[7] Ein Leben zwischen Politik und Philosophie
Hannah Arendt (1906–1975) war studierte Philosophin, doch lehnte sie es ab, als Philosophin bezeichnet zu werden. Ihrem Selbstverständnis nach beschäftigte sie sich mit politischer Theorie, die sich naturgemäß nicht mit der Philosophie vertrage. Seit dem Prozess gegen Sokrates, erklärte sie, habe sich das Denken vom Handeln und das Handeln vom Denken verabschiedet. Während das Denken auf der Suche nach der einen Wahrheit gewesen sei, habe das Handeln nur auf der Grundlage der Akzeptanz vielfältiger Meinungen funktionieren können; während das Denken stets ein Dialog des Einzelnen mit sich selbst sei, sei das Handeln auf den Dialog der vielen angewiesen.
Gleichwohl arbeitete Arendt auch in ihren politisch-theoretischen Schriften stets mit philosophischen Begriffen und Konzepten. In ihrem Prozessbericht über Eichmann in Jerusalem bezog sie sich auf Kants Begriff der Urteilskraft, an der es dem Angeklagten Arendt zufolge mangelte, in ihrem Buch über den Totalitarismus beklagte sie den von totalitären Regimen unternommenen Versuch, die Pluralität als Grundbedingung menschlicher Existenz abzuschaffen, und ihre biografischen Schriften sind samt und sonders Plädoyers dafür, die Idee von der einen und einzigen Wahrheit zugunsten der Meinungsvielfalt und des Dialogs zu opfern.
Es ist ihre Präferenz für das perspektivische Denken und eine von Pluralität bestimmte Welt, die Arendt gegen die einsame Welt des Philosophen setzte, und es ist die Einsicht, dass Geschichte nicht von Philosophenkönigen, sondern von den Zufällen und von der Willkür der handelnden Menschen gelenkt wird, die sie zu einer politischen Denkerin par excellence machten. Arendts frühe Abkehr von der Philosophie und die gleichzeitige Hinwendung zur politischen Theorie und zur [8] Geschichtsschreibung ist indes kaum nachvollziehbar ohne Kenntnis ihrer Lebensgeschichte, die Ernest Gellner (1925–1995) einmal als Parabel der Moderne beschrieben hat: »If Hannah Arendt had not existed it would most certainly be necessary to invent her. Her life is a parable, not just of our age, but of several centuries of European thought and experience.«1 (Auf Deutsch: Wenn Hannah Arendt nicht existiert hätte, hätte man sie erfinden müssen. Ihr Leben ist nicht nur eine Parabel unseres Zeitalters, sondern mehrerer Jahrhunderte europäischen Denkens und Handelns.)
1906 in Hannover geboren, verbrachte Arendt ihre Kindheit und Jugend in Königsberg, wo sie ein altsprachliches Gymnasium besuchte. Schon früh las sie die Werke der großen Philosophen, die im elterlichen Bücherschrank standen. Nach eigener Auskunft hatte sie im Alter von vierzehn Jahren bereits Kant gelesen, später Kierkegaard und Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. Nachdem sie als Achtzehnjährige wegen Anstiftung zum Unterrichtsboykott der Schule verwiesen worden war und das Abitur als externe Schülerin hatte ablegen müssen, nahm sie das Studium der Philosophie, des Griechischen und – obwohl sie selbst aus einer jüdischen Familie stammte – der protestantischen Theologie an der Universität Marburg auf. Das Interesse für die Theologie ergab sich aus einer frühen Kierkegaard-Lektüre, während ihr Interesse an Philosophie quasi einem existenziellen Grundbedürfnis entsprang: »Da können Sie fragen: Warum haben Sie Kant gelesen? Irgendwie war es für mich die Frage: entweder kann ich Philosophie studieren oder ich gehe ins Wasser sozusagen.«2
Bereits im ersten Semester besuchte Arendt die Seminare von Martin Heidegger (1889–1976), den sie als »heimlichen König« im Reich des Denkens bezeichnete.3 Schon bald bahnte sich eine Affäre zwischen Heidegger und seiner Studentin an – eine Affäre, die streng geheim gehalten werden musste, da [9] Heidegger verheiratet war und zwei Söhne hatte. 1926 ging Arendt, um den amourösen Verwicklungen zu entkommen, nach Heidelberg zu Karl Jaspers (1883–1969), bei dem sie 1929 mit einer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustinus promovierte. Zwar hatte sie sich infolge ihrer Affäre mit Heidegger gezwungen gesehen, Marburg zu verlassen, doch trug ihr diese Affäre auch das Privileg ein, die Entstehung von Heideggers Hauptwerk, Sein und Zeit, aus allernächster Nähe verfolgen zu können. Obwohl Arendt sich in den folgenden Jahren aufgrund der politischen Entwicklungen in Deutschland ostentativ von der Philosophie und von Martin Heidegger als Person distanzierte, hinterließ die Lektüre von Sein und Zeit nachhaltige Spuren, die sich in all ihren Werken finden lassen.
