüngeren Wolfgang durchsetzen. Das schloss die Mittel körperlicher Züchtigung, auch durch den Rohrstock, ein. Die Folge war, dass seine Söhne ihn zwar als Respektsperson empfanden, jedoch kaum als liebevollen Vater. Herzenswärme und das Glück familiärer Geborgenheit erfuhren Helmut und Wolfgang im Wesentlichen in der Familie der Mutter.
Der Vater hingegen verlangte von ihnen Leistung, Selbstbeherrschung und als unerlässliche Voraussetzung für jedes Fortkommen strikte Disziplin und Pflichterfüllung. Lob und Zuspruch waren in diesem Kanon nicht vorgesehen. Helmut Schmidt hat seine eigene Rolle in der Familie in autobiografischen Notizen während der Gefangenschaft 1945 mit der selbstkritischen Feststellung beschrieben: »Ich war ein kleiner Rechthaber.«2 Aber zugleich, das bezeugen alle verfügbaren Quellen, legte er einen nahezu unstillbaren Wissensdurst an den Tag, und zwar »endlos, um hinter eine Sache zu sehen«, wie er selbst es damals formulierte.3
Die Familie wohnte in Barmbek in der Richardstraße 65, doch Vater Gustav Schmidt bestimmte, dass seine beiden Söhne die Volksschule Wallstraße 22 östlich der Außenalster im Stadtteil St. Georg besuchen sollten. Den weiten Schulweg nahm er in Kauf. Er kannte diese Schule, da er dort seine Ausbildung zum Volksschullehrer absolviert hatte. Mit dieser Funktion als »Seminarschule« hing es auch zusammen, dass die Klassen kleiner waren als sonst in den Hamburger Volksschulen üblich; auch galt das Lehrerkollegium als überdurchschnittlich gut.
Helmut Schmidt hat gleichwohl die vier Jahre von 1925 bis 1929, die er auf dieser Schule verbrachte, nicht in guter Erinnerung. Maßgebend dafür war vor allem, dass sich dort fortsetzte, was ihm zu Hause zutiefst zuwider war – die körperliche Züchtigung mit Lineal und Rohrstock. Es war eben eine Pauk- und Prügelschule wie zu Kaisers Zeiten, und es war bezeichnend, dass in dieser Grundschule noch immer am 2. September der »Sedantag«, der Jahrestag der Kapitulation der französischen Armee nach der Schlacht von Sedan 1870, begangen wurde, obwohl die Weimarer Republik den Gedenktag 1919 abgeschafft hatte. Noch im hohen Alter erinnert sich Helmut Schmidt daran.4 Die meisten Lehrer waren bei den Schülern unbeliebt.
Die Frage, welche weiterführende Schule seine beiden begabten Söhne besuchen sollten, entschied Gustav Schmidt erneut nach eigenem Gutdünken. Diesmal erwies sich seine Wahl, die in der Familie durchaus für Verblüffung sorgte, als Glücksfall: Helmut und Wolfgang sollten die Lichtwark-Schule besuchen. Dort herrschten völlig andere Grundsätze als in der Familie Schmidt oder an der Volksschule Wallstraße. Pädagogisch war diese Schule eine erste Adresse, doch in einem ganz anderen Sinn als zum Beispiel die traditionsbewusste Gelehrtenschule des Johanneums, die bevorzugte Bildungsstätte für die Söhne des Hamburger Großbürgertums. Die Gründe, die Gustav Schmidt bewogen haben, seine Söhne der Lichtwark-Schule anzuvertrauen, lassen sich nicht mehr eindeutig klären.
Ostern 1929 begann Helmut Schmidts Schulzeit in dieser Reformschule, die nach dem bahnbrechenden Kunsthistoriker und Museumspädagogen Alfred Lichtwark (1852 – 1914), dem langjährigen Direktor der Hamburger Kunsthalle, benannt worden war. Lichtwarks herbe Kritik am Schulwesen des Kaiserreiches war hier konzeptionell übernommen worden. »Die Schule geht vom Stoff aus und bleibt am Stoff kleben«, hatte er bereits 1890 verkündet. »Sie sollte von der Kraft ausgehen und Kräfte entwickeln. Mit ihrer ausschließlichen Sorge um den Lehrstoff hat die Schule satt gemacht. Sie sollte hungrig machen.«5
Die Lichtwark-Schule hat Helmut Schmidt nachhaltig geprägt, ebenso wie seine Mitschülerin Hannelore Glaser, die mit ihm in einer Klasse ist und bis zum Abitur auch bleiben wird. Als seine Ehefrau Loki Schmidt wird sie später gemeinsam mit ihm zu internationalem Ruhm kommen. Hannelore wird knapp zehn Wochen nach Helmut geboren, am 3. März 1919. Ihr Elternhaus ist ärmlich, es besteht aus einer überbelegten Mietwohnung in der Schleusenstraße in Hammerbrook, die sich die Großeltern mit ihren vier Töchtern und deren Familien teilen müssen.
Helmut und Loki Schmidt haben noch im hohen Alter bekundet, wie viel sie der Lichtwark-Schule verdanken. Loki Schmidt, die ausgebildete Pädagogin:
Helmut (zweiter von rechts) hält die Fäden in der Hand, während seine Klassenkameradin Hannelore (Loki) Glaser in die Kamera lächelt.
»Den Hamburger Reformschulen in den zwanziger Jahren war es ganz wichtig, dass Kinder sich Dinge selbständig erarbeiteten. […] Sie waren in jener Zeit pädagogisch wirklich das Beste, was es in Deutschland gab. […] Hamburg war der Kern. Hier ist die pädagogische Reformbewegung entstanden. […] Wir sind mit zehn Jahren in diese Schule gekommen. Abitur haben Helmut und ich dort beide mit achtzehn gemacht. Das Heranwachsen ist eine ganz entscheidende Phase in jedem Leben, und in der bin ich nachhaltig von dieser Schule geprägt worden. […] Ferner hat die musische Erziehung eine große Rolle gespielt, genauso, wie Alfred Lichtwark sich das als ehemaliger Museumsdirektor vorgestellt hat. […] Nicht nur Kunst aufnehmen, betrachtend rezipieren, sondern auch selbst ausüben war seine Devise. Das spielte eine Rolle im Unterricht, beim Musizieren und Malen, beim Schnitzen, Metallarbeiten und Ähnlichem. Auch bei Klassenreisen kam das Musische nicht zu kurz, wenn beispielsweise Architektur betrachtet wurde.«6
Die Lichtwark-Schule, 1914 in Winterhude als Realschule mit dem Bildungsziel selbstbestimmter und verantwortlicher Teilhabe an der Demokratisierung des gesellschaftlichen...