1.1.1 Allgemeine Betrachtungen zur Leistungsstruktur im Tennis
Jeder Versuch, die leistungslimitierenden Faktoren im Tennissport zu strukturieren und zu hierarchisieren, wird aufgrund der Heterogenität und Komplexität der alters- und geschlechtsspezifischen Anforderungen in der Praxis auf wenig Resonanz stoßen. Die Diskussion über die Ursachen von Sieg oder Niederlage, über die primär erforderlichen Trainingsschwerpunkte und über die besonderen Merkmale eines Tennistalents wird daher auch in Zukunft erhalten bleiben. In kaum einer anderen Sportart wird die Leistungsstruktur durch eine ähnliche Vielzahl an Einflussfaktoren geprägt wie im Tennissport.
Allem voran wird zumeist der besondere Stellenwert der willentlichen (volitiven), kognitiven und emotionalen psychischen Faktoren betont. Nur jener Spieler wird langfristig erfolgreich sein, der über eine erfolgsorientierte und stabile psychische Einstellung verfügt. Diese ermöglicht auch in kritischen Situationen den optimalen Einsatz der Schlagtechnik. Allerdings nutzt die beste psychische Konstitution reichlich wenig, wenn es dem Spieler aufgrund von technischen oder konditionellen Defiziten niemals gelingt, sich einen eigenen Matchball zu erarbeiten. Offensichtlich reicht es für den dauerhaft erfolgreichen Spieler nicht aus, nur einzelne Faktoren in überragender Weise auszubilden und dabei andere, ebenfalls bedeutsame Leistungskomponenten zu vernachlässigen.
Die Möglichkeit zur Kompensation einzelner, unzureichend ausgebildeter Leistungsfaktoren schwindet in der absoluten Weltspitze aufgrund der zunehmenden Leistungsstärke und Leistungsdichte dahin. Aktuelle Beispiele im Herrentennis belegen, dass sich nur Ausnahmespieler wie Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic weitgehend ohne Defizite dauerhaft in der Weltspitze positionieren können. Die hohe Fluktuation in der Weltspitze im Damentennis zeigt, dass diese Anforderung derzeit von keiner Spielerin erfüllt wird.
Die Leistungsstruktur im Tennis besteht somit aus einem komplexen Netzwerk von wichtigen Leistungskomponenten, in dem einzelne Faktoren, je nach Alter, Geschlecht, Spielertyp und Bodenbelag, in unterschiedlicher Weise in den Vordergrund treten; keiner der Faktoren darf jedoch für das Erreichen eines hohen Leistungsniveaus nur unterdurchschnittlich ausgeprägt sein (Abb. 1). In der Trainingspraxis besteht aufgrund der Komplexität der Anforderungen die Gefahr, das Training ebenfalls sehr komplex, unter Vernachlässigung der Tiefenschärfe in der Ansteuerung einzelner, unzureichend ausgeprägter Leistungskomponenten, auszurichten.
Das Ziel des vorliegenden Buches besteht daher darin, das Augenmerk isoliert und gleichberechtigt auf jede einzelne Leistungskomponente zu legen und aus theoretischer und trainingspraktischer Sicht Hilfestellungen zu liefern.
Abb. 1:Vereinfachtes Übersichtsmodell zur Leistungsstruktur im Tennis
SCHLAGTECHNIK: Die Schlagtechnik besitzt im Tennis nach Expertenmeinung unbestritten die größte Bedeutung für die Leistungsfähigkeit des Spielers. Deshalb werden im Anfängerunterricht gewöhnlich vorrangig die Hauptschlagtechniken Grundlinienschläge, Aufschlag und Volley sowie einige seltenere Spezialschläge vermittelt. Da sich dieses Buch jedoch nicht an den Tennisanfänger richtet, wird auf eine Darstellung von Bewegungsbeschreibungen und methodischen Lernschritten der Technikvermittlung sowie von kind- und spielgemäßen Vermittlungskonzepten, wie beispielsweise der Initiative „Play and Stay“ der International Tennis Federation (ITF) (www.tennisplayandstay.com), verzichtet.
Das Kapitel Techniktraining stellt zunächst die enge Verwandtschaft zur Koordination und zum Koordinationstraining heraus. Hier wird von den Autoren die Auffassung vertreten, dass koordinative Kompetenzen nur in enger Anlehnung an die technischen Anforderungen des Tennisspielers vermittelt werden müssen (Neumaier, 1999), da der Transfer von isoliert und außerhalb der Tennistechnik erworbenen koordinativen Fähigkeiten, wie beispielsweise der Gleichgewichts- oder Orientierungsfähigkeit (Hirtz, 1985), auf die Bedürfnisse des Tennisspiels normalerweise nicht gelingt. Technik- und Koordinationstraining verfließen somit in der Praxis.
Es wird ein Stufenmodell zum Techniktraining vorgeschlagen, das die aufeinanderfolgenden Abschnitte „Technikstabilisierung“, „Technikvariabilität“ und „situative Technikanwendung“ beinhaltet. Diese Abstufung kann gleichermaßen auf die Chronologie der Zielsetzungen innerhalb einer Trainingseinheit als auch auf die Verlagerung der Schwerpunktsetzung während der langfristigen Leistungsentwicklung eines Spielers bezogen werden.
