THERAPIEANSÄTZE IN DEN VERSCHIEDENEN KULTURKREISEN
Rationale Heilkräuternutzung in der Frühzeit
Die Mehrheit der Weltbevölkerung setzt auch heute noch ihre traditionelle Materia medica (insbesondere Arzneipflanzen) zur täglichen Gesundheitspflege ein. Das profunde Wissen um Arzneipflanzen in traditionellen Kulturen hat sich vermutlich über Jahrhunderte durch Versuch und Irrtum entwickelt und wurde verbal von Generation zu Generation überliefert. Die moderne allopathische Medizin beruht auf den auch heute noch relevanten Erkenntnissen des Altertums. Wir können deshalb davon ausgehen, dass viele wichtige neue Wirkstoffe gefunden werden können, wenn man den Hinweisen und Erfahrungen der gesamten traditionellen Medizin nachgeht.
Die Wirkung von Arzneipflanzen wurde früher häufig mit Hexerei und Übernatürlichkeit erklärt, da die Menschen damals die Heilwirkung nicht mit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen rational deuten konnten. Ein Beispiel dafür ist die Signaturenlehre, deren Spuren man in allen Kulturen erkennen kann. Sie beruht auf der Annahme, dass die Pflanzenform bereits Hinweise für den therapeutischen Einsatz geben kann. Rote Pflanzensäfte werden z. B. häufig mit Blut und Menstruationsbeschwerden, gelbe Blüten mit Galle und Gelbsucht oder menschenähnliche Wurzeln mit weiblicher Fertilität in Verbindung gebracht. Manchmal scheint dieser Ansatz sogar zu funktionierten: Das Schöllkraut Chelidonium majus enthält gelbe Blüten und rötlichgelben Milchsaft mit Alkaloiden; diese Alkaloide wirken tatsächlich bei Leberentzündung und Gelbsucht.
Naturvölker, die traditionelle Heilmittel einsetzen, mögen die zugrundeliegenden Wirkmechanismen zwar nicht verstehen, aber sie wissen aus eigener Erfahrung, dass einige Arzneipflanzen bei geeigneter Dosierung hoch wirksam sind. Da wir heute besser nachvollziehen können, wie unser Körper in all seinen komplizierten biochemischen Details funktioniert, können wir die Wirkung unserer Arzneipflanzen eher erklären und verstehen, wie komplexe pflanzliche Wirkstoffgemische komplexe Erkrankungen mit vielen Einzelfaktoren positiv beeinflussen können. Arzneidrogen enthalten immer Stoffgemische aus unterschiedlichen Sekundärstoffen, die jeweils einzeln oder additiv, ja sogar synergistisch wirken können. Eine einzelne Pflanze kann z. B. gleichzeitig Bitterstoffe enthalten, welche die Verdauung anregen, entzündungshemmende Substanzen, die Schwellungen und Schmerzen reduzieren, phenolische Wirkstoffe, die antioxidativ und venenstärkend wirken, ferner Gerbstoffe als natürliche Antibiotika, diuretische Sekundärstoffe, die für die schnelle Ausscheidung von Stoffwechselschlacken oder Giften über die Niere sorgen, oder Alkaloide, welche die Stimmung aufhellen können. Während sich die moderne allopathische Medizin auf patentierbare Einzelwirkstoffe mit hoher Spezifität konzentriert, setzt die Naturheilkunde chemisch komplexe Wirkstoffgemische oder sogar mehrere Arzneipflanzen gleichzeitig ein. Dadurch soll der potenzielle synergistische Effekt oder die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass einer der vorkommenden Wirkstoffe auch das „Target” (Zielort) trifft, das einer Erkran-kung zugrunde liegt.
Allopathische moderne Medizin und traditionelle Naturheilkunde existieren heute oft nebeneinander und können sich komplementär ergänzen. Die Schulmedizin behandelt ernsthafte und akute Erkrankungen (manchmal mit isolierten Sekundärstoffen), während die Phytotherapie eher Erkältungskrankheiten, chronische Erkrankungen oder Beschwerden im Visier hat. Die Phytotherapie kann die Gesundheit wiederherstellen und die Lebensqualität in einer oft kostengünstigen Weise steigern.
Europäische Medizin
Die europäische Medizin geht auf Hippokrates (460–377 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurück, die ihrerseits von Erfahrung und Glauben des alten Indiens und Ägyptens beeinflusst waren. Galen (131–199 n. Chr.) fasste die medizinischen Prinzipien zusammen, die später als „galenische Medizin” bezeichnet wurden. Die griechische und römische Medizin fußte auf dem Glauben, dass die Welt aus vier Elementen besteht – Erde, Luft, Feuer und Wasser. Jedem Element wurde eine Körperflüssigkeit zugeordnet: Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Diese vier „Säfte” beeinflussen Gesundheit und Temperament eines Menschen (unterteilt in Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker und Choleriker). Um das körperliche Gleichgewicht wiederherzustellen, wurden drastische Maßnahmen durchgeführt: z. B. Schröpfen zum Reduzieren der Blutmenge oder Abführdrogen zum Entfernen von überflüssiger schwarzer Galle. Die vier Körpersäfte wurden mit kühlenden, scharfen, feuchten und trocknenden Kräutern assoziiert, die das Gleichgewicht wiederherstellen sollten. Die europäische Volksmedizin wurde außerdem durch regionale Bräuche und Verfahren beeinflusst.
