1 Imagination und Psychotherapie – eine Bestandsaufnahme
Harald Ullmann
1.1 Von den Wurzeln der Vorstellungskraft
Das klinisch bedeutsame Phänomen der Imagination gründet in basalen menschlichen Fähigkeiten, für die es uralte Belege gibt. Aus Höhlenfunden von Ritzzeichnungen und Malereien lässt sich auf die Vorstellungskraft und Symbolisierungsfähigkeit unserer steinzeitlichen Vorfahren schließen. Auch sie waren offenbar bereits in der Lage, sich etwas innerlich vor Augen zu führen, das in der äußeren Realität nicht mehr oder noch nicht existiert. Dem entspricht die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Phantasie als der Fähigkeit, etwas «in Erscheinung treten» zu lassen (griech.: phaínein = «sichtbar machen» [Duden 2001]), und zwar in einem mentalen, kulturell vermittelten Raum.
Die Inhalte der weltweit entdeckten Schätze an bunten Höhlenmalereien reichen von Erinnerungszeichen, die noch ganz im Konkreten verhaftet sind, bis zu symbolisch zu nennenden Darstellungsformen (Anati 1997; Lorblanchet 1997). Den Anfang machen «Handstempel», die an die Anwesenheit eines Menschen erinnern, der auf diese Weise mit einem Teil seiner selbst konkret «repräsentiert» ist. Spätere Höhlenmalereien gehen weiter und bilden ein großes Spektrum der prähistorischen Lebenswelt ab. Sie zeigen ganze Tiere und Herden und stehen damit für das ersehnte, Leben spendende Beutegut des Jägers. Im Unterschied zu den Handsignaturen, die ein Stück Vergangenheit festhalten, könnten solche ganzheitlichen Abbildungen existenziell bedeutsamer Wesen in Richtungen weisen, die der Zukunft oder gar dem Jenseits zugewandt sind. In einer der Höhlen, die kultischen Zwecken gedient haben muss, ist ein rätselhaftes, vielgestaltiges Wesen an der Wand zu sehen. Der sogenannte «Zauberer» von Trois Frères ist halb Tier, halb Mensch. Sollten darin gewisse Gaben zum Ausdruck kommen, zwischen verschiedenen Welten des Seins zu vermitteln, dann würde das zu einem Deutungsansatz passen, der in dieser Chimäre die Darstellung eines Schamanen sieht (Clottes 1997).
Viele vorgeschichtliche Funde künden nicht nur von der Vorstellungskraft als solcher, die dem Menschen eigen ist, sondern zugleich von seinem Bemühen, sich der äußeren Welt bildhaft und symbolisch zu bemächtigen. Das Denken des primitiven Menschen ist immer wieder auch ein magisches. Schamanen heilen heute noch mithilfe von symbolischen Handlungen, die auf innerseelische Prozesse und körperliche Vorgänge Einfluss nehmen. Wenn Psychotherapeuten ihren Patienten in einem hypnoiden Zustand dazu anregen, konkrete Erlebnisse der äußeren Realität in eine imaginative Realität zu überführen und symbolisch mit ihnen umzugehen, dann stützen sie sich dabei auf jene ursprünglichen Fähigkeiten, die uns seit Menschengedenken und seit Kindertagen zur Verfügung stehen.
Mit imaginativen Mitteln arbeiten auch die großen Erzähler, Dramatiker und Dichter. Wenn Homer die «frühgeborene», «rosenfingrige» Morgenröte besingt (Odyssee 2,1), dann evoziert er durch diese Metapher in seinem Hörer positiv getönte Erinnerungen an den Beginn eines neuen Tages, die für den weiteren Erzähl- und Hörvorgang symbolisch mit der «safrangewandeten» Göttin Eos (Ilias 8,1) verbunden werden. Wenn Shakespeare in seinem Prolog zu Heinrich V. seine Zuschauer auffordert, ihre «einbildsamen Kräfte» («imaginary forces») wirken zu lassen, dann will er sie dazu verpflichten, ihr Vorstellungsvermögen für eine Weile über die armselige Realität der Bühne dominieren zu lassen, die sich auf gar zu «engem Raum» abspielt. Wenn Proust in seiner «Suche nach der verlorenen Zeit» (Proust 2000) den Ich-Erzähler Marcel durch eine «kleine Phrase» (Milly 1975 [S. 143: «la petite phrase»]) dazu bringt, sich an frühere Momente seines Lebens zu erinnern, dann eröffnen sich dem Leser eine Reihe von «poetischen» Möglichkeiten des Vorstellungsvermögens, die auch in der Psychotherapie mit dem Tagtraum zum Tragen kommen (Ullmann 2010). Zum einen geht es da um ein rückwärtsgewandtes Erinnern von persönlich relevanten Episoden, zum anderen um deren prospektiv orientierte Neugestaltung im Moment des Vergegenwärtigens und nicht zuletzt um deren Einbindung in die Narrative des autobiographischen Gedächtnisses (s. Kap. 3.12).