Unter Technikstabilität verstehen wir eine möglichst hohe Schlagsicherheit aller Grundtechniken in Standardspielsituationen. Die Technikstabilität muss in einem zweiten Schritt, speziell auf mittlerer und höchster Leistungsebene, durch Technikvariabilität erweitert werden. Die Verbesserung der Technikvariabilität betrifft sowohl die Ausführung der Schlagtechnik (z.B. harter und weicher Schlag) als auch die Anpassung der Grundtechnik an verschiedene Spielsituationen (z.B. tiefer und hoher Treffpunkt). Ein systematisches Training der Variabilität kann durch ein monotones Wiederholen einzelner Technikvarianten gekennzeichnet sein oder es folgt alternativen Ansätzen, die unter anderem durch den Begriff des „Differenziellen Lernens“ (Schöllhorn, 2005) propagiert werden, in dem verschiedene Ausführungsvarianten in unregelmäßiger Reihenfolge verknüpft werden.
Das Training von Technikstabilität und Technikvariabilität geht zuweilen auf Kosten der spieladäquaten, situativen Technikanwendung und des Spielverständnisses. Deshalb werden auf höchster Leistungsebene die Bereiche Stabilität und Variabilität zunehmend durch ein Technikanwendungstraining ersetzt. Hierbei wird das gesamte Schlagrepertoire unter spieltypischen Bedingungen (ggf. unter Verschärfung der koordinativ-konditionellen Anforderungen oder unter Beachtung spieltaktischer Leitlinien) eingesetzt. Die höchste Stufe des Techniktrainings bildet somit gleichzeitig den Übergang zum Taktiktraining.
TAKTIK: Die Taktik gehört ebenfalls zu den wesentlichen Leistungsfaktoren des Tennissports. Unter Taktik versteht man die Fähigkeit des Sportlers, sich unter Berücksichtigung der eigenen technischen Möglichkeiten Vorteile gegenüber dem Gegner zu erspielen. Die veränderten Spielfeldmaße und die Hinzunahme eines Partners kennzeichnen das Doppel gegenüber dem Einzel als völlig eigenständige und unterschiedliche Wettkampfform. Ihre taktischen Besonderheiten stehen sich sogar häufig konträr gegenüber. Für die Differenzierung des Bereichs Taktik bietet sich auf erster Ebene daher die Unterscheidung in Einzel- und Doppeltaktik an. Die Aufrechterhaltung dieser Differenzierung ist nicht nur inhaltlich zu rechtfertigen, sondern soll auch als ein Signal an Spieler, Trainer und Turnierveranstalter gelten, dieser bedeutsamen Wettspielform zukünftig eine höhere Wertschätzung zu geben.
Taktisches Handeln erfordert zunächst Stabilität und Variabilität der Schlagtechnik. So besteht das Taktiktraining, in Überschneidung mit dem Techniktraining, auf der ersten Stufe aus einem an den taktischen Erfordernissen ausgerichteten, speziellen Techniktraining. Erst auf der zweiten Lernstufe erfolgt die Vermittlung und das Training von taktischen Grundregeln. Hierbei werden besonders empfehlenswerte Spielzüge (z.B. Rückhand-Angriffsball longline) systematisch wiederholt. Das Taktiktraining im eigentlichen Sinne beinhaltet dann auf einer dritten Stufe, in Überschneidung mit dem psychologischen Training, die Verbesserung von Situationswahrnehmung, Beurteilung und Entscheidung. Hierbei werden dem Spieler systematisch limitierte Handlungsspielräume und Freiheitsgerade angeboten, aus denen er unter Berücksichtigung der taktischen Grundregeln die jeweils situationsangemessene Entscheidung treffen muss. Diese Stufe geht schließlich in ein komplexes Taktiktraining über. Hier muss der Schüler in einer offenen Spielsituation und aus einer nicht limitierten Vielzahl an Möglichkeiten die jeweils optimale taktische Lösung finden.
PSYCHE: Die Psyche beeinflusst alle vorgenannten Teilgebiete (und teilweise auch die Kondition) mit, sodass das psychologische Training eng verzahnt ist mit dem Training von Technik und Taktik. Im psychologischen Training spielen die Bereiche Denken und Steuern (Kognition) sowie Fühlen und Wollen (Emotion und Motivation) eine herausragende Rolle. Zu den kognitiven Anforderungen des Tennisspielers gehören Wahrnehmung und Antizipation. Während des Ballwechsels muss in kürzester Zeit eine Vielzahl an Eindrücken verarbeitet werden und zu entsprechenden technisch-taktischen Gegenmaßnahmen führen. Aus emotionaler Sicht ist das Selbstvertrauen hervorzuheben, welches in kritischen Situationen nicht selten über Sieg und Niederlage entscheidet.
Zur Verbesserung der psychischen Fähigkeiten werden Trainingsformen vorgestellt, die problemlos in der Trainingspraxis umgesetzt werden können. Die im Modell vorgenommene Zweiteilung in die Bereiche Denken und Steuern sowie Fühlen und Wollen bildet gleichzeitig auch eine sinnvolle Gliederung für entsprechende Trainingsmaßnahmen (Abb. 1).
KONDITION: Dem Bereich der Kondition oder auch der Athletik werden gewöhnlich die Faktoren...