Ebenfalls 1929 heiratete Arendt den Philosophen Günther Stern (1902–1992) – der sich später Günther Anders nannte – und nahm die Arbeit an einer Habilitationsschrift über die deutsche Romantik auf. Als sie auf Hinweis ihrer Freundin Anne Mendelssohn, einer Nachfahrin des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn, den Nachlass der Dichterin Rahel Varnhagen (1771–1833) in der Berliner Staatsbibliothek entdeckte, änderte sie ihre Pläne und begann, eine Biografie der Dichterin zu schreiben. Am Abschluss des Verfahrens hinderte sie jedoch die nationalsozialistische Machtübernahme, die Arendt nach kurzer Inhaftierung dazu bewegte, gemeinsam mit ihrer Mutter nach Paris zu flüchten. Günther Stern folgte ihnen nach Paris, allerdings hatte sich das Ehepaar schon in Berlin auseinandergelebt und ließ sich bald wieder scheiden.
Über gemeinsame Bekannte lernte Arendt in Paris ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher (1899–1970) kennen, der als Kommunist ebenfalls nach Frankreich geflüchtet war. Beide wurden nach dem Einmarsch der deutschen Truppen interniert, konnten aber dem Lager entkommen und trafen sich bei Freunden in Südfrankreich wieder, von wo aus sie mit [10] amerikanischen Notvisa nach New York ausreisten. Bald fand Arendt eine Stelle als Lektorin im New Yorker Schocken-Verlag und übernahm dort die Verantwortung für die Edition der Werke Franz Kafkas. Später arbeitete sie für die Jewish Cultural Reconstruction, in deren Auftrag sie 1949 erstmals wieder nach Europa reiste, um Listen erhalten gebliebener jüdischer Kulturgüter zu erstellen.
In diesen Jahren schrieb Arendt mehrere Aufsätze für akademische Zeitschriften und Kolumnen für die deutschsprachige Emigrantenzeitschrift Der Aufbau, bevor sie 1951 ihr erstes großes Werk unter dem Titel The Origins of Totalitarianism in englischer Sprache veröffentlichte (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955). Im selben Jahr nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Es folgten mehrere Lehraufträge, unter anderem in Princeton und Berkeley, bevor Arendt eine Professur an der University of Chicago und später an der New Yorker New School for Social Research annahm. Sie starb am 4. Dezember 1975 in ihrer New Yorker Wohnung, kurz nachdem sie die Arbeit an einer Vorlesungsreihe über das Urteilen aufgenommen hatte.
Während Arendts Werke in der politischen Theorie und der Geschichtswissenschaft unmittelbar nach Erscheinen kontrovers diskutiert wurden, ließ die Rezeption durch die akademische Philosophie noch einige Zeit auf sich warten. Erst nach der Veröffentlichung von Elisabeth Young-Bruehls umfangreicher Biografie im Jahr 19804 setzte eine Arendt-Renaissance ein, zunächst in den Vereinigten Staaten, dann in Deutschland und schließlich in Frankreich. Ihren Höhepunkt in Deutschland erreichte sie kurz nach dem Fall der Berliner Mauer – wobei die abenteuerliche Lebensgeschichte vermutlich dazu beitrug, das Interesse eines breiten Publikums für Arendts Leben und Werk zu wecken. Obwohl sich Jürgen Habermas (geb.1929) mit seiner Theorie des kommunikativen [11] Handelns bereits in den siebziger Jahren auf Hannah Arendt bezogen hatte, fand sie erst jetzt auch bei der deutschen Linken Beachtung, der sie wegen des in der Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft angestellten Vergleichs der nationalsozialistischen mit der stalinistischen Ideologie als Antikommunistin gegolten hatte.
Nun aber wurde das Buch sehr breit rezipiert. Arendts Ansatz wurde als Alternative zu den von der Linken traditionell favorisierten Faschismustheorien wiederentdeckt und Arendt als Person rehabilitiert. Seither ist in Deutschland eine verstärkte Auseinandersetzung mit ihrem Werk zu verzeichnen, verbunden mit einer großen Bereitschaft, die Autorin als moralische Autorität anzuerkennen. Nicht nur wies sie den Weg für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, sie zeigte gleichzeitig auch Alternativen zum ideologischen Marxismus auf. Dass man es bei ihr nicht mit einer Amerikanerin im Dienste eines Reeducation-Programms zu tun hatte, sondern mit einer Exildeutschen, die Goethe, Schiller und Kant gelesen hatte, trug ein Übriges zu der posthumen Erfolgsgeschichte bei.
Seither sind so gut wie alle Aspekte ihres Werks gründlich untersucht worden, wobei neben den philosophischen Kernfragen vor allem ihre persönliche Beziehung zu Martin Heidegger im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. In der vorliegenden Einführung wird diese Beziehung – von der zu Arendts Lebzeiten niemand außer ihren engsten Vertrauten und Heideggers Ehefrau Elfride etwas wusste – jedoch nur dort eine Rolle spielen, wo sich Heideggersches Gedankengut in Arendts Werken wiederfindet beziehungsweise weiterentwickelt wird. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die phänomenologische Methode, die möglicherweise das stärkste gemeinsame Charakteristikum aller Werke darstellt. Im negativen Sinn hat...