In seinem Buch über «Phantasie und Tagtraum» weist Singer auf einige therapeutische Implikationen der poetischen Kunst hin, die durch ihre imaginativen Elemente bedingt sind (Singer 1978). Die dichterischen und dramatischen Stärken eines Shakespeare liegen für ihn zu einem großen Teil darin begründet, bildhafte Vorstellungen und sinnliche Modalitäten so zu verwenden, dass wir «beim Zuhören sofort gezwungen sind, zumindest bis zu einem gewissen Ausmaß weitere, durch andere Modalitäten vermittelte Eindrücke mit jenen zu verbinden». Man wird auf diese Weise ganz aktiv in das Erleben einer sich entfaltenden Szene einbezogen. Wir können als Psychotherapeuten durchaus von dem großen Dramatiker lernen, wenn es um die wirkungsvolle Kopplung von Bildern mit spezifischen sensorischen Modalitäten wie Riechen, Berühren, Schmecken, Hören, Sehen und Bewegen geht.
Behalten wir die Inhalte großer Dichtung vielleicht auch deshalb besonders gut im Gedächtnis, weil sie voller konkreter, sinnlicher Bezugnahmen sind? Für eine solche Annahme sprachen schon ältere experimentalpsychologische Untersuchungen, die zeigen konnten, dass konkrete Wörter besser erinnert werden als abstrakte (Paivio 1971). Die weitergehende klinische Erfahrung, dass es zur dauerhaften Einprägung von Lerninhalten und Einsichten einer emotionalen und motivationalen Komponente des mnemonischen Vorgangs bedarf, wird auch von neurowissenschaftlicher Seite bestätigt (s. Kap. 3.13).
Die Psychotherapie ist in jenem kulturellen Raum zu Hause, von dem eingangs die Rede war. Hier gründet ihre geisteswissenschaftliche und poetische Dimension mit den daraus entspringenden hermeneutischen Traditionen. Darüber hinaus manifestieren sich die «poetisch» zu nennenden Qualitäten der Psychotherapie aber auch in einer konkreten Weise, die der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes (poíesis = «das Machen, das Verfertigen; das Dichten, die Dichtkunst» [Duden 2001]) nahekommen. Denn die Psychotherapie hat neben ihrer ästhetischen, Sinn schaffenden Seite auch noch eine ganz im Konkreten wirkende schöpferische Seite, die ihr Korrelat in der Funktionsweise des Gehirns hat.
Unser Gehirn ist unablässig neuronal aktiv und baut dabei geistige Inhalte auf, die im Zustand der Abschirmung äußerer Reize und einer damit einhergehenden Innenorientierung zu illusorischen Wahrnehmungen führen. Die imaginative Eigenaktivität des Gehirns lässt sich durch ein «einfaches Experiment» nachvollziehen (Frank 1914). Ohne sonstige Instruktionen werden die Probanden dazu angehalten, für eine bestimmte Weile die Augen zu schließen. In der Regel kommt es nun ganz von selbst zu einer zeitvergessenden Haltung der Innenschau, bei der sich die unterschiedlichsten Wahrnehmungen einstellen. Das Spektrum reicht von Farben und Formen bis hin zu ganzen Szenen, soweit es sich um optische Phänomene handelt. Aber auch andere Sinne und körperliche Empfindungen können auf dem inneren Wahrnehmungsschirm zur Darstellung kommen. All dies geschieht wohlgemerkt ohne ein eigenwillentliches oder therapeutisches Dazutun. Unter Bedingungen regressiverer Art reichert sich das innere Erleben um weitere Qualitäten an. Silberer, einer der Pioniere in der subtilen Erforschung imaginativer Phänomene, untersuchte eine Reihe von «Schwellenzuständen», die sich durch ein vermindertes Wachbewusstsein und eine erhöhte Regressionsbereitschaft auszeichnen, im akribisch dokumentierten Selbstversuch und beschrieb einige Mechanismen der Symbolbildung gleichsam in statu nascendi (Silberer 1909, 1912 a, 1912 b). Dabei fand er auch heraus, dass die gedanklichen und bildhaften Vorstellungen weitgehend von Zuständen im Körper beeinflusst werden.
Die körperlichen Grundlagen imaginativer Phänomene reichen von vegetativen und optischen Einspielungen über emotionale Gestimmtheiten bis hin zu präsymbolischen motivationalen Spannungsbögen. Beobachtet man einen Säugling von neun Monaten bei seinen Krabbelbemühungen auf dem Weg zu einem Turm aus übereinander gestapelten Klötzchen, dann werden in dieser kleinen Szene bereits grundlegende Elemente der Vorstellungskraft deutlich (Abb. 1-1). Der kleine Kerl wird zwar durchaus eine zielbezogene Vision vor Augen haben, aber keine, die er in Worte zu fassen vermag. Denn er verfügt über keine Sprache und kein sprachgebundenes Gedächtnis für das, was er bereits bewirkte und nun aufs Neue bewirken will. Aber in seinem prozeduralen, impliziten Gedächtnis dürfte er bereits eine wortlose Vorstellung davon aufgebaut haben, dass es sich lohnt, dem Fallen der Klötzchen entgegenzustreben. Er wurde und wird in seiner Motivation ermuntert und begleitet von der Stimme einer einfühlsamen, mitbewegten Mutter, die seinen Erfolg am Ende immer wieder durch ihre Mitfreude belohnt. Die Fähigkeit zur Imagination von Erinnerungen und Zielvorstellungen wird im Kontext einer förderlichen Beziehung erworben und hat eine somatische Matrix. Die «Loko-Motion» (Fortbewegung), die «E-Motion» (innere Bewegung) und die Motivation (vorgestellte Bewegung und deren Ergebnis) haben also nicht nur sprachliche Wurzeln gemeinsam.
Abbildung 1-1: Acht Momentaufnahmen von Theodor (9 Monate) und Mutters Worte
Das deutsche Wort «Vorstellungskraft»...