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Hören wir auf zu hoffen
Kurz vor Mittag, und noch immer sitzen wir hier fest. Das Geländer der Treppe, die hinauf zur Brücke führt, ist warm wie ein Heizungsrohr. Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Oben halte ich einen Moment inne, fühle, wie ein Film aus winzigen Schweißperlen meine Haut überzieht. Kein Wind, die Luft steht. Es ist einfach zu heiß, um sich viel zu bewegen. Vor uns liegt der wärmste jemals gemessene Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.
Es ist Freitag, der 28. Juni 2019, der 20. Tag, seitdem wir aus dem Hafen von Licata in Sizilien abgefahren sind, um Menschenleben zu retten. Vor 16 Tagen haben wir 53 Menschen aus einem nicht hochseetauglichen Schlauchboot geborgen, knapp 50 Seemeilen vor der libyschen Küste – Männer, schwangere Frauen, Minderjährige, unter ihnen sogar zwei Kleinkinder. Einige medizinische Notfälle und besonders verletzliche Personen hat uns die italienische Küstenwache zwischenzeitlich abgenommen. Jetzt haben wir noch 40 Menschen an Bord, sie sind entkräftet und mutlos.
Wir hoffen, dass jemand uns sagt, was mit ihnen geschehen soll.
Aber uns läuft die Zeit davon.
Mit jeder Minute, die verstreicht, riskieren wir, dass ein weiterer Notfall tödlich ausgeht.
Vor uns liegt wie ein dünnes, schimmerndes Band die Küste der Insel Lampedusa, einer der südlichsten Punkte Europas, für uns der nächste sichere Hafen. Die Hitze lässt die Luft über dem Meer flimmern. In einer Stunde könnten wir im Hafen sein, wenn sie uns ließen. Stattdessen liegen wir fest und warten, dass die europäischen Staaten eine Lösung finden. Ich sehe übers Bootsdeck, wo die Schnellboote in Kränen gestaut sind, und auf das Hauptdeck weiter unten. Gegen die Sonne sind über die unteren Decks Zeltplanen gespannt, darunter liegen die Leute, die wir aus dem Schlauchboot geborgen haben, auf dem Boden.
Unser Schiff ist nicht dafür ausgelegt, aus Seenot gerettete Menschen lange an Bord zu behalten. Es gibt nur drei Toiletten, das Trinkwasser kann zwar aus Meerwasser aufbereitet werden, aber das geht sehr langsam, und auch mit dem Tank, den wir im Hafen gefüllt haben, reicht es bei so vielen Personen nur gelegentlich zum Duschen und Wäschewaschen. Und jeder, der dort unten auf dem Bootsdeck liegt, hat nur eine Decke. Bequem ist das nicht, entweder man legt sich drauf und friert nachts, oder man deckt sich zu und hat nach kurzer Zeit da Schmerzen, wo der Körper auf dem mit schwarzen PVC-Matten belegten Boden aufkommt.
Das weite Meer um uns herum glitzert, kleine Wellen brechen sich an unserem Bug. Die Sea-Watch 3 ist ein altes Offshore-Versorgungsschiff aus den Siebzigerjahren, sie wurde von der Ölindustrie genutzt, und bevor Sea-Watch sie mit Spendengeldern erwarb, war sie als Seenotretter für Ärzte ohne Grenzen unterwegs. Ein sperriger Kahn, der viel Pflege braucht.
Es tut seinen Dienst, aber ich mag das Schiff nicht sonderlich.
Eigentlich wäre ich auch gar nicht hier. In diesem Jahr war ich nicht eingeplant für eine Mission, wie die Einsätze zur Seenotrettung genannt werden. Ich bin einige Jahre zur See gefahren, hauptsächlich als Nautiker auf großen Forschungsschiffen in den Polargebieten und auch mit Greenpeace, habe dann Naturschutzmanagement studiert und wollte mich nach dem Abschluss auf den Naturschutz konzentrieren. Ich hatte noch nie eine große Leidenschaft für die Seefahrt, es schien mir nach einigen Jahren in dem Beruf auch wichtiger, mich um den Erhalt unserer Biosphäre zu kümmern. Allerdings kamen mir die Kenntnisse aus der Schifffahrt weiterhin zupass, um für Sea-Watch und andere Seenotrettungs-NGOs das zu tun, was ich für essenziell halte: Leben zu retten.
Als die Mail kam, dass der Kapitän einer bevorstehenden Mission ausgefallen sei, arbeitete ich seit einiger Zeit als Trainee in einem Naturschutzprogramm in Schottland. Wir sammelten Daten über Schmetterlinge, setzten Wanderwege instand, topften zuletzt bei strömendem Regen im Gewächshaus drei Tage lang Waldkiefersetzlinge um.
Schön war es dort: die schroff abfallenden Berghänge, deren Kuppen Hauben aus dunklem Moos tragen. Der Geruch der Wiesen und des Regens, der sich mit dem Duft der zarten Blüten und dem Harz der Nadelbäume mischt. Abends die lang gezogenen Laute der Sterntaucher über dem nebligen See, wie sie nacheinander rufen. Die Luft so klar und würzig, dass ich am liebsten rund um die Uhr draußen gewesen wäre.
Im Grunde wollte ich nicht weg. Trotzdem, es war ein Aufruf, der an alle gerichtet war, die auf der Kontaktliste für Notfälle standen. Auf dieser Liste stehen alle, die einspringen könnten, wenn ein geplantes Crewmitglied kurzfristig ausfällt. Freiwillige, die ungelernt einen Posten ausüben, findet man nicht so schwer wie Fachpersonal fürs Schiff oder medizinisches Personal, denn das ist knapp.