1. Assyrische Tontafel mit Keilschrifttext über Arzneipflanzen (7. Jahrhundert v. Chr)
2. Mit Conium maculatum wurde Sokrates getötet
3. Mandragora officinarum, bekannte Arzneipflanze des Mittelalters und der Antike
Die berühmte De Materia Medica – vom griechischen Arzt Dioskorides im 1. Jh. n. Chr. verfasst – hatte besondere Bedeutung. Sie stellt das erste rationale europäische Arzneibuch dar und diente in Europa als Standardwerk für die nächsten 1000 Jahre. Alle späteren Kräuterbücher gehen auf Dioskorides zurück. Bereits 800 n. Chr. baute man in den Klöstern Mitteleuropas Arzneipflanzen nach einem Standardplan an. Eine der berühmtesten Heilkundigen war Hildegard von Bingen (1098–1179). Später betonte Paracelsus (1493–1541) die Bedeutung der korrekten Dosierung für die therapeutische Wirksamkeit.
Berühmte Kräuterbücher (oft prächtig illustriert) vermittelten die Kräuterkunde einem breiteren Publikum, u. a. Historia Stirpium (1542) und New Kreuterbuch (1543) des Tübinger Arztes Leonhart Fuchs, das Kruydtboeck (1581) des flämischen Botanikers Matthias de Lobel, das Herball (1597) des englischen Gärtners John Gerard und The English Physitian (1652) des englischen Apothekers Nicholas Culpeper.
Die europäische Phytomedizin nutzt nicht nur einheimsche Arzneipflanzen, sondern verwendet wirksame Pflanzen aus aller Herren Länder. Auch heute noch werden Arzneipflanzen in vielen Ländern Europas genutzt; sie sind als wirksamer und rationaler Therapieansatz nach wie vor sehr beliebt, werden aber oft eher unterstützend eingesetzt. Kräutertees und Kräutermischungen sind besonders in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Großbritannien und der Schweiz beliebt. Neben einfachen Teezubereitungen und Aufgüssen stellen speziell verarbeitete Phytotherapeutika (standardisierte und formulierte Spezialextrakte, die bereits in klinischen Studien erprobt wurden) eine populäre Alternative zu chemisch-synthetischen Arzneimitteln dar. Neue Wirkstoffe aus allen Teilen unserer Erde erweitern kontinuierlich das europäischen Arzneimittelangebot; andere werden aufgrund moderner Forschung wieder entdeckt. Heute orientiert sich die Auswahl von Arzneipflanzen zunehmend an rationalen Kriterien, indem z. B. die Ergebnisse aus kontrollierten klinischen Studien zugrunde gelegt werden. Solche Arzneipflanzen gelten als wirksam und sicher.
Viele traditionelle europäische Arzneipflanzen zählen zu den beliebten Handelsdrogen, darunter Arnica montana (Arnika), Atropa belladonna (Tollkirsche), Drimia maritima (Meerzwiebel), Foeniculum vulgare (Fenchel), Matricaria chamomilla (Kamille), Silybum marianum (Mariendistel), Urtica dioica (Brennnessel) und Valeriana officinalis (Baldrian). Außerdem werden etliche Wirkstoffe als Reinsubstanzen aus Arzneipflanzen isoliert und als Einzelwirkstoffe medizinisch genutzt, wie Atropin, Reserpin, Morphin, Chinidin, Ajmalin, Digoxin, Paclitaxel oder Vinblastin (s. Seite 22).
Traditionelle chinesische Medizin (TCM)
Mit über 5000 Jahren Geschichte zählt die TCM zu den ältesten Therapiesystemen der Medizin. Sie beruht auf zwei unterschiedlichen Grundannahmen der Naturgesetze, die Gesundheit und langes Leben bestimmen, nämlich yin und yang, ferner den Fünf Wandlungsphasen (wu xing). Zu den frühesten Zeugnissen der alten chinesischen Kräuterkunde zählt ein Text des chinesischen Kaisers und Gelehrten Shennong der Sung-Dynastie mit dem Titel Shennong bencao jing oder Shennongs Klassiker der Drogenkunde (um 2800 v. Chr.). Dieses Buch wurde später von Tao Hongjing weiter bearbeitet und wurde als Kommentierter Shennongs Klassiker der Drogenkunde weltbekannt. Weitere wichtige Texte sind u. a. Rezepte gegen 52 Krankheiten, das Wushi er Bingfang (403 v. Chr.) und Klassiker der Berge und Meere, das Shan-hai Ching (zwischen 403 und 221 v. Chr.). TCM wurde hauptsächlich im Huangdi neijing systematisch dargestellt (Innerer Klassiker des Gelben Fürsten; zwischen 100 und 200 v. Chr. geschrieben); eine spätere Überarbeitung ist Bencao gangmu (Systematische Drogenkunde) durch den berühmten Li Shizhen um 1590 n. Chr. Die vollständigste Zusammenstellung der chinesischen Rezepturen findet...