Ich ahnte: Das wird schwer, so kurzfristig Ersatz zu finden. Und ein Telefonat mit dem Einsatzleiter ergab, dass wirklich niemand da war, der das Schiff hätte übernehmen können. Wenn ich es nicht tat, würde es trotz vollständiger Besatzung nicht auslaufen können. Ich sah mich in der Verantwortung zu handeln und packte meine Sachen.
Jetzt liege ich also hier mit dem Schiff vor Anker in der schwülen Hitze Südeuropas. Über das Schwappen der Wellen hinweg höre ich nur Gesprächsfetzen, sonst ist alles ruhig. Immer wieder bin ich mit der Crew durchgegangen, was uns noch möglich ist zu tun, auch mit dem Team von Sea-Watch an Land, das aus sehr vielen Freiwilligen und wenigen Angestellten besteht, die hauptsächlich in Berlin, aber auch in Amsterdam, Rom und Brüssel und anderswo sitzen. Dieses Team kümmert sich um die Logistik, die Medienarbeit und die interne Kommunikation genau wie um die Rechtsberatung und die politische Arbeit. Es hält die Kontakte an Land zu weiteren Organisationen und politischen Akteuren, und es informiert und berät uns auf dem Schiff über die aktuellen Entwicklungen.
Zwei Wochen lang saßen wir in internationalen Gewässern fest. Über unser unzuverlässiges Internet an Bord habe ich die zuständigen Stellen in Rom und Valletta per Mail um Unterstützung gebeten, auch das Hauptbüro der Küstenwache in Den Helder, weil die Sea-Watch 3 unter niederländischer Flagge fährt. Über das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland haben wir auch Spanien und Frankreich um Hilfe ersucht.
Die italienische Küstenwache kam an Bord. Auch die Guardia di Finanza, die Finanz- und Zollpolizei, die dem Ministerium für Wirtschaft und Finanzen in Rom untersteht.
Wir sollten warten.
Sie hätten keine Lösung.
Nichts geschah.
Uns gingen die Möglichkeiten aus. Es wurde zunehmend schwierig, die Sicherheit an Bord zu garantieren. Die Leute brauchten dringend ärztliche Versorgung an Land. Eine der geretteten Frauen sprach der Ärztin gegenüber aus, sie sei so verzweifelt, dass sie daran denke, sich das Leben zu nehmen. Sie sagte, dass sie sich sicherer fühle, wenn immer jemand bei ihr sei.
Das können wir nicht leisten. Die Crew besteht aus über 20 Personen, aus nautisch-technischem Personal wie mir und den Ingenieuren, aber auch aus medizinischem Fachpersonal und den Schnellbootcrews. Die meisten arbeiten hier in ihrer freien Zeit, wie Oscar, der Jura studiert und kurz vor der Abschlussprüfung steht. Nur drei arbeiten fest für Sea-Watch, aber es gibt einige, die schon lange freiwillig dabei sind, wie Lorenz, der sich um unsere Passagiere kümmert. Alle sind im Schichtsystem eingeteilt, denn wir müssen auf jeden Einzelnen Tag und Nacht achten – was schwieriger wird, je mehr sie unter Ungewissheit leiden und je länger ihr schlechter Zustand andauert.
Also entschloss ich mich vor zwei Tagen, den Notstand zu erklären und ohne Genehmigung in die italienischen Hoheitsgewässer einzufahren. Die Guardia di Finanza stoppte uns, nahm nun die Personalien der gesamten Crew auf, kontrollierte die Schiffszertifikate. Sie sagten, dass sicher bald eine politische Lösung käme und wir so lange warten sollten.
Dann fuhren sie wieder davon.
Gestern ersuchte ich wegen unserer Notlage den Hafen um einen Liegeplatz. Wieder stoppten uns die Schiffe der Behörden.
Die Lösung stehe kurz bevor, sagten sie.
Es kam ein Charterboot mit Presse und einigen Parlamentsangehörigen.
Viele Kameras.
Viele Telefonate.
Keine Lösung.
Heute dann Informationen vom Staatsanwalt, der uns mitteilte, dass Untersuchungen wegen Beihilfe zur illegalen Einreise gegen mich laufen. Es ist, auch wenn sich das komisch anhört, seit vielen Tagen der erste Lichtblick. Auf der letzten Mission im Mai hatten Untersuchungen bedeutet, dass er das Schiff beschlagnahmt. Wenn er dies anordnet, ist er auch für die Menschen an Bord verantwortlich, und sie können endlich an Land.
Das ist es, worauf wir heute warten.
Ich beschatte mein Gesicht mit der Hand, dann wische ich mir über die Stirn. Um uns herum fahren Fischerboote auf und ab, Jachten verlassen den Hafen. Wenn wir nicht in dieser furchtbaren Situation wären, würden wir jetzt vermutlich baden gehen. Aber wir sitzen hier und braten in der Hitze.
In dieser Zeit, das höre ich später, haben es 17 Boote nach Lampedusa geschafft, insgesamt 300 Menschen sind so in Italien gelandet, die meisten kamen wahrscheinlich aus Tunesien. Ghost Boats werden diese kleinen Boote genannt. Da die Menschen auf ihnen nun schon mal in den Territorialgewässern sind, lässt die Küstenwache sie einfach an Land gehen, dann werden Polizei oder humanitäre...